Prompt: Bratapfel (15.12.19)
Startzeit: 18:30 Uhr
Ende: 19:32 Uhr
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Ein verführerischer Duft zieht durch das Haus.
Schon den ganzen Vormittag sind die Frauen in der Küche beschäftigt. Man hört sie schwatzen und lachen. Hier und da stimmen sie in die Chöre der Weihnachtslieder ein, die sie dabei hören.
Es ist der vierte Advent. Am Nachmittag kommt Besuch und die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren.
Am Vormittag hat es kräftig geschneit und Jan packt sich gerade in seine dicke Winterjacke ein. Er schnuppert und ihm läuft das Wasser im Mund zusammen. Während er sich den Schal um den Hals schlägt, winselt der Hund. Der sitzt erwartungsvoll vor der Küchentür und Jan muss schmunzeln.
"Na, Fred, magst du nicht lieber mit raus kommen?"
Der hübsche Schäfermischling spitzt die Ohren und auf ein kleines Zeichen hin, läuft er auf Jan zu und wedelt mit dem Schwanz. Jan greift nach den Handschuhen und öffnet die Haustür. Wie ein Blitz fegt der Rüde an ihm vorbei und springt bellend durch den Schnee.
Jan stapft zum Schuppen, die Tür steht schon offen.
Sein Bruder grinst ihn an und reicht ihm die zweite Schippe.
Einträchtig machen sich die Brüder an die Arbeit. Die Einfahrt muss dringend geräumt werden und die Wege zwischen den einzelnen Gebäuden ebenso.
Jan wird dabei ordentlich warm. Die Bewegung an der frischen Luft tut gut und entspannt. Zu weit kommen sie gut voran und nach nur einer halben Stunde ist das Grundstück unfallfrei begehbar. Martin hat zudem den Gehweg geräumt und nickt Jan zufrieden zu.
"Kaffee?", fragt er den Jüngeren. Jan nickt und pfeift nach dem Hund, der vom Schuppen aus die Aktivität beobachtet hat.
"Ich hätte so langsam auch Hunger", meint er. Martin lacht und verschließt die Schuppentür. Fred trottet schon zur Haustür.
"Sag bloß, dir war heute morgen nicht nach Frühstück", unkt er. Belustigt schlägt er Jan auf die Schulter und spielt auf dessen Glühweinabsturz vom Vorabend an. "Komm, wir haben noch Reste von gestern Mittag. Ehe es nachher Stollen, Plätzchen, Bratäpfel und Marzipan gibt, magst du doch bestimmt was herzhaftes." Martin zwinkert und Jan folgt ihm zum Eingang der Einliegerwohnung.
Seit dem letzten Umbau ist die kleine Wohnung ein echtes Schmuckstück. Nele hat ein Händchen für Inneneinrichtung, das lässt sich nicht leugnen. Und ähnlich wie bei ihren Eltern ist alles überaus geschmackvoll weihnachtlich dekoriert. Martin hantiert schon dem Kaffeeautomaten und bedeutet Jan, Platz zu nehmen. Während sich dann der Duft frisch gemahlener Bohnen ausbreitet, schiebt Martin den Topf mit dem Eintopf vom Vortag auf eine passende Platte. Mit zwei Tassen setzt er sich dann zu seinem Bruder. Der nimmt einen Schluck und sieht sich in der Wohnküche weiter um.
"Nele tobt sich ganz schön aus", stellt er fest. Martin nickt und lächelt.
"Gott sei Dank. Es gibt doch wenig schöneres als ein gemütliches Zuhause. Ein Nest, in das man gerne heimkommt und sich wohlfühlen kann", antwortet er.
Jan stimmt ihm zu. Nele hat wirklich ein Heim geschaffen, das kann man sehen. Ähnlich wie Isabelle, die in den letzten 18 Monaten viel Liebe ins Detail gesteckt hat. Und trotzdem. Jan schiebt den Gedanken beiseite. Sein Magen knurrt nun vernehmlich. Martin steht grinsend wieder auf und geht zum Herd. Er hebt den Deckel, drückt einen Knopf und rührt dann um.
"Okay, was hast du auf dem Herzen?", fragt er. Jan verschluckt sich beinahe an seinem Kaffee.
"Nichts, gar nichts", versichert er schnell. Sein Bruder öffnet den Hängeschrank und holt zwei Teller heraus.
"Sag jetzt nicht, du bekommst kalte Füße", meint er trocken. "Wäre reichlich spät. Und unsagbar dumm." Er schaltet den Herd aus und bringt die dampfenden Teller an den Tisch. Grünkohl mit Speck. Schon als Kinder liebten sie beide den deftigen Eintopf, den Anke nach einem Rezept Ellis zubereitet.
Sie essen schweigen, aber Jan kann Martins Blicke spüren.
"Das ist es nicht", meint er und legt den Löffel neben den leeren Teller. "Ich frage mich nur, ob wir noch in Stuttgart richtig sind. In der Wohnung. In der Stadt." Martin zieht eine Augenbraue hoch und wischt mit einem Stückchen Brot seinen Teller leer. Er sagt nichts, da gleicht er ihrem Vater. Jan zuckt die Schultern.
"Wenn wir hier sind, dann fühlt es sich so unglaublich richtig an. Aufgehoben, weißt du. Der ganze Patz, die Ruhe, das Land, das Dorf, ihr. Hier komme ich irgendwie immer ganz anders bei mir an. Hier ist alles leichter, friedlicher, heilsam."
Martin spielt mit einer Nuss aus der Schale vom Tisch. Dreht die bedächtig zwischen seinen Fingern und mustert seinen Bruder aufmerksam.
"Du weißt, dass Mama und Papa nur auf ein Zeichen von dir warten", sagt er vorsichtig. Dann lehnt er sich zurück. "Wie willst du das mit deinem Beruf vereinen? Wie steht deine Frau dazu? Ihr habt auch ein soziales Umfeld in Stuttgart. Davids Einschulung steht an."
Seufzend atmend Jan durch. Er weiß, dass er aus vielerlei Gründen das Thema nicht mehr ewig vor sich her schieben kann. Dabei sind seine Gedankenspiele schon fünf Schritte weiter. Aber eben nur in seinem Kopf. Eine erste verträumte Idee hat er Isabelle schon vor Monaten geschildert. Für sie ist es in der Tat ein Tagtraum gewesen.
"Jan, du musst mit Isa darüber reden!", entfährt es Martin, der das Schweigen des kleinen Bruders richtig deutet. "So etwas könnt ihr nur gemeinsam entscheiden. Du musst sie einbinden, vielleicht einen Kompromiss eingehen. Aber du darfst ihr nicht verschweigen, was du fühlst. Vor allem, wenn es anfängt dich zu belasten", mahnt er.
Jan zupft an seinem Pulli.
"Ich möchte sie damit aber nicht überrollen. Vor allem möchte ich nicht, dass sie wieder wegen mir zurück steckt. Gerade jetzt wo das Kind kommt, muss ich doch auch auf ihre Bedürfnisse achten. Es geht doch nicht nur um mich."
Martin sieht zum Fenster, draußen sind Stimmen zu hören. Ihr Vater. Jans Sohnemann. Alex mit seinen Kindern und Vater. Zusammen sind sie nach dem Frühstück im Wald gewesen und bringen jetzt die selbst geschlagenen Weihnachtsbäume nach Hause. Auch Jans Blick geht nach draußen. Schnell lässt Martin die Nuss wieder in die Schale gleiten.
"Es geht aber auch um dich. Das nennt sich dann Kompromiss, Bruderherz. Den könnt ihr aber nur finden, wenn du das alles auf den Tisch bringst. Aus Erfahrung solltest du wissen, dass es nichts bringt, es zu ignorieren. So wie ich deine Liebste kennen und schätzen gelernt habe, wird sie es nicht einfach abtun. Und wer weiß, vielleicht überrascht sie dich."
Jan denkt über die Worte noch nach, als sie längst wieder in der elterlichen Wohnung angekommen sind. Mittlerweile ist auch Alex´ restliche Familie eingetrudelt und im Esszimmer ist die Kaffeetafel gerichtet. Paul, der gerade die Kaffeekannen herüber trägt, bedankt sich bei seinen Söhnen für das Schneeschippen. David läuft auf Jan zu und erzählt aufgeregt vom Ausflug in den Wald. Auch die Kinder von Alex und Heike plappern drauf los und Fred springt bellend um alle herum. Nele drückt Martin zwei Platten in die Hand, die mit allerlei Köstlichkeiten gefüllt sind. Kaum, dass David die Bratäpfel sieht, steht der kleine Mund still. Zumindest für eine Sekunde. Energisch schickt Anke schließlich alle an den Tisch und trägt Alex auf, die Kerzen am Adventskranz anzuzünden und Paul erhält den Auftrag, die Musik anzustellen. Es geht laut und fröhlich zu. Die Kinder rangeln um die besten Plätze. der Hund wird zur Ordnung gerufen.
"Komm", flüstert es neben Jan. Isabelle streicht über seinen Arm und zieht ihn dann mit sich in die Küche. Sie schließt die Tür und auf einmal ist es ganz ruhig. Sie lächelt milde, hat vermutlich erkannt, dass ihm für einen Moment der Trubel zu viel war.
Sie deutet auf den Küchentisch, dort steht ein Teller mit zwei Bratäpfeln. Isabelle küsst ihn auf den Mund.
"Wir haben die Äpfel für die große Runde mit Nüssen, Rosinen, Marzipan und Marmelade gefüllt. Aber deine Mutter meinte, dass du früher schon die herzhafte Variante gerne mochtest. Außerdem kenn ich dich, zuerst süß essen ist ja nicht so dein Ding. Daher habe ich uns zwei mit Apfel-Zwiebel gemacht." Sie deutet auf den Teller.
Liebevoll sieht er sie an. Die geröteten Wangen, ihr Blick, der Bauch. Er küsst sie zurück und schließt sie in seine Arme.
"Das ist furchtbar lieb von dir", flüstert er. Lächelnd reicht sie ihm einen Apfel, der schrecklich gut riecht. Und trotz der ordentlichen Portion Eintopf hat Jan großen Appetit darauf. Sie beobachtet amüsiert, wie er hineinbeißt. Sie teilen sich ihn schlussendlich und genießen die wenigen Minuten nur für sich. Als Isabelle vorschlägt, dass sie sich wieder bei den anderen blicken lassen sollten, hält Jan sie kurz zurück. Dann fragt er sie, ob sie nach der Kuchenschlacht einen Spaziergang machen wollen. Nur er und sie. Im Gehen, das hat er schon festgestellt, spricht es sich besser. Der brüderliche Ratschlag ist ihm wertvoll. Sie nickt, schaut ihm in die Augen und er kann ihr ansehen, dass sie nur darauf gewartet hat. Sie kennt ihn einfach zu gut.
"Papa! Beeil dich, gleich ist gar kein Bratapfel mehr da und auch kein Marzipan!" Davids Rufen holt sie aus einer innigen Umarmung. Sie zwinkert, er atmete durch und gemeinsam betreten sie das Esszimmer. David strahlt sie an und hält ihnen zwei Marzipankartoffeln entgegen. Den letzten Bratapfel aber, so erklärt er sich, den möchte er gerne selbst essen. Lachend wuschelt ihm Jan durch Schopf und lächelt dabei Isabelle an. Familie, denkt er. Es gibt kein größeres Glück als die Geborgenheit der Familie.