Gott verdammt! Ich mache mir die schlimmsten Vorwürfe, die man sich nur vorstellen kann. Warum habe ich Cal diesen idiotischen Plan nicht direkt wieder ausgeredet und es nur bei dem einen Versuch belassen? Ich könnt mir, verdammt noch mal, in den Hintern treten. Mit Anlauf. Rilana ist leichenblass um die Nase und ich habe Sorge, dass sie gleich umfällt, weswegen ich sie ohne Umwege zu meinem Pick-Up dirigiere, um sie auf den Beifahrersitz zu schieben und die Tür zu schließen. Schnellen Schrittes umrunde ich meinen Wagen und steige auf der Fahrerseite ein.
Ohne Umschweife starte ich den Pick-Up und steuere uns durch den dichten Verkehr zum Krankenhaus, ein Stoßgebet zum Himmel schickend. Hoffentlich hat es Cal nicht zu stark erwischt und er ist bald wieder auf den Beinen, sonst habe ich ein ziemliches Problem, wenn ich mir meine Beifahrerin so ansehe. Nicht nur, dass sie blass ist, nein, sie sieht auch angefressen aus und das nicht nur ein wenig. Immer wieder spüre ich ihre Blicke auf mir und fühle mich unwohl. Sie weiß, was ich von Cals Plan vorab wusste und kann sich ausmalen, dass die Umräumaktion einfach nur eine Ablenkung von uns war, damit sie nicht in unmittelbare Gefahr gerät, oder ihrem Freund die ganze Sache akribisch ausredet. An ihrer Stelle würde ich mir das durchaus krumm nehmen und finde es somit nicht verwerflich. Trotzdem wünsche ich mich aktuell ganz weit weg von ihr und ihrer unterschwelligen Wut und Enttäuschung.
„Warum hast du mir nichts erzählt? Warum hat er mir nichts erzählt?“, bricht sie die Stille.
„Ich habe ihm versprochen dir nichts zu verraten. Und warum Cal dir nichts erzählt hat, solltest du ihn schon selbst fragen, denn ich kann nur Vermutungen äußern. Wissen tu ich es nicht, sorry.“
„Wenn er stir-“, beginnt sie den Satz und ich knurre leise.
„Er wird nicht sterben, Ri. Cal ist ein harter Knochen und hat schon sehr oft auf des Messers Schneide getanzt. Irgendwann habe ich aufgehört zu zählen, weißt du. Außerdem hat er jetzt einen Grund zum Leben. Den hatte er, laut seiner eigenen Aussage, all die Jahre nach Lanis Tod nicht mehr. Dennoch hat sich immer wieder am Leben festgeklammert. Warum also sollte er ausgerechnet heute den Löffel abgeben?“, halte ich unnachgiebig dagegen.
„Ich hoffe, du irrst dich nicht, Duncan. Gott…“, sie rauft sich die Haare und gibt ein Geräusch von sich, welches sich verdächtig nach einem unterdrückten Schniefen angehört hat. „ich konnte mich nicht richtig von ihm verabschieden. Wenn ich gewusst hätte, dass er sich so in Gefahr begeben würde… dann hätte ich… Ich…“
„Denk nicht einmal dran. Es ist hart gesagt, aber: sei stark. Du bist eine starke Frau, Ri. Sei für ihn stark und unterstütze ihn. Mach ihm keine Vorwürfe, wenn er sich für dich in die Schusslinie wirft, um dir ein besseres Leben zu ermöglichen. Ein Leben ohne diesen armen Irren, der einmal dein Freund gewesen ist. Cal wird wissen, dass er ein großes Risiko eingegangen ist. Eigentlich hat er das sogar bestätigt, wenn ich recht drüber nachdenke“, verteidige ich den Mann, der für mich zum besten Freund geworden ist.
„Danke das du sein Freund bist, Duncan. Wirklich.“
Ihre sanfte Stimme lässt mich einen schnellen Seitenblick auf sie werfen und ich sehe sie lächeln. Auch, wenn es ihr augenscheinlich schwer fällt, es ist ein durch und durch aufrichtiges Lächeln. Ich lächle zurück und schwenke meine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße, um nicht auch noch einen Autounfall auf die heutige Tagesliste zu setzen. Ein Verletzter reicht vollkommen aus. Außerdem würde Cal mich eigenhändig erwürgen, wenn Ri in meiner Gegenwart auch nur einen Kratzer abbekommt und ich allen Übels auch noch Schuld daran wäre. Nein, danke.
Mit einem innerlichen Aufseufzen parke ich meinen Wagen auf dem Gelände des Krankenhauses und Ri springt bereits aus dem Auto, bevor ich überhaupt die Chance dazu habe mich abzuschnallen. Die Frau hat Hummeln im Hintern, wenn es um ihren geliebten Cal geht. Ich muss grinsen und verlasse meinen Wagen ebenfalls, schließe ihn ab und hole Rilana ein, die bereits einige Meter vorangegangen ist.
„Wir möchten zu Calin Moldovan“, spreche ich die Schwester an der Anmeldung freundlich an. „Ist er bereits aus dem OP raus?“
„Einen Augenblick, ich prüfe das im System für Sie“, bittet sie uns um Geduld und tippt etwas in ihren PC. „Aktuell läuft die Operation noch, aber Sie dürfen im Wartebereich Platz nehmen, ich gebe dem Operateur Bescheid, damit er zu Ihnen kommt. Sind Sie Verwandte von Mr. Moldovan?“
„Wir… nein“, antwortet Rilana bedrückt und ich trete einen Schritt näher zu ihr, damit ich ihr die Hand auf die Schulter legen kann.
„Ich habe eine Vollmacht von Mr. Moldovan, die mich berechtigt an medizinische Informationen zu gelangen, wenn sie von Nöten sind.“
Vorsorglich habe ich die besagte Vollmacht immer bei mir und ziehe meine Geldbörse aus der Innentasche meiner Jacke, um sie herauszuholen. Mit einem Lächeln reiche ich das Dokument, zusammen mit meinem Ausweis, der jungen Frau und sie wirft einen prüfenden Blick darauf, um mir dann, ebenfalls lächelnd, die beiden Sachen wieder zurückzugeben.
„Wunderbar. Dann steht der Auskunft nichts mehr im Wege. Setzen Sie sich und ich kümmere mich um den Rest, Mr. Finlay.“
„Vielen Dank.“
Behutsam lege ich meinen rechten Arm um Rilanas Schultern und führe sie zu den Sitzgelegenheiten im Wartebereich, damit sie sich setzen kann. Irgendwie erwarte ich noch immer einen Schwächeanfall ihrerseits, obwohl ich nicht glaube, dass dies passieren wird. Als ich ihr gesagt habe, sie ist stark, habe ich es auch so gemeint. Es handelte sich nicht nur um eine alberne Floskel. Seufzend setzt sie sich und lehnt sich zurück, um ihren Blick schweifen zu lassen.
„Möchtest du einen Kaffee, oder irgendwas anderes zu trinken?“
Sie antwortet mit mit einem Kopfschütteln und ich lasse mich neben ihr auf den Stuhl sinken. Wie oft habe ich hier in Vergangenheit bereits allein gewartet? Nicht wissend, wie es um Cal stand und diese Ungewissheit kaum aushaltend. Wie fühlt sich Ri in diesem Moment? Sie liebt ihn, ist mit ihm zusammen und möchte sich eine Zukunft mit ihm aufbauen. Nun, da ihr Ex das Zeitliche gesegnet hat, steht diesem Plan eigentlich nichts mehr im Wege. Außer die Verletzung, die dieser arme Irre ihm zugefügt hatte, bevor er ins Gras gebissen hat.
Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, habe ich Ri nicht ganz die Wahrheit über meine gemeinsame Vergangenheit mit Lani und Cal erzählt. Ich weiß nicht, warum. Aber ich habe nicht erwähnt, dass ich Lani seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr gekannt habe. Lang hat sie mich quasi geheim gehalten vor ihrer Familie, nicht einmal ihr großer Bruder hat in dieser Zeit von meiner Existenz gewusst. Das heißt, vom Sehen her war ich ihm damals kein Unbekannter, jedoch wusste er nicht, dass ich mit seiner kleinen Schwester enger verkehrte als manch anderer junger Mann. Ihre Eltern und auch Cal hüteten die kleine Lani wie ihren Augapfel und niemand war auch nur annähernd gut genug. Zumindest, wenn es nach Denken der Eltern ging. Cal wollte eigentlich nur, dass man sie gut behandelte.
Getroffen habe ich die kleine Lani, als sie sich mit ihrer damaligen besten Freundin zerstritten hatte und traurig am Fluss saß, um Trübsal zu blasen. Ich drehte meine übliche Joggingrunde und hatte sie, entgegen meiner sonstigen Art, einfach angesprochen und gefragt warum eine solche Schönheit einen so traurigen Ausdruck im Gesicht trägt, was sie ein wenig zum Lächeln brachte. Exakt dieses Lächeln hat mich direkt um ihren kleinen Finger gewickelt und ich habe mich kurzerhand zu ihr gesetzt, um ihr ein offenes Ohr zu leihen.
Damals war ich gerade neunzehn Jahre alt und fand sie einfach nur niedlich und herrlich erfrischend. Sie erzählte mir, dass ihre Eltern ziemlich streng sind und ihr einiges verbieten wollten, jedoch meistens kläglich scheiterten, da sie immer wieder rebellierte. Nachts schlich sie sich heimlich aus ihrem Zimmer und stromerte durch das kleine Dorf, immer auf der Suche nach aufregenden Abenteuern, welche es in diesem kleinen Örtchen natürlich nicht unbedingt zu finden gab. Da sie das Gebiet nach und nach immer weiter vergrößerte und durch den Wald schlich, habe ich mich irgendwann angeschlossen, um wenigstens auf Nummer sicher zu gehen, damit ihr nichts geschieht.
Cal bin ich damals regelrecht aus dem Weg gegangen, wenn wir uns in der Schule über den Weg gelaufen sind, damit er mir auch bloß keinen zweiten Blick schenkt und mich durch einen dummen Zufall erkennen würde. Da er jedoch zwei Jahre älter ist als ich, bin ich unterhalb seines Radars gelaufen und Lani hatte einen Punkt mehr, über den sie sich amüsierte. So gut wie jeder Schüler blickte zu ihm auf, kannte ihn, liebte ihn. Nur ich tauchte ab, wenn er meinen Weg kreuzte, damit er nicht auf mich aufmerksam wurde. Wobei ich seinen Humor damals schon mochte und mich gern einmal humoristisch mit ihm duelliert hätte.
Die Jahre vergingen und ich habe miterlebt, wie sie zu einer wunderschönen und klugen jungen Frau herangewachsen ist und die Gefühle machten sich unerlaubt in mir breit. Erst nach und nach habe ich mir eingestanden, dass diese romantischer Art waren, war mir allerdings sicher, dass Lani in mir nur einen weiteren großen Bruder sah, weshalb ich ihr nie meine Liebe gestanden habe.
„Ich gehe mir nun doch einen Kaffee holen. Magst du auch was, Duncan?“
Rilanas Stimme reißt mich aus meine Reise in die Vergangenheit und ich blinzle sie irritiert an.
„Nein… nein, danke. Ich warte halte die Stellung, falls der Doc kommt.“
Sie nickt mir zu und macht sich auf den Weg zum nächsten Getränkeautomaten, um sich einen Kaffee zu ziehen und vielleicht auch etwas für die Beruhigung ihrer Nerven, die völlig blank liegen müssen. Meine Gedanken hingegen driften schon wieder in die vergangenen Jahre ab und ich schließe meine Augen, um mir Lanis Gesicht vorzustellen.
Sturmgraue Augen, Stupsnase, Sommersprossen, erdbeerblondes Haar. Zum Schluss hatte sie ihre Haare zu einem Longbob schneiden lassen, was ihre freche Art nur noch einmal betonte. Sie war schlank, hatte dennoch an den richtigen Stellen weibliche Kurven, die sie auch zu bewegen wusste, wenn sie mal wieder mit ihren Mädels die Tanzfläche unsicher machte. An eben so einem Abend lernte sie ihren Ex Zachary kennen. Ich konnte an besagtem Abend nicht als Begleitung mit, da ich einem Freund helfen musste und trete mir dafür heute noch in den Arsch. Vielleicht hätte ich das tiefergehende Kennenlernen unterbinden können. Lani feierte den Geburtstag ihrer besten Freundin Aileen und hatte mir mehrfach versichert, sie könne auf sich selbst aufpassen.
Zachary und Lani kamen ein paar Tage nach ihrem Kennenlernen zusammen, zog mit ihm um die Häuser, war kaum noch bei ihren Eltern zu Besuch und machte sich auch bei mir rar. Immer wieder bekamen wir uns wegen diesem Idioten in die Haare, wenn wir uns doch einmal trafen um zu quatschen, weil ich ihr wiederholt sagte das er nicht gut für sie ist. Aber das wollte sie nicht hören und verteidigte ihn bis aufs Äußerste. Irgendwann kam der Tag, an dem sie mir eine Nachricht schrieb, dass sie sich mit mir nicht mehr treffen könne, denn Zachary sei eifersüchtig auf mich. Ihre Freundin Aileen passte mich circa sechs Monate vor Lanis Tod ab und erzählt mir, dass sie mit einem überschminkten Veilchen durch die Gegend laufen würde und sie sich große Sorgen um ihre Freundin machte, aber sich nicht traute den großen Bruder anzusprechen, deswegen quatschte sie mich an, denn mich kannte sie gut genug.
An Lani kam ich absolut nicht mehr ran: Telefonnummer gewechselt, zu Zachary gezogen, von allen Leuten abgekapselt die ihr wichtig waren… Also fasste ich den Entschluss, Cal selbst zu informieren. Anfangs fielen ihm bald die Augen aus dem Kopf, als er von mir erfuhr, dass ich seiner kleinen Schwester bereits seit mehr als fünf Jahren wie ein Schatten folge und er davon absolut nichts mitbekommen hatte. Sobald er jedoch hörte, dass Zachary seine geliebte Schwester nicht gut behandelte und womöglich schlug, fackelte er nicht lang und machte diesen Typen ausfindig, um mit ihm ein paar Worte zu wechseln; ihn zur Vernunft zu bringen. Dieses Gespräch artete aus und ich hatte meine Müh und Not, die beiden Streithammel auseinander zu bekommen.
Bei dieser Erinnerung muss ich mir ein Lächeln verkneifen, denn Cal hatte Zachary ordentlich zugesetzt, so dass dieser wochenlang wie Quasimodo herumgelaufen ist. Die Laune von dem Kerl war damals wirklich bombastisch. Lani war sauer auf Cal und mich, ließ sich nach einiger Zeit allerdings von uns überzeugen, sich wenigstens ein eigenes kleines Apartment anzumieten, damit sie aus der Schusslinie kommt und sich auch mal zurückziehen konnte. Beim Umzug halfen Cal und ich natürlich gern und renovierten vorab gemeinsam ihre ersten eigenen vier Wände. Nach und nach verstanden er und ich uns immer besser und passten abwechselnd, oder aber auch mal gemeinsam, auf Lani auf, damit der Mistkerl sich ihr nicht näherte.
Leider hat er sie irgendwann abgefangen, als niemand von uns beiden zugegen war und sie weichgeklopft und ihm wieder hörig gemacht, was sie uns wohlweislich verschwieg und gute Miene zum bösen Spiel machte. Was genau vor sich ging wussten wir nicht, bis wir sie an diesem schicksalhaften Abend leblos in ihrem Apartment auf dem Sofa fanden und jeder einen Abschiedsbrief in den Händen hielt. Der Brief an mich befand sich noch immer in meinem Besitz, jedes Wort habe ich verinnerlicht.
„Mr. Finlay?“
Überrascht öffne ich meine Augen, blicke einen älteren Arzt an, welcher mir gegenübersteht und erhebe mich innerlich ächzend von dem unbequemen Stuhl, um ihm die Hand zu reichen.
„Mein Name ist Dr. Acula und ich habe die Operation durchgeführt. Die Schwester informierte mich, dass Sie im Besitz einer medizinischen Vollmacht durch Mr. Moldovan sind und gern Auskünfte über seinen derzeitigen gesundheitlichen Zustand hätten. Das ist korrekt, nehme ich an?“, stellt er sich vor und hakt direkt nach, ob seine Informationen richtig sind.
„Vollkommen richtig, Doktor. Miss Myers ist die Freundin von Mr. Moldovan und darf natürlich ebenfalls Informationen erhalten“, deute ich mit einer kurzen Handbewegung neben mich und werfe ihr zeitgleich einen Blick zu. Sie hatte sich mit ihrem Becher in der Hand ebenfalls erhoben und sah wie gebannt den Arzt an. „Wie geht es ihm?“
„Nun, die Kugel war leider kein glatter Durchschuss, weswegen sie herausoperiert werden musste. Zum Glück traf die Kugel lediglich die linke Schulter und konnte problemlos entfernt werden. Derzeit befindet sich Mr. Moldovan noch im Aufwachraum, sollte allerdings jederzeit das Bewusstsein wiedererlangen, damit wir ihn verlegen können.“
Neben mir atmet Rilana erleichtert aus und ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ich kann hören, wie der Felsbrocken auf ihrem Herzen sich löst und mit einem lauten Rumpeln vor ihre Füße knallt. Zumindest geht es Cal den Umständen entsprechend und er wird wieder ganz der Alte. Viel schlimmer wäre es gewesen, wenn die Kugel unglücklich in seinen Körper eingetreten und wichtige innere Organe verletzt hätte. Diese Schussverletzung ist gegen die vergangenen Verletzungen eine echte Lappalie.
So wie ich Cal kenne, wird er das Ganze einfach als kleinen Kratzer abtun und darüber lachen. Ob das allerdings zu Rilanas Erheiterung beiträgt, möchte ich stark bezweifeln. Doch das werde ich ihm ganz sicher nicht verraten. Oh nein, dass soll er schön selbst herausfinden.