Wie konnte er es bis zu mir in meine Etage schaffen? Alle waren informiert darüber, dass ich meinen Ex-Freund nicht hier haben möchte. Von der Reinigungsfirma bis hin zur Security wussten alle Bescheid und dennoch hatte Wassib es ins Gebäude und dazu noch bis in meinen Arbeitsbereich geschafft. Zuerst hat er mit mir sprechen wollen und ich habe mich dummerweise dazu breitschlagen lassen, was ich nun zutiefst bereue. Niemals hätte ich gedacht, dass er mir gegenüber grob wird oder gar Gewalt anwendet. Dennoch hat er mich gepackt und als ich um Hilfe rufen wollte meinen Mund zugehalten. Er hat vorgehabt meine Bluse aufzuknöpfen, allerdings habe ich mich nach Kräften gewehrt und er hat sie ohne Mühe zerrissen, mir ins Ohr gestöhnt, dass er mich schon immer mal in einem Besprechungsraum über den Tisch vögeln wollte. Gott, wie widerlich das Ganze doch gewesen ist! Mir wurde schlecht und ich hatte ihm eine Ohrfeige verpassen wollen, was mir unglücklicherweise misslungen ist.
Ich habe Angst gehabt. Große Angst. Und als ich dachte, dass ich nun von meinem Ex-Freund vergewaltigt werde, ist Calin in den Raum gestürmt und hat Wassib mühelos überwältigt und mir geholfen. Ohne zu zögern hat er eingegriffen und mich vor dem Schlimmsten bewahrt. Was, wenn er nicht rechtzeitig zu uns gestoßen wäre? Wenn mich Wassib vergewaltigt hätte? Mich vielleicht noch geschlagen und danach verschleppt? Übelkeit schwappt wie eine riesige Welle über mich und ich presse meine Lippen angestrengt aufeinander, damit ich mich nicht erbreche. Dann vernehme ich durch den Wirbel meiner Gedanken sanft und leise meinen Namen und kurz darauf spüre ich eine warme, große Hand auf meiner Schulter. Kurz zucke ich zusammen, entspanne mich jedoch direkt wieder als ich realisiere das es sich hierbei um Calin handelt, der bei mir geblieben ist.
„Rilana“ wiederholt er meinen Namen und ich schniefe leise „ist alles in Ordnung? Hat er dich verletzt?“
Ohne großartig zu überlegen, lasse ich mich blindlings nach vorn auf die Knie und gegen seine starke Brust fallen, mein Gesicht vergrabe ich dabei an seiner Schulter und weiß nicht, wie ich jemals wieder einen vernünftigen Satz herausbekommen soll. Seine Arme schließen sich ohne Zögern um meine Taille und ziehen mich fest und schützend an seinen Körper, während er durch meine ungestüme Art nach hinten gekippt ist und nun rücklings auf dem Boden unter mir liegt. Ich hoffe, er hat sich nicht ernsthaft wehgetan und schlucke verkrampft.
„Da hast du mich glatt aus der Bahn geworfen“ kommentiert er und ich kann das Schmunzeln heraushören „Ist wirklich alles okay?“
„Mhmhm“, nuschle ich und vergrabe meine Finger unter seiner Lederjacke in den Stoff seines Shirts, da ich seine Nähe jetzt so dringend brauche wie die Luft zum Atmen.
Für einige Zeit bleiben wir so liegen und ich lausche seinem Herzschlag und seiner Atmung, während ich mich langsam wieder beruhige und nun echt in Verlegenheit gerate. Warum habe ich ihn doch gleich umgeworfen und mich wie ein schutzbedürftiges Kätzchen an ihn geschmiegt? Oh man, wie soll ich das nur erklären? Wie peinlich, Rilana. Was er nun wohl von mir denken mag? Vermutlich hält er mich für ängstlich und schwach.
Langsam hebe ich meinen Kopf ein kleines Stück und schaue ihm unsicher ins Gesicht. Seine Augen hat er geschlossen und ich überlege kurz, ob er vielleicht eingeschlafen ist, als er auch schon seine herrlich blauen Augen öffnet und mich prüfend anschaut. Meine Wangen erwärmen sich und ich hoffe das ich nicht auch noch rot anlaufe wie eine Tomate.
„Es tut mir leid… ich wollte dich nicht umwerfen“ bringe ich über meine Lippen und setze mich auf, wobei ich nicht umhin komme mich auf seine Oberschenkel zu setzen.
„Das geht schon in Ordnung. In solchen Situationen denkt man nicht darüber nach und handelt einfach nur. Geht es wieder?“ lächelt er mich an und setzt sich ebenfalls auf, sich mit einem Arm dabei nach hinten abstützend, was vermutlich einfach angenehmer ist.
„Danke, ja. Ich war nur so… durcheinander. Ich hätte niemals gedacht, dass er es bis nach hier oben schafft und dann auch noch gewalttätig mir gegenüber wird.“
Tief durchatmend stehe ich auf und halte ihm meine Hand hin, damit ich ihm aufhelfen kann, was ihn wieder zum Schmunzeln zu bringen scheint, das widerrum versuch er jedoch zu verbergen. Ich kann es allerdings an seinen zuckenden Mundwinkeln erkennen. Er ergreift meine Hand und richtet sich dennoch ganz ohne meine Hilfe auf, um sich dann die Jacke auszuziehen, sie mir über die Schultern zu legen und zu schließen. Leise seufze ich und schiebe mir eine Strähne meines Haars hinters Ohr.
„Das wird langsam zur Gewohnheit“ nuschle ich dann verlegen und er grinst achselzuckend.
Der vertraute Geruch nach Leder, Aftershave und einfach nur Calin hüllt mich ein und ich entspanne mich vollends. Jetzt wo er bei mir ist kann mir nichts mehr passieren. Das wird er nicht zulassen. Normalerweise müsste ich mich auf Grund der viel zu großen Jacke verloren fühlen, was aber nicht der Fall ist – ganz im Gegenteil sogar.
Geschuldet der Tatsache des tätlichen Angriffs mir gegenüber hat meine Vorgesetzte mir den Rest des Tages frei gegeben. In einer übergroßen Lederjacke wäre das Arbeiten auch ein wenig unbequem, wie sie trotz allem amüsiert festgestellt hatte. Dabei hat sie jedoch ziemlich eindeutige Blicke über Calins nun deutlich sichtbare Muskulatur gleiten lassen und ein interessiertes Blitzen war in ihren Augen kurzzeitig aufgetaucht. Zugegebenermaßen hat mir das nicht wirklich gefallen. Warum sucht sie sich nicht irgendeinen reichen Schlipsträger? Das würde viel besser passen. Ich ziehe mit leichtem Widerwillen Calins Lederjacke aus, um sie behutsam auf mein Bett zu legen.
Mit den Fingerspitzen fahre ich über das glatte Leder und beiße mir auf die Unterlippe, bevor ich mich an den Kleiderschrank stelle und ein einfaches Top herausziehe, um es mir über den Kopf zu streifen, nachdem ich meine zerstörte Bluse ausgezogen und in eine Ecke gefeuert habe. Wütend auf Wassib. Wütend auf mich. Warum habe ich Calin nichts von dem Anruf erzählt? Mich kann man vermutlich als absolut naiv bezeichnen. In Zukunft werde ich ihm jede Kleinigkeit erzählen, die in Verbindung mit meinem durchgeknallten Ex stehen könnte.
Als ich in die untere Etage gehe, höre ich ihn gerade telefonieren und bleibe auf dem unteren Treppenabsatz stehen, weil ich nicht lauschen möchte. Ich kann nicht verstehen, über was oder mit wem er spricht und kaue auf meiner Unterlippe herum, während ich seine Jacke an meine Brust drücke. Mir ist durchaus bewusst das es Calins Job ist mich zu beschützen, aber es hat etwas in mir berührt, von dem ich bis dato nicht wusste das es existent ist. Es fühlt sich seltsam an, wenn er nicht in meiner Nähe ist und es beruhigt mich, wenn ich ihn sehe, höre oder eben rieche. Klingt vermutlich komplett irre, aber er ist scheinbar mein sicherer Hafen. Wie wird es sein, wenn der Auftrag erledigt ist und ich in ein eigenes Apartment ziehe? Mein Magen verkrampft sich kurz und ich presse eine Hand auf meinen Mund, weil mir bewusst wird, dass ich dabei bin mich in ihn zu verlieben.
Calin will keine feste Beziehung und es wird mich unglücklich machen, wenn ich diese Gefühle nicht wenigstens versuche im Keim zu ersticken.