Gott, diese Arme! Mich hat fast der Schlag getroffen, als Calin seine Jacke plötzlich ausgezogen und sie mir gereicht hat. Im ersten Moment habe ich gar nicht verstanden was er von mir wollte. Und dann hat er mich auf meine durchsichtige Bluse aufmerksam gemacht. Wie peinlich. Ich bin nicht prüde, will mich in einer Bar vor zig wildfremden Kerlen aber auch nicht so zur Schau stellen. Ohne zu zögern ist er mir sofort zur Hilfe gesprungen und hat mir dann ohne mit der Wimper zu zucken seine Jacke überlassen. Nicht einmal sein Smartphone hat er aus der Tasche genommen. Ich habe es bemerkt als es kurz vibriert hat. Da es kein Anruf war, hatte ich ihm nicht direkt Bescheid gesagt und es zum Feierabend vergessen. Hat er selbst vielleicht vergessen? Also dass das Smartphone noch in der Jacke gewesen ist?
Ich sitze im Schneidersitz auf meinem Bett und scrolle durch meine Kontaktliste, um bei seinem Namen zu stoppen. Unschlüssig schwebt mein Daumen über dem Icon für die Sofortnachrichten und ich schlucke hart. Es ist kein Notfall, ich habe nichts Wichtiges auf dem Herzen, aber ich würde mich gern noch mit ihm unterhalten. Andererseits ist es gleich acht Uhr früh und er wird sicherlich schlafen wollen. Verdammt. Warum bin ich in solchen Sachen nur so unerfahren? Bisher hatte ich nur einen festen Freund. Ein Typ für One-Night-Stands bin ich absolut nicht. Deshalb war ich allein mit Wassib intim. Dates hatten wir im herkömmlichen Sinne keine. Irgendwann waren wir einfach ein Paar und haben mehr Zeit Zuhause verbracht, als dass wir unterwegs waren. Das war nie so ein Ding. Lieber gemütlich einen Film schauen oder er ist allein durch die Gegend gezogen mit seinen arabischen Kumpeln. Ich war anfangs vielleicht zwei Mal mit, habe aber nie ein Wort verstanden und in den Shisha-Bars habe ich mich nie so recht wohl gefühlt. Also habe ich Zeit allein verbracht und gelernt, oder mich mit Büchern beschäftigt.
Freundinnen habe ich im Großen und Ganzen nicht wirklich. Lynn als meine beste Freundin und May, bei der ich aktuell untergekommen bin, weil Wassib von ihr nichts weiß. Ich habe sie in der Bar kennengelernt und wir haben uns auf Anhieb gut verstanden. Als sie mitbekommen hat, was bei mir los ist, hat sie mir direkt angeboten, dass ich bei ihr quasi Asyl bekomme und ich habe nach kurzem Zögern zugesagt. Viel habe ich nicht mitgenommen. Nur meine persönlichen Sachen und einige wenige Klamotten. Nach und nach kaufe ich mir neue Kleidung und wenn ich irgendwann wieder in meinen eigenen vier Wänden wohne, werde ich mich möbeltechnisch einmal neu eindecken dürfen. Vermutlich secondhand. Was anderes kommt nicht in Frage, rein finanziell betrachtet.
Seufzend lege ich mein Smartphone auf den Nachttisch und lasse mich nach hinten auf die Matratze fallen, um an die Decke zu schauen. Ich bin überhaupt nicht müde. Hellwach, genauer gesagt. Mir schwirrt der Kopf bei all den neuen Eindrücken der letzten Tage. Meine Mom hat also einfach so einen Bodyguard für mich engagiert und ich mache keinen Schritt in der Öffentlichkeit alleine, bis Wassib sich entweder dafür entscheidet mich in Ruhe zu lassen, oder er etwas versucht, was ihn hinter schwedische Gardinen bringen wird. Je länger ich darüber nachdenke, umso mulmiger wird das Gefühl in meinem Bauch. Meine Hoffnung lag bis vor kurzem darin, dass mein Ex einfach das Interesse an mir verliert, wenn er merkt das ich auf keinen Versuch von ihm reagiere und ihn links liegen lasse. Weit gefehlt, Ri. Weit gefehlt. Hoffentlich wird es ihm zu blöd sobald er merkt, dass ich alleine nirgends mehr anzutreffen bin.
Bisher hat er auch nicht mehr versucht mich anzurufen. Aber ich vermute, er versucht gerade etwas über Calin zu erfahren. Da er jedoch keinerlei Namen hat, sondern nur seine Stimme einmal kurz gehört hat, wird er erfolglos sein und sich früher oder später in irgendeiner Form bei mir melden, um mehr in Erfahrung zu bringen und sich wieder in den Vordergrund zu drängen. Von mir aus kann er es auch lassen. Wobei… dann macht der Auftrag für Calin keinerlei Sinn mehr und er verschwindet wieder aus meinem Leben. Dabei mag ich ihn. Er mag zwar ein ernster Geselle sein, allerdings kann ich mich mit ihm super unterhalten.
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Als ich meine Augen blinzelnd öffne, stöhne ich erschöpft und greife blind nach meinem Smartphone, um einen Blick auf die Uhrzeit zu erhaschen. Kurz nach halb zwölf am Mittag. Echt jetzt? Ich habe keine drei Stunden geschlafen. Ich werde heute Nacht sterben – definitiv. Mein Problem ist: wenn ich einmal wach bin, kann ich nicht wieder einschlafen. Weiß der Geier wieso das so ist. Somit schwinge ich mich aus dem Bett und tapse mit nackten Füßen ins Bad. May ist bereits zur Uni und ich habe das kleine Apartment für mich allein. Wenn sie nicht in der Uni ist, dann jobbt sie in einem kleinen Café unweit von Zuhause entfernt. Meistens sehen wir uns an ihrem freien Tag am Montag. Ab und an kommt sie abends für ein, zwei Stunden in die Bar, wenn ich Dienst habe und wir unterhalten uns in der Zeit, wenn ich Luft habe über dieses und jenes.
Nachdem ich mich wieder optisch wiederhergerichtet habe, gehe ich in die Küche und trinke eine Tasse des frisch gebrühten Kaffees, welchen May gekocht und in eine Thermoskanne umgeschüttet hat, um mich damit in mein Zimmer zu verkrümeln. Wobei man es nicht wirklich ein Zimmer nennen kann. Theoretisch steht dort ein schmales Bett drin, ein Nachtschrank und eine Kommode mit drei Schubladen. Wenn man die Tür aufmacht, stößt man sie gegen das Bett. Aber ich bin wirklich dankbar über meinen eigenen kleinen Rückzugsort und möchte mich nicht beklagen.
May hat ihr Lager im Wohnzimmer aufgeschlagen und hat dort eine durchaus bequeme Schlafcouch, die sie nach dem Aufstehen einfach zusammenschiebt und ihr Bettzeug vorher in den Bettkasten wirft. Wenn man es ganz knausrig sieht, dann handelt es sich hierbei um ein Ein-Zimmer-Apartment mit Abstellkammer. Nur das ich in dieser Abstellkammer lebe. Wieder wandert mein Blick zu meinem Smartphone und ich greife zum wiederholen Male danach, um zu seinem Namen zu scrollen: Calin Moldovan. Unschlüssig kaue ich auf meiner Unterlippe herum und tippe dann auf das Icon, um ein Nachrichtenfenster zu öffnen.
Ich: Hi Calin. Ich würde gern ein wenig in die Stadt und mich in ein Eiscafé setzen. Da ich mich melden soll, wenn ich vor die Tür möchte… hier bin ich. Haben Sie Zeit für diesen spontanen Einfall? - Rilana
Schnell tippe ich auf ‚senden‘ und atme tief durch. Warum fühlt sich das so seltsam aufregend an? Er ist mein Bodyguard, nicht mein Crush! Dennoch habe ich ein nervöses Kribbeln im Bauch, während ich auf eine Antwort von ihm warte. Vermutlich wird er noch im Bett liegen und schlafen. Ich nehme noch einen Schluck aus meiner Tasse und schaue zum Fenster raus. Der Himmel ist blau und die Sonne strahlt. Ein perfekter Tag, um sich in ein Eiscafé zu setzen. Ich möchte unbedingt einen Vanille-Milchshake.
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Da ich auch eine Stunde später noch keine Antwort bekommen habe, habe ich mich spontan dazu entschlossen bereits vorzugehen und Calin meinen Standort zu senden, damit er dazustoßen konnte. Es herrscht ein reges Treiben in der Innenstadt und ich denke nicht, dass Wassib mich hier dumm von der Seite anquatschen würde. Was soll schon passieren? Mehr als das er sich einfach an meinen Tisch setzt und mich versucht umzustimmen wird das höchste der Gefühle sein. Damit kann ich durchaus umgehen. Wäre zumindest nicht das erste Mal das er das machen würde.
„Haben Sie bereits einen Wunsch?“, erkundigt sich die freundliche Kellnerin bei mir.
„Oh ja. Bitte einen Vanille-Milchshake mit extra viel Sahne“, lächle ich zurück.
„Sehr gern.“
Sie huscht wieder ins Café und ich rücke meine Sonnenbrille zurecht, mich dabei umschauend. Wie hektisch die meisten Menschen durch die Passage hetzen und sich durch die Menschenmenge schlängeln. Das habe ich noch nie verstanden. Warum tut man sich das an? Wenn ich irgendwo hin gehe, dann nehme ich genügend Zeit mit und schlendere hier durch die Gegend. Natürlich kommt das nicht so oft vor, aber wenn, dann genieße ich meine Umgebung und das was ich tue.
„Bitteschön“, sagt die Kellnerin lächelnd und stellt mir das Glas mit dem Milchshake auf den Tisch.
„Vielen Dank.“
Und wieder bin ich allein. Allein mit meinem Shake. Ich muss grinsen und nehme einen Zug aus dem Strohhalm, um das Getränk auf meiner Zunge zergehen zu lassen. Herrlich. Zu lang habe ich mir keinen Milchshake mehr gegönnt. Wenn man einige Zeit auf leckere und sonst alltägliche Dinge verzichtet, schmecken sie um so besser. Man sollte solche Sachen zelebrieren, stelle ich amüsiert fest und seufze leise und zufrieden.
„Rilana“, höre ich hinter mir eine vertraute Stimme.