Shadrach starrte die Frau Großmeister an, während sich die Gegenwart um ihn herum allmählich zusammen setzte. Sie war kleiner als er, mit dunkler Haut und dunklen Haaren und einer Aura, die Bodenständigkeit und Durchschlagskraft versprühte. Shadrach vergaß für einen Moment, sich das Blut von der Oberlippe zu wischen.
"Was ist das in deinem Gesicht, Junge?", fragte sie in kühler Tonlage. Shadrach wusste, was sie meinte - definitiv nicht das Blut. Er atmete stetig tiefer, um die letzten Züge seines Gedankennebels zu vertreiben. Dann drehte er sich um, sprang über das Geländer zur Straße und rannte. Seinen Rucksack ließ er achtlos fallen - es war wichtiger zu fliehen als Wechselwäsche zu haben. Geld und Papiere hatte er stets in seinen Hosentaschen. Die Frau Großmeister folgte ihm geschwind, versierter und athletischer, als er je aussehen würde. Shadrach drehte sich nicht um, während er rannte, das würde Zeit kosten. Die Leute um ihn reagierten zu langsam, wichen nicht aus, und leider war er zu groß, zu auffällig, als dass er sich unter ihnen hätte tarnen können. Nur durch Glück schaffte er es, nicht von einer Kutsche überfahren zu werden, als er über die Straße stürzte. Schnell schaute er sich um, nach kleinen Straßen - Gassen, durch die er gut fliehen konnte. Als er in eine von ihnen einbog und hinter sich die Frau Großmeister nicht wahrnahm, wandte er sich den Häusern zu, fasste sich ins Gesicht, um Blut an den Fingern zu haben, und malte damit eine Vierundsiebzig auf die nächstbeste Kellertür. Als er den Zauber aktivierte, sprengte er die Tür in kleine Einzelteile. Hektisch kroch Shadrach durch die Holzreste, wobei sich Splitter in seine Haut bohrten. Er durfte nicht anhalten. Wenn die Frau Großmeister oder sonst irgendein Magier des Militärs ihn erwischte, dann war es aus. Entweder sie schickten ihn zurück nach Hostrimaa. Oder sie behielten ihn im Militär. Beides würde seine gesamte Arbeit der letzten Monate zunichte machen, und das nur, weil sein Bruder ein hässlicher Wurm war, der sein Leben nicht im Griff hatte. Fast bereute er, in Avasikuu nicht noch einmal mit ihm gesprochen zu haben. Aber vermutlich hätte er in Worten eh nicht ausdrücken können, wie sehr Nemo sich ins Knie ficken sollte.
Im Hausflur atmete Shadrach kurz durch, versuchte, seine Gedanken zu sammeln. Die kaputte Tür war gut zu erkennen und Kampfmagier konnten jenen aufspüren, dessen Magie sie einmal wahrgenommen hatten. Leider war das Blut, das er verschüttet hatte, voll von Magie.
Warum war er weg gerannt? Das wirkte extra verdächtig. Er hätte sich irgendeine dumme Lüge einfallen lassen sollen, warum er magische, wahnsinnig hässliche Tätowierungen im Gesicht hatte, so einfach war es - vielleicht wussten die Magier der Union auch gar nicht, wofür sie standen. Warum hatte er vorausgesetzt, dass die irgendetwas über sein Heimatland wussten? Seine Intuition war ein Haufen Scheiße, jetzt verfolgte die Frau ihn erst Recht. Oder sie ließ es bleiben, er hatte nicht nachgeschaut, wie nah sie an ihm dran war. Als er aber ein erneutes Splittern der Kellertür hörte, schreckte er auf und setzte sich schnell wieder in Bewegung. Shadrach stieß die Haustür auf, rannte willkürlich in irgendeine Richtung, die nicht zurück zur Bahnstation führte.
Er tastete nach seinem Rucksack, wollte das Armband herausziehen, das seine Magie blockierte. Doch den Rucksack hatte er nicht mehr.
"Scheiße", ächzte er, dann fasste er sich für Blut erneut ins Gesicht. Diesmal malte er sich die Zahl für den Blockadezauber auf den Handrücken, zögerte kurz. Sie konnten ihn nicht via Magie aufspüren, wenn er seine eigene Magie blockierte, aber es barg auch Gefahren und Risiken. Sollten sie ihn trotzdem finden, würde er nur noch eine einzige Möglichkeit haben, aus der Situation zu entfliehen, und für einen kurzen Moment dachte er darüber nach, Shin zu sich zu rufen. Doch den Todesgeist zu rufen würde Aufmerksamkeit erwecken und man würde ihn nur noch mehr im Visier haben. Nein. Nein, es war die richtige Entscheidung. Shin konnte er immer noch später beschwören. Seine Chancen, einem Kampfmagier des Militärs zu entkommen, waren ohnehin gering. Er musste versuchen, was ihm möglich war, ohne allzu viel Aufsehen zu erregen.
Shadrach aktivierte den Zauber und sah, wie sich seine weinroten Haare, die ihm wirr im Gesicht hingen, mit einem Schlag schwarzbraun färbten. Gut. Es hatte funktioniert. Dennoch hielt er vorerst nicht an, rannte weitere Gassen entlang und um so viele Winkel und Ecken, bis er selbst die Orientierung verloren hatte, und sich zwischen zwei Mülltonnen zusammenkauerte, den Rücken an die Wand gepresst und die Hand auf den Mund, um seine keuchende Atmung im Klang zu dämpfen. Er war sich lange nicht mehr so bewusst über die Existenz seiner Nase gewesen. Die ganze Zeit über war Blut aus ihr getropft und obwohl es nun mit blockierter Magie aufgehört hatte, spürte er doch, wie viel Energie es ihn gekostet hatte. Mit dem abbauenden Adrenalin blieb nur Müdigkeit und Leere und eine tiefe Unlust, sich jemals wieder hier weg zu bewegen. Shadrach war froh, dass er nicht durch die Nase atmen konnte, denn die Luft um die Mülltonnen war dick und warm und er wollte wirklich nicht erfahren, wie es um ihn herum tatsächlich roch.
Mit so viel Blut im Gesicht konnte er nicht unter Menschen gehen, das wäre zu auffällig. Die grünen Striche waren das eine - sie zogen zwar Blicke auf sich, doch Zivilisten waren nicht in der Lage, ihre magische Strahlung zu spüren, und so wäre er eben nur der nächste Freak mit Knast-Tattoos im Gesicht und komischen Haaren. Blut aber schürte eine tief im Menschen verwurzelte Angst. Wenn man ihn so sah, würde man sich an ihn erinnern.
Shadrach wollte sich an seinem Repertoire an Zaubern bedienen, um vielleicht ein wenig Wasser zu beschwören, damit er sich putzen konnte, doch das fiel ihm zu spät ein. Er seufzte tief, versuchte mit der Zunge und seinem Handrücken großflächig sein Gesicht zu befeuchten, um es dann mit dem Schal sauber zu rubbeln. Vielleicht wäre es schlau, ihn nun in der Mülltonne zu entsorgen; er entschied sich dagegen. Jetzt musste er sich einen Plan machen, wie er weiter vorgehen sollte.