Schneller als erwartet erreichten wir die andere Seite des Lagers. Wir hatten, wie Georg versprochen hatte, keine weiteren Wachen oder Juwelnutzer angetroffen, sodass wir zu dritt einsam durch das Lager hätten spazieren können, ohne, dass mich selbst Annika wiedererkannt hätte. Sicher, sie schliefen alle, aber jede Magienutzung war begrenzt, jeder Stamm war unterschiedlich reaktiv, was die Kombination von Magienutzung auf Magienutzer betraf. Ich konnte mir daher nichts ausrechnen und schaute auf die Uhr.
„Wenn wir gut sind, haben wir eine Stunde Pause, bevor man uns erwischt. Vielleicht auch etwas weniger.“ Es war schon beachtlich, dass ein einzelner Mann um die hundert Menschen durch bloßes Berühren in das Land der Träume geschickt hatte, ohne, dass er schnaufend zu Boden gefallen war. Dennoch, ich glaubte nicht an Wunder, vor allem nicht, wenn ich mich als Verräter entpuppt und als Erbe meines Vaters enttarnt hatte.
„Lord“, murmelte der alte Lehrmeister zu mir und hüstelte. „Ich meine, Chrissie.“ Er zog den Namen verächtlich in die Länge. Seine Art des Humors, mir zu zeigen, wie albern das klang.
Ich zog die Mundwinkel nach unten und folgte dem Mann. „Christopher ist auch okay, aber wehe du verwendest diesen Zungenbrecher!“ Er schien einige Sekunden abzuwägen, doch nickte schließlich.
„Christopher, mein Topas kann einen mehrere Stunden wenngleich Tage Ruhe bringen.“
Vaya mischte sich ein, scheinbar die gleichen Bedenken: „Ja, aber bei so vielen und vor allem so vielen mächtigen Edelsteinnutzern kann ich mir nicht vorstellen, dass alle tagelang hier schlafen. Ich vermute auch, dass uns nicht viel Zeit bleibt.“
Allein durch die Tatsache, dass Vaya ihm widersprochen hatte, schien Georg abzuwägen, sie nicht doch von der Schulter zu werfen und im Wald allein zurückzulassen. Ich nickte nur und konzentrierte mich auf das alte Haus, das sich vor uns auftat. Auch meine Begleiter sahen auf, während Georg eine kurze Erklärung abgab.
„Ein altes verlassenes Haus, das angetroffen wurde, als wir unser Lager hier aufgeschlagen haben. Eigentlich als Lager gedacht, beherbergt es nun den Beschützer der…Dame.“ Wollte er wirklich Vaya beleidigen? Ich zog amüsiert die Augenbrauen in die Höhe. Die beiden schienen sich ja super zu verstehen. „Annika hat es mit vielen Fallen ausgelegt.“
Einzig der unbekannte Faktor, dass meine Freundin, vermutlich mittlerweile Ex, mehrere Fähigkeiten hatte, als die von dem Auqamarinstamm geerbten, brachte mich zum Schwitzen. Sicherlich konnten die Edelsteinstämme untereinander ihre Zweisamkeit genießen, und das lang. Doch daraus entstanden häufig Fehlgeburten oder nicht einmal die minimale Chance, schwanger zu werden. Ein Kind zweier Stämme war so selten wie zusammengewachsene eineiige Zwillinge in der normalen Welt. Dadurch war der Nachwuchs innerhalb der Stämme die einzige Chance, die Gabe der Stämme und die Traditionen weiterzuführen. Von Liebe sprach man häufig nicht. Was wohl ein weiterer Grund war, weshalb ich diesem Teil dem Rücken zugewandt hatte.
„Und wie kommen wir rein?“, fragte Vaya zynisch, während sie nun neben mir stand. Ihr Gesicht hatte mehr Farbe bekommen und Georg hatte wohl es geschafft, sie innerhalb der letzten Minuten auskurieren zu lassen. Die Haare standen ihr immer noch zu Berge, aber ihre Augen wirkten klar, während ihre Arme herausfordernd verschränkt waren. Dass mein ehemaliger Lehrmeister eine solche Präzision an den Tag legte, war eine optimale Leistung. Natürlich war sich Georg bewusst, dass er solche Fähigkeiten besaß, denn er grinste zufrieden, das mehr nach einem grimmigen Lächeln aussah.
Und ich dachte, ich bin überheblich…
„Schmück dich nicht damit, das bekomme ich auch hin“, murmelte ich ihm zu, während Georg mir einen Seitenblick zuwarf. Er nickte, obwohl er sich bewusst war, dass meine Begabung auf einer anderen Ebene lag.
„Sicher, Lord Ishaar.“
Diesmal zuckte ich wütend zu ihm und knurrte.
„Männer...“, seufzte Vaya und wollte bereits loslaufen, als ich sie gerade noch zurückreißen konnte. Eine Bärenfalle schnappte zu und ließ eine Vaya zurück, die mit schreckgeweiteten Augen im Gras saß und sich ihrer eigenen Fehler augenblicklich bewusste wurde.
Georg übernahm die eingeschüchterte Frau, die sich mit einem Abschütteln seiner Hände auf den Schultern um Abstand bemühte. „Mir geht es gut, danke der Nachfrage!“
„Ich habe nicht nachgefragt“, brummte Georg gelassen und ich musste mir das Grinsen verkneifen. Zu gern hätte ich Vayas Gesicht gesehen, doch dafür blieb keine Zeit.
Ich stand auf Höhe der ausgelösten Falle und sondierte das hohe Gras. Circa zehn Meter vor mir offenbarte sich ein zweistöckiges, teils eingefallenes Farmhaus mit Veranda, dessen Holzfassade schon bessere Tage gesehen hatte. Die Fenster waren eingeschlagen, doch meine Sinne erweiterten sich fast von selbst.
„Ist schon ne Weile her“, murmelte ich und ignorierte Vayas Keuchen und Georg zufriedenes Brummen, als die Welt um mich herum verschwand und meine geschlossenen Augen eine Dunkelheit formten, in der ich mich lange nicht mehr aufgehalten hatte.
Mein Edelstein auf meiner Haut brannte zunächst auf, es tat ein wenig weh, bis die Körpertemperatur sich auf den Stein auswirkte und der Edelstein dessen Wärme und Stärke wie von selbst durch meinen Körper laufen ließ. Es strengte an, wenn man seit über fast siebzehn Jahren keine Magie mehr angewandt hatte. Doch es war wie das Fahrradfahren, man verlernt es nicht.
Wie Moses das Meer teilte, hob ich meine Arme und erkannte die Fallen als rote Punkte rechts und links von mir. Der Duft des feuchten Grases kitzelte in meiner Nase und ließ die Halme vor meinem geistigen Auge klar ersichtlich werden. Starr und mit schwitziger Stirn konzentrierte ich mich, als sich das Haus vor mir mit jeder neuen Linie zu einem Abbild dessen formte, während die einzelnen Fallen, wohl gegen Wildtiere, ebenso erkenntlich waren. Mein Ohr vernahm das Kreischen einer Eule, die meine Macht spürte, währen ein Fuchs das Weite suchte und in der Dunkelheit verschwand. Meine Nase erfasste den Angstschweiß Vayas, da sie die Kräfte spürte und Georg hinter mehr, dessen Grinsen ich nun deutlich vernahm. Und das alles mit geschlossenen Augen. Selbst meine Fingerkuppen spürten jeden Windhauch, während ich die Hände zu Fäusten ballte und die Hände an mich zog.
Das Klappern, Quietschen, Zuschnappen und Keuchen überreizten meine Wahrnehmung, sodass ich mich augenblicklich zurückzog und in die Knie sackte. Ja, es war zu lange her.
Nach einer Weile hörte das Blut auf, in den Ohren zu rauschen und Vayas zittrige Worte drangen zu mir. Genau das war der Grund, weshalb ich niemals diese Gabe einsetzen wollte. Ich ängstigte die Menschen um mich herum. Und dabei war es noch nicht einmal alles, was ich konnte.
„Dann ist die Sage des verlorenen Sohnes also keine bloße Behauptung. Er ist so mächtig wie der amtierende Lord selbst. Ein Monster.“