Als ich mich umdrehte und meine Hände in die Hosentaschen grub, wusste ich, dass Annika genauso aussah, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Einzig der mürrische und misstrauische Blick in ihren glasklaren Augen verriet mir, dass in einer Woche zu viel Zeit vergangen war.
Es war, als wäre ein Schalter umgelegt worden, als ich wortlos an sie herantrat und direkt vor ihr stehen blieb. Ich sah ihre Kette, die sie zur Geburt geschenkt bekommen hatte. Der Aquamarin leuchtete in dem trüben Deckenlicht, während ihre altertümlich wirkende Tunika ein wenig zu groß von den Schultern hing. Ich betrachtete die Baumwollhose, die bequem aussah und zog die Augenbrauen hoch, als die Frau mit nackigen Füßen in dem kühlen Wohnzimmer stand. Anders als die meisten Damen, die ich kannte, oder von Hörensagen, bevorzugte es meine Freundin, auf Fußsohlen durch die Welt zu gehen. Das hatte sie schon immer gemocht und hasste Schuhe so sehr wie ich die Woche Distanz zwischen uns.
Ein paar Sekunden wartete ich ab, gab ihr die Freiheit mich zurückzudrängen oder abzustoßen. Doch Annika stand einfach nur vor mir. Blickte hinauf. Ich konnte nicht anders, als ich ihre sanften hellbraunen Haare zwischen den Fingerspitzen aufnahm und einzelne Strähnen durch meine Finger gleiten ließ. Meine Atmung wurde ruhiger, die Welt schien unwichtig geworden zu sein.
„Ich habe nach dir gesucht“, murmelte ich, während sie einfach nur vor mir stand und nichts sagte. Doch ich kannte Annika gut genug, um ihre Reaktion einschätzen zu können. Mein Grinsen wurde sanft, unsere Atemzüge glichen sich an, während sie auf mein Luftholen und ich auf ihr Aufatmen wartete. Das Herz pochte mir nicht mehr so schnell auf der Brust, meine blauen Flecken und Wehwehchen taten nicht mehr weh. Mein Herz blutete nicht mehr.
„Ich habe dich endlich gefunden.“
Nun endlich blickte sie in meine Grauen und die Tiefe des unendlichen Meeres an einem strahlenden Sommertag entfachte in mir ein Bedürfnis, das nur einen tieferen Trieb glich. Etwas zog sich in mir zusammen und ich nahm die andere Hand, legte sie an ihre Hüfte und zog den zierlichen, aber auch durch ständigen Sport trainierten Körper, an meine Brust. Sanft, nicht fordernd, legte ich meine Stirn auf ihre kühle Haut und schloss die Augen. Meine offenen, noch nassen, Haare legten sich schwer auf ihre Brust und kühlten ihr heißes Gemüt ab. Ich wusste, inmitten von ihr brodelte ein Vulkan, der drohte auszubrechen.
„Wieso bist du hier?“ Ihre ersten Worte brachten mich zum Schmunzeln. Sie tat immer taff, jedes Mal dachte sie, die Welt allein retten zu müssen. Nun verstand ich auch endlich warum.
„Ich könnte sagen eine Pechsträhne hat mich hierhergebracht. Ich könnte aber auch sagen, ich wusste, dass du hier bist.“
„Was hat mich verraten?“ Ihre Atemzüge wurden hektischer, sie wollte sich gegen mich stemmen, doch ich spannte die Oberarme an und ließ sie nicht gehen. In ihr tobte der Zwiespalt zwischen Wegstoßen und an mich schmiegen.
„Deine SMS.“ Ihr Kopf fuhr hoch, während ich in beide Augen blickte. Lächelnd fuhr ich fort. „Du magst es vielleicht nicht wissen, aber man kann eine Nummer auch nachverfolgen. Und wenn du mir eine SMS schreibst, weil du denkst, ich bin dein Feind und doch mich nur warnen wolltest, fand ich deinen Weg, dich mir bedrohlich zu zeigen, irgendwie süß.“
„Ich wollte…“, sie holte tief Luft. „Ich wollte nicht, dass du erfährst…All das eben.“
Immer noch lag meine warme Haut auf ihrer Stirn, während Annika allmählich zur Ruhe kam und die Berührungen zu akzeptieren anfing.
„Du hättest es mich auch sagen können.“ Kein Vorwurf lag in meiner Stimme, vielmehr die tiefe Sehnsucht, die ich seit Beginn meiner innerlichen Einsamkeit gespürt hatte.
Ich drückte ihren Leib an meinen, und fing an, sie zu necken. Annika sprach indes weiter, und störte sich nicht in meinen Versuchungen.
„Ich wusste nicht, dass du diese…dieses Mädchen getroffen hast. Niemals wollte ich, dass du es erfährst. Aber als ich gehört habe...“ Meine Hand an ihrem Rücken verstörte sie wohl, als ich mit Fingerspitzen von den Schulterblättern die Wirbelsäule hinab bis wieder zur rechten Schulter meine gedankenverlorenen Kreise zog. Meine andere Hand hielt sie fest, sodass sie nicht fallen würde. Ich blickte an die Wand gegenüber, doch meine Gedanken waren woanders.
„Mein Vater ist gestorben. Das ist schon ein paar Wochen her, aber man hatte mich erst vor kurzem kontaktieren können. Ich konnte mich verstecken und ..genoss das Leben...das normale..“ Sie holte zittrig Luft, als meine Finger am Ende der Wirbelsäule angelangt waren und sie wohl hoffte, ein wenig weiter unten würde ich kräftiger zupacken. Doch ich verhielt mich ruhig, und gab ihr die Zeit. Vielleicht wollte sie das auch nicht.
„Du hast deswegen geweint, als du an der Nachbarin heraus gestürmt bist, oder?“ Sie nickte an meiner Schulter und vergrub ihr Gesicht darin. Ein paar nasse Tröpfchen zog mein Oberteil auf, während sie ihre Tränen wohl zu unterdrücken versuchte. Annika hatte genügend geweint, sie wollte jetzt kämpfen. Es gab dennoch einige Momente, in denen selbst amtierende Revolutionsanführerinnen eine Pause brauchten, um ihren Schmerz Ausdruck zu verleihen.
„Der Kampf mit dem Lord ist grausam. Er hat meinen Vater gequält, doch er blieb stark und hat uns nicht verraten. Weil ich die Tochter von ihm und...und einer weiteren Bernsteinmutter bin, wollten die Revolutionäre, dass ich seinen Platz einnehme. Ich fühlte mich bereit und stark, und doch fehlte etwas in mir.“ Als ich ihre Augen erneut betrachtete, fiel mir bereits zum dritten Mal die leichte Farbabänderung ihres rechten Auges auf.
„Du hättest die Kontaktlinsen auch weglassen können, meine Aquamarin“, ich küsste sie auf die Stirn und verlor mich in dem Geräusch, das sie ausstieß, als meine Lippen ihre Haut berührten. Zart wie flüssige Schokolade hörte ich das Stöhnen und die warme Luft an meinem Hals. Eine Gänsehaut kroch meine Wirbelsäule hoch und mir war warm und kalt zugleich. Ich vermochte nicht zu sagen, ob sie das gleiche empfand wie ich, doch beide genossen den Augenblick und den Moment, der sicher bald wieder vorbei sein würde. Doch jetzt, nur hier und jetzt, wollten wir beide es.
Eine Gelegenheit, alles wie früher sein zu lassen, bevor all das geschah. Bevor sie eine Anführerin wurde und ich ein Mann, der in eine völlig neue Welt gelangt war.
Annika war die erste, überbrückte den Zentimeter zwischen ihr und mir und legte ihren Kopf schräg. Sogleich tat ich dasselbe und schmeckte ihren Durst.
Schneller als eine Rakete im All hob ich sie hoch und schritt in das angrenzende Schlafzimmer, dass zufälligerweise genau für diesen Moment schön hergerichtet war.