Ich blickte Georg mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Wieso erinnere ich dich jetzt, als Erwachsener, an ein totes Kind? Das müsste doch Jahre her sein.“ Ich verschränkte die Arme und starrte ihn an. „Außerdem hat mir dein Boss angeboten, zu bleiben. Das lädt nicht gerade dazu ein, wenn du mich so herzlich empfängst.“
Georg sah mich ebenso stur wie auch emotionslos an. In mir bereitete sich ein mulmiges Gefühl aus. In meinem Magen ruhte nun ein schwerer Stein, während sich meine Finger in meinen Oberarm krallten.
„Du bist nur ein schwacher Mensch!“ Er schnaufte schwer, ließ mich dann ohne weitere Worte allein. Bevor ich mir Gedanken darüber machen konnte, ertönte ein Gong und die Gespräche samt Musik verstummten langsam.
In die Mitte der Versammlung trat Annika, gehüllt in einen mysteriös aussehenden Mantel. Der lange dunkle Stoff vor ihrem Gesicht verbarg ihre Gestalt, doch ich erkannte sie an dem seltsamen Gang, den sie schon immer hatte. Ich verglich ihn zu meinem Amüsement gerne mit einer betrunkenen Ente, doch mehr versuchte sie aus dem Schwung eine gewisse Autorität zu ziehen, die nicht zu ihr passte. Außerdem trug die keine Schuhe.
Die Bänke um die Feuerstelle herum wurden so positioniert, dass wohl die wichtigsten Leute Platz fanden. Wie in einer Kinderfreizeit warteten alle, die um das Lagerfeuer saßen, neugierig und zugleich nervös die Stille ab, bis schließlich auch die Kinder einen Platz fanden, sich auf das feuchte Gras zu setzen. Ich lehnte nach wie vor an der Hauswand und wohnte dem lediglich als Zuschauer bei.
„Meine Familie!“, rief Annika in ungewohnt lauter Stimme, während ihre Worte in der Nacht verhallten. Das Knacken der Äste im Feuer war das einzige Geräusch, das meine Ohren vernahmen.
„Willkommen hier im Tal, das uns Schutz vor den Feinden bietet. Ich bin froh, euch alle munter hier zu sehen. Es war ruhig, die letzten Wochen, sodass wir keine wirklichen Verluste zu beklagen haben. Wie ich hörte, waren nur zwei unserer Spione durch Hände des Tyrannen Lord Yantar gefallen. Mir wurde berichtet, dass man sich auf einen Kampf vorbereiten würde und in den Reihen des Bernsteinvolkes zu Unruhen kommt. Ob diese Unruhen sich aber auf uns auswirken, vermag ich bis jetzt noch nicht zu sagen.“
Ich hörte zu, wie Annika Satz um Satz mehr in der Aufgabe als Anführerin aufging. Sie wirbelte umher, sodass der Stoff hinter ihr eine heroische Ausstrahlung darbot. Mit jedem Wort verzauberte sie mehr Menschen um sich herum, während sie zum Schluss ihrer kurzen Rede wohl zu dem Höhepunkt kam. Dabei vollführte sie einen Tanz für sich, der einstudiert aussah und dennoch überzeugend genug war, um jeden in ihrer Umgebung in den Bann zu ziehen:
„Mit Wohlwollen kann ich euch sagen, dass die amtierende Oberste in unseren Händen ist.“ Vereinzelt hörte man Triumphrufe, während die Anführerin fortfuhr: „Sie und ihr Leibwächter sind unsere Gefangenen. Wir, die Revolte, haben auch ihren Bernstein! Ich bin nicht so dumm zu sagen, wir werden ihn zerstören und den Willen dieses Mädchen brechen, damit wir endlich an die Informationen kommen, die wir brauchen, um ihren Meister in die Knie zu zwingen. Aber damit sind wir ein großes Stück weiter als bisher!“
„Wir sind das Band!“, schrien alle wie aus einem Mund. „Wir sind die Revolte!“
Insgesamt drei Mal wurde dieser Satz gesprochen, bis selbst der kalte Wind mir keine größere Gänsehaut verpassen konnte. Ich erkannte meine Freundin nicht wieder, wie sie eine Gruppe von Menschen, die ich mindestens auf hundert, wenn nicht gar mehr, schätzte, befehligte und so über Vaya und Jamy sprach, als wären es bloße Objekte.
„Die Clane haben die Erlaubnis zu sprechen.“ Annika setzte sich auf einen erhöhten Stuhl, der an sich zweckmäßig aussah, aber deutlich machte, wer hier letzten Endes das Sagen hatte. Dabei suchten ihre zweifarbigen Augen die Meinen. Als sie mich im Hintergrund fand, lächelte sie mich an, während ich nur stumm nickte. Sie musste kichern.
Annika dachte wohl, ich würde mich wegen der vielen Menschen aus allem raushalten und nicht an ihrer Seite stehen. Wohl dachte sie auch, dass ich mir erst alles ansehen wollte. Ich war nie einer gewesen, der von jetzt auf gleich Entscheidungen fiel. Jedenfalls nicht so rein subjektiv und gefühlsgesteuert wie meine Freundin geradeeben. Während Fahid und Siggi wie zwei Leibwächter neben ihr standen, stand Georg und paar der Blauclane hinter Annika und setzten sich mit ihr hin.
Zu der Rechten erhob sich ein junger Mann mit kristallgrünem Blick, nicht älter als ich.
„Der Clan der Smaragde dankt dem Anführer der Revolte für die Chance, offen sprechen zu dürfen. Wir sehen es als Privileg an, um uns die Angelegenheit der Vayandana zu kümmern. Schließlich hat sie unseren Clan verstoßen und...“
Nun folgten Worte wie aus einem schlechten Film. Jeder Clan, insgesamt sieben an der Zahl, klagte sein Leid an, wieso sie sich gegen den Lord verschworen hatten und ihr Recht, endlich kämpfen zu dürfen, einforderten. Dabei fiel in jedem zweiten Satz das Wort Tod und Verderbnis. Jeder forderte Vayas Tod durch Qualen und gab ihr die Schuld an allem, was laufen konnte oder überhaupt existierte. Währenddessen beobachtete ich Annika, wie sie versunken ins Feuer starrte und den Worten jedes einzelnen zustimmend lauschte.
Schließlich redete der Rubin-Clan, der, wie ich wusste, am gefürchtetsten war. Ich hätte nicht gedacht, dass man Braun derart natürlich kombinieren konnte, dass Menschen blutrote Augen haben konnten. Aber der Anführer, ein alter Greis, lächelte boshaft und kicherte.
„Auch der Rubin-Clan hilft mit bei der Beseitigung dieser Höllengeburt namens Vayandana und zeigt seine Stärke beim Kampf gegen den Lord. Doch seid versichert, dass wir weitaus bessere Methodiken haben, um jemanden zum Sprechen zu bringen.“
Er hustete und lächelte erneut. In der Aufmachung der roten Kutte, den verwaschenen blutroten Augen sowie dem Lächeln, in welchem die Hälfte der Zähne fehlten, mitsamt dem strubbeligen weißen Haaren, die ihm zu Berge standen, sah er aus wie der Mix aus einem verrückten Professor bei missglückten Chemieversuchen im Labor und dem Teufel höchstpersönlich.
Jeder Clan klagte nun erneut sein Recht an, bis schließlich die Diskussionen vertieft wurde und jedem dem aktuellen Sprecher zuhörte. Grinsend nahm ich wahr, wie auch Annika keinen Augenkontakt zu mir suchte.
Das war meine Chance, zu verschwinden.