Shadrach hätte gern gewusst, wie viel Zeit seit seiner Hirnschmelze vergangen war, aber selbstverständlich hatte er in dem Zustand nicht auf die Uhr geschaut. Jetzt saß er seit einer Weile auf den Stufen zu einem kleineren Bahnhof, in der Hand eine Broschüre mit den Fahrplänen der Regional- und Fernzüge, aus deren Verständlichkeit Shadrach schloss, dass ein Schimpanse sie zusammengestellt haben musste.
Zumindest hatte er eine Idee, wie er jetzt vorgehen wollte. Einen Plan wollte er es nicht nennen, eine Lösung schon gar nicht, aber es war besser als nichts. Vorerst würde er darauf verzichten, Shin zur Hilfe zu holen. Er würde sich einen der kleineren Regionalzüge suchen, der möglichst nicht durch wichtige Viertel fuhr, und dann auf kleineres Zeug umsteigen, wie es sich ergeben würde. Zu viel festlegen wollte er im Vorhinein nicht; es würde nur Stress geben, wenn etwas schief lief, und es lief immer etwas schief. Deshalb war es umso wichtiger, dass dieser eine Zug, der ihn aus Rubrica heraus brachte, der richtige war. Dafür würde es schon einmal helfen, würde er wissen, welche Zonen der Stadt er sich für ein Ticket kaufen musste, aber leider war Hostisch die einzige Sprache, die in diesem Heft nicht enthalten war. Tribunisch konnte er mehr oder weniger sprechen. Aber lesen war etwas anderes; hinzu kam, dass das Tribunisch, das in Rubrica gesprochen wurde, für ihn wie eine ganz andere Sprache klang als das, was er durch seinen Vater gelernt hatte. Meistens hatte er ohnehin Hostisch geredet, auch mit dem Freund seines Vaters. Für einmal bereute er, nicht mehr über den Teil seiner Familie in Landessprache gelernt zu haben.
Da er aber keine Lust hatte, länger in Gedanken vertieft auf einer Treppe zu hocken, wo ihn die Leute ständig schief anschauten, weil Leute in Rubrica offensichtlich gern mit dem Arsch auf kaltem Stein saßen, stand er schließlich auf. Er streckte sich einmal und prüfte, ob der Schal über seiner Nase richtig saß, sodass keiner die komischen Verletzungen in seinem Gesicht sehen konnte, dann ging er wieder hinein.
Nach einer Viertelstunde Warten gab ihm der Informationsposten genügend Auskunft. Normalerweise fand er so etwas lieber selbst heraus. Gerade war aber nichts normal. Er musste sich damit abfinden, komisch angeschaut zu werden, auch wenn er nicht wusste, ob es an dem Schal in seinem Gesicht, den vernarbten Armen oder seinem hostischen Akzent lag. Letztendlich war es egal. Shadrach hatte keine Nerven, sich mit den Blicken fremder Leute auseinander zu setzen.
Die Züge waren anders als in Hostrimaa. Er würde nicht sagen, dass es gut roch, aber zumindest nicht ganz so sehr nach Verwesung wie er es von zu Hause gewohnt war. Die gepolsterten Sitzflächen klebten weniger voll mit Körperflüssigkeiten und der Boden bestand nicht nur aus alten Kaugummis. Beeindruckend.
Shadrach setzte sich auf den nächstbesten freien Platz, nachdem er sein Ticket entwertet hatte, und lehnte den Kopf an die Fensterscheibe. Sein Blick schweifte über die großen beleuchteten Werbetafeln am Gleis, zu den Automaten, die auf Knopfdruck nach Geldeinwurf fertiges Essen ausspuckten. Alles war bunter, lauter, selbst als Avasikuu. Er vermisste die Stille und Ruhe von Rijek, aber er konnte und wollte nicht zurück. Es gab auch andere schöne Orte in Miskra die ruhig und still waren. Rubrica zumindest war keiner davon. An der Werbetafel vor dem Fenster wurde für Frauenshampoo geworben. Was zum Geier war Frauenshampoo? Waren da Frauen drin? Shadrach versuchte, woanders hinzuschauen, bis sich der Zug endlich in Bewegung setzte.
Shadrach wurde müde. Es war erst früher Nachmittag, doch er fühlte sich, als wäre er seit drei Tagen wach. Zugegeben, viel Schlaf hatte er nicht bekommen, aber er hatte die letzten paar Monate Zeiten mit weniger Schlaf gehabt, die weniger Schlappheit verursacht hatten. Die Stadt war einfach so groß, sie saugte ihm Energie wie eine durstige Mücke im Spätsommer Blut. Sonnenlicht durchflutete die Straßen der Stadt und ließ die roten Backsteinhäuser in vorgegaukelter Wärme erscheinen. Viel zu warm. Der Schal in Shadrachs Gesicht machte es nicht besser.
Merkwürdiger Moment, hier in der Bahn. Der Zug ratterte über die Gleise und Shadrachs Stirn schlug stetig gegen die Glasscheibe, anstrengend, aber eine gute Methode um sich am Einschlafen zu hindern. Er durfte nicht schlafen - noch war er nicht in Sicherheit.
Wo war sie, diese Sicherheit? Irgendwo, tief im Wald? Oder lieber tief unter der Erde? Das erste Mal seit Monaten lag eine trügerische Ruhe um ihn und Shadrach versuchte, sich zurückzuziehen. Heraus aus seinem Körper, weg von der Szenerie. Das Licht flackerte wild. Kleine Funken, dort drüben. Er war allein im Zug und fuhr von goldenem Licht in die Finsternis. Keine Geräusche. Nur weißes Rauschen. Dann - Stille.
Shadrach schlug seinen Kopf stärker gegen die Glasscheibe. Noch einmal. Noch einmal. Schüttelte den Kopf heftig und atmete tief durch und alle Blicke waren aus leuchtenden Augen auf ihn gerichtet. Er schaute düster zurück, stand auf, zog sich den Rucksack über die Schultern und ging. Bei der Länge des Zuges konnte er viel laufen. Trotz weniger Kaugummis war auch in tribunischen Zügen Dreck auf dem Boden. Erde und Blätter. Tannennadeln. Moos. Er lief einen Schritt schneller.
Als der Zug stehen blieb und die Türen sich öffneten, hielt auch er inne. Ein paar Leute kamen ihm entgegen, er war direkt bei einer der Türen. Shadrach atmete durch, versuchte, sich zu konzentrieren.
Siebzehn.
Dreizehn.
Elf.
Ich bin Shadrach Maris Finnyarin Suna. Ich wohne in Avaadaraplaatoris 4, LS13-67783 Rijek und ich fühle den Rucksack auf meinem Rücken und den Fahrtwind wegen des offenen Fensters und ich höre Menschen und ich höre auch den Fahrtwind und ich sehe den Boden und...
Shadrach musste hier heraus. Im letzten Moment schwang er sich aus dem Zug, gerade rechtzeitig, bevor die Türen wieder schlossen. Das Ticket war den ganzen Tag gültig, kein Problem. Er würde einfach... Später ging es auch noch.
Als er merkte, wie Blut begann, aus seiner Nase zu tropfen, riss er sich den Schal aus dem Gesicht, beugte sich vornüber. Atmen. Ein, aus. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Sechs. Ein, aus.
"Brauchen..." Irgendetwas. "Hilfe?"
Shadrach schüttelte den Kopf. "Alles in Ordnung, bin gewöhnt dran, ist gleich weg", nuschelte er, aber er wusste nicht, in welcher Sprache eigentlich. Vielleicht hatte er auch gar nichts gesagt. Vielleicht lag es an ihm - höchstwahrscheinlich lag es an ihm. Geronnenes Blut unter den Fingernägeln, mehrere Tage alt. Fingernägel, die über Haut kratzten und Baumrinde und der Wind in den Tannenkronen.
Ein Donnerschlag.
Shadrach schaute erneut auf, diesmal genauer. Erblickte die Person vor sich, in mitternachtsblauer Uniform mit weißem Muster. Vor Shadrach stand ein Großmeister. Ein Kampfmagier des Militärs.