Zwanzig Minuten später kam Shadrach in den Schankraum der herunter gewirtschafteten Abstiege, in dem es penetrant nach Staub, schalem Bier und Kippe roch. Anstatt sich hinzusetzen, erinnerte er sich daran, dass er tatsächlich abwaschen musste – ein seltsamer Deal, der in Hostrimaa in den Hinterregionen Gang und Gäbe war, er aber nicht in der größten Stadt der Welt erwartet hatte. Nicht, dass er etwas dagegen hatte. Er fand es fair, für etwas Arbeit ein Bett, Verpflegung und keine unnötigen Fragen zu bekommen.
„Junge, du siehst weniger erholt aus als gestern, als du angekommen bist“, grüßte ihn der Gastwirt sogleich, natürlich auf Tribunisch. Shadrach brauchte einen Moment, ehe er das übersetzt hatte. Er war sich sicher, dass er im Laufe der Zeit fließender in der Sprache werden würde, aber zuerst musste er sich wieder hineinhören.
Zur Antwort zuckte Shadrach mit den Schultern. Anschließend wusch er sich die Hände und begann, die Spüle des Morgenbetriebs zu laden. Er hatte die letzten paar Monate in Hostrimaa sich gelegentlich in der Gastronomie wiedergefunden und solange er nicht mit Gästen interagieren musste, war das in Ordnung. Hier gab es immerhin eine Spülmaschine und warmes Wasser, das war im Vergleich zu jeder abgeranzten hostischen Kneipe geradezu Luxus, auch wenn er das meiste Geschirr vorher kurz per Hand abspülen musste.
„Bist nicht so der Gesprächige, was?“ Der Gastwirt, der offenbar am Tresen gerade nichts zu tun hatte, klang amüsiert, während er ein paar Gläser trocknete.
Shadrach schaute auf, nachdem er sich die Schürze umgebunden hatte. „Sprache“, sagte er dann. „Bin nicht so warm damit.“
Der Gastwirt lachte kurz. „Das wird noch, Junge. Was hattest du gesagt, dein Vater war aus Tribunie?“
Shadrach nickte und obwohl er gerade nicht über seinen Vater nachdenken wollte, schaffte er es, nicht das Gesicht zu verziehen. „Ja. Aber Hohendamm.“
„Ah. Ja, ja. Ich war mal in Hohendamm. Klingt dort schon ein wenig anders als hier, aber das ist nichts gegen den Süden. Keiner versteht die Leute aus dem Süden.“
Shadrach lächelte knapp. „Ist ähnlich bei uns. Fick Westhostrimaa.“
Der Wirt lachte rau und verließ die Küche wieder. Shadrach wollte sich nicht unterhalten, aber es war nett, dass er hier sein durfte, weshalb er lieber mitmachte und sich nicht beschwerte.
Der Weg von Avasikuu nach Rubrica war kürzer als erwartet gewesen, auch wenn es sich ewig lange angefühlt hatte und anstrengend gewesen war, unter anderem auch, weil sein Gesicht die ganze Zeit über metaphorisch in Flammen gestanden hatte. Allein hätte er das nicht geschafft. Aber allein – ohne Geisterpakt – wäre er auch gar nicht erst dort gelandet, wo das Militär ihn hingesteckt hatte.
Shadrach hinderte sich daran, erneut an seine Wangen zu fassen. Die Creme hatte bewirkt, dass die Schmerzen zurückgegangen waren und ein dumpfes Pochen hinterlassen hatten. Dafür spannte die Haut jetzt. Sie schrieben das Jahr 1732. 1732 und die Militärpolizei brannte jenen, die bestimmte Vergehen begangen hatten, noch immer bereits vor dem Prozess Zeichen ins Gesicht. Auch wenn Zivilisten meist nicht klar war, was das bedeutete, für ausgebildete Magier war es das. Er musste sich irgendwo in Miskra einen Ort zum Verbleiben suchen, der von der Regierung übersehen wurde. Am besten zog er einfach irgendwo in Westtribunie in den Wald, den kannte er von zu Hause. Dann lebte er dort als einsamer Eremit mit den Tieren und wurde vielleicht doch endlich Holzfäller.
Er hatte gewusst, dass es verboten war. Er hatte es gewusst und ignoriert und verdrängt und vergessen und war dann trotzdem überrascht, was ihm geschehen war. Warum war Nemo dort gewesen? Eigentlich wollte er es nicht wissen. Wenn die Wahrheit weh tat, dann dachte er lieber nicht darüber nach. Die ganze Welt war ein einziges Drecksloch.
Shadrach stellte Geschirr, das gestern vergessen worden war, in die Spüle, steckte den Stöpsel ein und drehte das Wasser auf. Das Spülmittel war knallig grün, als wollte es vor seiner Giftigkeit warnen. Er schaute zu, wie sich Schaum zu bilden begann. Seine Hände stützten an den Seiten des Waschbeckens. Selbst mit Shins Hilfe hatten sich die Verletzungen dort nur schwer geschlossen und waren mittlerweile immerhin vernarbt. Sie würden bleiben, als Zeugen seiner…
Er schaute in Richtung des Wirtszimmers, in dem vielleicht Shin saß. Äußerlich war sie ein wenig älter als er, nicht über zwanzig. Wie alt sie wirklich war, wusste er nicht. Aus dem Gefühl heraus, dass es ihn nichts anging, hatte er nie nachgefragt. Was für ein Leben musste man mit sich bringen, um sich für den Todesgeist zu qualifizieren? Um bereit zu sein, sich zu einem Blutbad im Wald rufen zu lassen, um...
Um alles in Ordnung zu bringen. Es war alles in Ordnung. Nemo war vielleicht ein schlechter Lügner, aber er nahm Dinge anders wahr als er. Intensiver, irgendwie. Emotionaler? Er wusste es nicht. Und er wollte auch nicht darüber nachdenken.
Shadrach drehte den Wasserhahn zu und begann, die angetrockneten Essensreste vom Geschirr zu schrubben. Es war stupide Arbeit. Aber wenigstens musste er nicht nachdenken dabei. Er zog lieber eine Hand voll matschiger Essensreste aus dem Abfluss, als irgendwie mehr über das vergangene halbe Jahr zu reflektieren als nötig. Es war nicht seine Schuld, dass Nemo dumm war.