Der Wagen fuhr endlos, ich verlor das Gefühl der Zeit, während wir nichts anderes konnten, außer uns zu unterhalten. Die Stille würde sonst über uns beide hineinbrechen, bis der Wagen sein Ziel erreicht hatte. Und was das für eins war, konnte nicht einmal der Beschützer der amtierenden Obersten mir näher erklären.
„Gibt’s denn Parallelwelten?“
„What the hell, no. Wie kommst du auf so einen Mist?“
Wie zwei Freundinnen, die sich länger nicht gesehen hatten, lagen wir auf dem kalten Boden und sprachen Kopf an Kopf miteinander. Jedes Mal, wenn der Wagen abbog, zuckte ich zusammen, während Jamy fluchte. Nach den ersten Minuten meiner Freiheit hatte ich noch versucht, die Autobahn und anschließend die Abbiegungen mitzuzählen, doch wem hätte das genützt? Außer, dass ich meine Zeit rumbrachte, würde mir auch meine aktuelle Freiheit nichts bringen. Ich war wenigstens noch nicht so lebensmüde geworden, aus einem fahrenden Fahrzeug zu springen. Und würden wir wieder aussteigen müssen, wann auch immer das sein möge, würde uns dieser Georg sicherlich wieder zur Ruhe bringen. Abgesehen davon, bekamen wir die Verriegelung der Hintertür nicht auf. Egal, wie sehr Jamy es mit seinem Glück auch versuchte.
„Was für Fähigkeiten hat eigentlich Vaya?“
„Keiner weiß das so genau, sie hält sie ziemlich bedeckt.“
„Und was ist, wenn man den Stein vom Besitzer für ewig trennt?“
Jamy stöhnte, richtete sich auf, während die Rehbraunen meine Grauen anstarrten. „Wenn du willst, dass ich dir eine Gute Nacht Geschichte erzähle, dann bin ich leider zu angespannt deswegen, okay?“
Kennt ihr das, wenn Kinder einen ansahen und nicht verstanden, was von einem gefordert wurde? Dieser komplette ahnungslose Blick? Den hatte ich in der Kindheit und im Jugendalter bis zu meinen fünfundzwanzig Jahren perfektioniert.
Also blieb ich still liegen wie ein Erdmännchen und blickte auf. Jamy sah mich an, wusste genau, was ich bezwecken wollte.
„Sie können ihre Fähigkeiten nicht mehr einsetzen. Wieso man mir aber den Bernstein gelassen hat, weiß ich nicht.“
Also waren wir wohl noch keine Gefangene? Oder nicht ernstzunehmende Gegner.
„Gibt´s auch eine Schwäche für jeden Edelsteinnutzer? Ich meine euer Kryptonit wie bei Superman…oder Ironman, wenn er keinen Anzug hat. Oder Thor ohne Hammer...“
„Der Hammer symbolisiert Thors Mächte nicht. Hast du die Filme nicht gesehen?“ Ich blickte erneut auf und schüttelte wieder ahnungslos den Kopf. Ich war nicht der Superheldenaffine. Oder kannte die nordischen Geschichten.
„Aber schöner Vergleich. Thors Hammer konzentriert die Macht des Gottes und er nutzt sie, aber die Macht selbst wohnt in ihm, er nutzt den Hammer also als Verstärker. Wir dagegen brauchen die Juwelen, damit wir unsere innewohnenden Fähigkeiten, die bei jeden anders von Geburt an bestimmt sind, überhaupt nutzen können.“
„Je größer der Edelstein, desto größer die Macht?“ Ich hatte Geduld bei der Fragerunde, Jamy scheinbar gezwungenermaßen auch. Schweigen war wohl aktuell auch nicht sein Ding. „Werden die Edelsteinnutzer dann mit Edelsteinen geboren und hängt das schon bei der Geburt um den Hals?“
„Sag mal, wie hielt es denn Rambo die ganze Zeit an deiner Seite aus?“
Ich lächelte. „Es gab nur eine, die es an meiner Seite ausgehalten hat.“
„Klingt nach einem verliebten Mann“, wiederholte der Beschützer meine Worte. Ich schwieg.
Nach einer Pause beantwortete Jamy die Frage: „Ich hatte meinen Edelstein von Geburt an um meinen Hals getragen und habe ihn bisher nie abgenommen. Sie werden dir durch den Obersten überreicht, soweit ich weiß, aber dafür kümmert sich der Auqamarinstamm. Die Wirkung dieses Juwels steht für Reinheit, Güte und Leben.“
„Weißt du eigentlich, wie verdammt schwer es ist, mir nicht den Kopf gegen die Wand zu hämmern?“ Jamy blickte auf: „Geht´s dir nicht gut?“ Dann überlegte er. „Wobei das bei dir auch nicht helfen würde.“
Ich hob die Hand und tippte auf meine Stirn. „Ich bin das beste Beispiel für einen Menschen, der mit Esoterik und Religion niemals etwas anfangen konnte. Und jetzt werde ich seit zwei Tagen damit zu gebombt. Mein Hirn muss das alles erstmal verarbeiten. Und diese ganzen Bedeutungen kann ich nicht immer suchen, mein Handyakku ist alle.“
Betont schwang ich das Akku leere Smartphone in der Luft umher und packte es anschließend wieder in die Hosentasche
„Alles klar.“ Hörte ich etwa ein Lachen aus Jamys Richtung?
Es konnten einige Stunden oder auch ein ganzer Tag vergangen sein, bis der Transporter endlich anhielt. Das Quietschen der Reifen symbolisierte das Ankommen des Ziels. Jamy lauschte und hielt das Ohr gegen die Tür. Ich brauche es nicht, denn die Entführer schrien beinahe, während sie hinter mir im Freien standen und allein eine dünne Metallwand uns trennte.
„Wir sind endlich da.“ Fahid fluchte. „Meine Beine sind eingeschlafen“, murrte er, während Jamy wütend ein Fluchen unterdrückte.
„Seid vorsichtig, die beiden sind seit sieben Stunden da drin. Was weiß ich, was die da alles getrieben haben.“ Ich konnte mir gut vorstellen, dass Georg seine Fähigkeit wieder nutzen würde, um uns gefügig zu machen.
„Igitt, sowas will ich nicht wissen!“ War das Siggi? Wieso hatte ich seine Stimme anders in Erinnerung? Weitere Stimmen mischten sich durcheinander, während Siggi erneut auflachte.
„Die sind gefesselt, die tun nichts. Und wenn, gibt´s eine drauf“, ein Klatschen von Faust auf hohle Hand erklang. „Und damit Pasta!“
Intelligent klang das nicht gerade.
„Das heißt basta, du Idiot!“
Okay, er war nicht einmal ansatzweise intelligent.
Fahid machte sich an der Verriegelung zu schaffen, sodass durch das ganze Geklapper die Gespräche verstummten oder nicht mehr zu hören waren. Während sich die Dunkelheit in dem Schlitz zeigte, sprang der Beschützer bereits auf und stieß die beiden Flügeltüren mit einem Schwung auf. Einige Köpfe konnten nicht mehr rechtzeitig ausweichen, während Jamy von der Anhöhe auf Fahid sprang. Das blaue Auge hatte der Knabe regelrecht verdient, während Siggi und Georg sofort zur Stelle waren. Sie packten den Barkeeper, der sich fauchend erneut auf Fahid stürzte. Der blaue Topas leuchtete auf, während Jamy augenblicklich ruhiger wurde. Fessel aus Eisen wurden ihm angelegt und er wurde durch Siggi in den Hintergrund verfrachtet. Manchmal hörte ich ein spanisches Fluchen und einige Tritte, doch die verklangen recht schnell. Schließlich standen Georg und Fahid vor mir und grinsten mich an. „Auch ne Abreibung?“, lachte der Intelligente von beiden, während der Knabe seine Wunde hielt.
Ich hob träge die Hände, zeigte, dass ich unbewaffnet und friedlich war. „Können wir uns darauf einigen, dass ich weder gefesselt noch verzaubert werde, wenn ich friedlich mitgehe? Ich habe von dem Ganzen langsam genug und muss wirklich dringend aufs Klo. Sieben Stunden sind lang!“
Fahid schien überrascht, doch in den dunkelblauen Augen erkannte man mehr Wissen und Erfahrung, als die äußere Erscheinung zeigen konnte. Siggi neben ihm nickte zustimmend und wartete auf Fahids Befürwortung. Er hob bedrohlich den viel zu kleinen Zeigefinger und schließlich den Daumen Richtung Ausgang. „Danke“, lächelte ich ihm zu. Weder seine Zustimmung noch mein Lächeln schienen ansatzweise echt.
Schließlich robbte ich aus dem Wagen und wurde von dem Topasnutzer an der Schulter berührt.