Das La Rouché ist brechend voll und ich puste mir eine Strähne meines Haars aus der Stirn, da ich im Augenblick keine freie Hand habe. Ich stelle die vier Bier vor dem Typen ab, der aussieht wie ein bärtiger Holzfäller, um ihn dann direkt abzukassieren. Selbst George steht mit mir hinter der Theke und bedient mit. Das kommt normal nicht allzu oft vor. In der Regel bediene ich alleine und man kann sich relativ zwanglos durch die Gäste wuseln. Heute aber musste man sich, wenn man denn irgendwo hin wollte, regelrecht durch die Leute quetschen. Dabei haben wir nicht mal einen Aktionsabend oder irgendwas in diese Richtung. Nicht, dass ich mich jetzt beschweren möchte, denn man bekommt an solchen Abenden ein ordentliches Trinkgeld. Dennoch ist es anstrengend. Besonders, wenn man die Nacht davor zum Tag gemacht und danach wenig geschlafen hat. Meine Augen und auch Füße brennen vor Müdigkeit.
„Machst du dem Kerl da hinten noch eine Coke fertig, Ri?“, ruft George mir zu und nickt in Calins Richtung. „Der scheint keinen Alkohol zu wollen.“
Ich schnappe mir die Cokeflasche und gieße ein Glas für Calin voll, nachdem ich einen Eiswürfel hineingegeben habe.
„Das ist mein Fahrer. Damit ich nicht im zu Fuß nach Hause muss, George“, informiere ich ihn lächelnd, als ich an ihm zu Calin vorbei gehe. „Also trinkt er natürlich keinen Alkohol.“
„Ah, verstehe. Ihr kanntet euch vorher schon?“
Einen irritierten Blick über die Schulter werfend stelle ich das Glas auf dem Tresen ab und blicke dann meinen Gegenüber an. Er hat tatsächlich seine Jacke ausgezogen und sie auf die Bank neben sich gelegt. Heute trägt er ein weißes Henley Shirt, dessen Knöpfe komplett offen stehen und ich seufze innerlich entzückt. Ich kann kein Haar erkennen und vermute, dass er keine behaarte Brust hat – sehr zu meiner Freude. Nicht das ich was davon haben würde. Aber man darf ja noch träumen, oder? Er bedankt sich und nimmt direkt einen Schluck. Lächelnd nehme ich sein leeres Glas und drehe mich um, damit ich es spülen kann.
„Wie meinst du das mit ‚vorher‘, sag mal?“, hake ich nach, als ich an George vorbeihusche.
„Nach deinem Auftritt hat er nach dir gefragt und ich habe ihn zu dir gelassen, erinnerst du dich? Das meine ich mit vorher.“
„Achso. Ja, natürlich. Ich kannte ihn bereits vorher – flüchtig.“
„Und nun datet ihr?“, grinst er mich an und zapft ein Bier.
„Was? Nein. So ist das nicht. Er ist einfach für mich da und passt ein bisschen auf mich auf.“
„Wegen deinem Ex?“, grunzt George angewidert.
„Exakt. Es ist nur zur Sicherheit. Ich glaube allerdings nicht, dass er sich in meiner Nähe blicken lässt. Ob nun mit, oder ohne Begleitung in jeglicher Hinsicht. Vor ein paar Tagen hat er mich angerufen und mir gedroht, er würde mich wiederbekommen und das ich ihm gehören würde. Danach hat er sich aber nicht wieder gemeldet. Heiße Luft, wenn du mich fragst“, erzähle ich schulterzuckend und trockne meine Hände ab.
„Nimm es nur nicht auf die leichte Schulter, Mädchen. Nicht das dir genau das zum Verhängnis wird. Dein Beschützer kann nicht überall sein. Dein Ex scheint genügend Leute zu kennen. Vergiss das nicht.“
Seufzend nicke ich leicht. George hat recht. Wassib erstickt bald an seinem Reichtum und kennt durch seinen Vater gefühlt halb Amerika. Wenn er wollen würde, hätte er mich schnell von jemanden schnappen und zu ihm bringen lassen können. Ich kenne bei weitem nicht alle seine Leute. Dennoch ist bisher nichts mehr passiert. Kein Anruf, kein Wassib der einfach irgendwo auftaucht. Vielleicht hat ihn Calin am Ende der Leitung doch abgeschreckt. Immerhin ist es ein anderer Mann der mit ihm von meinem Smartphone aus gesprochen hat, ohne das ich ihn vorgewarnt habe.
„Ich bekomme noch einen Whiskey“, ruft mir einer der Gäste zu. „Und für meine Begleitung einen Sex on the Beach.“
Cocktails mixen gehört nicht zwingend zu meinen liebsten Beschäftigungen, aber was solls. Muss ja auch irgendwer machen. Geschickt schütte ich die Zutaten zusammen mit dem crushed ice in den Shaker und verschließe ihn, damit ich ihn schütteln kann. Dabei lasse ich den Blick über die anwesenden Gäste schweifen und seufze müde. Es ist erst kurz vor zwei und es sieht nicht so aus, als würde ich vor fünf Uhr hier raus sein. Mit Schwung fülle ich den fertigen Cocktail in das entsprechende Glas und schiebe es der Begleitung des Gastes hin, der bestellt hat. Danach fülle ich ein Glas Whiskey ein und stelle es lächelnd daneben. Lächelnd zahlt er und nickt mir dankend zu.
_
Die Anzahl der Gäste hat rapide abgenommen und nur noch vereinzelnd sitzen oder stehen Menschen zusammen und unterhalten sich bei einem Drink. Wenn ich Glück habe, macht George gleich die Ansage das wir keine neuen Getränke mehr ausschenken und wir können fix zusammen aufräumen. Mein Blick fällt auf mein Handgelenk, um die Uhr zu betrachten. Kurz nach drei. Ich richte meine Aufmerksamkeit auf Calin und sehe, dass er mich direkt anschaut. Mein Herz setzt einen Schlag aus und galoppiert dann aufgeregt weiter. Beobachtete er mich etwa schon die ganze Zeit über?
Plötzlich wird die Musik ein wenig lauter und ich blicke zur Anlage herüber, an der George grade steht und mich angrinst.
„Dein Lied, Ri! Kleines Tänzchen?“, lacht er.
„Jetzt?“, wundere ich mich und ziehe überrascht die Augenbrauen hoch.
„Na sicher. Spontan ist immer am besten, nicht wahr?“
Ich lache amüsiert und zucke dann die Schultern. Die Klänge zu Rihannas ‚Umbrella‘ tönen durch den Gastraum und ich fange an dazu meine Hüften zu bewegen. Meine Müdigkeit ist wie weggeblasen und ich bewege mich ganz ihm Einklang mit der Musik. Dieser Song ist einer meiner liebsten. Bin ich nicht im Dienst, tanze ich dazu gern in einem Club oder Zuhause durch das Apartment. Derzeit besuche ich keinerlei Clubs, weswegen George mich ab und an auffordert es einfach hier zu machen.
Einige männliche Gäste pfeifen und johlen, andere klatschen anfeuernd und ich vergesse alles um mich herum, völlig versunken in der Welt der Musik. Hier geht es mir gut, kann mich nichts belasten und ich bin einfach frei.
Nach einigen Minuten endet das Lied und ich öffne meine Augen, um mich dann schwungvoll in alle Richtungen einmal zu verneigen, während die Gäste begeistert applaudieren. Die wenigsten Leute wussten von meiner Tanzausbildung. Neben Poledance habe ich lang Freestyle getanzt. Als ich mich das letzte Mal aufrichte, schaue ich direkt in Calins Richtung. In seinen Augen blitzt es kurz auf, aber ich kann nicht deuten welche Emotion ich da gerade erhascht habe, bevor er sich mir gegenüber wieder verschlossen hat.
Verlegen lächle ich und sammle flink die leeren Gläser von der Theke ein, um sie in den Geschirrspüler zu räumen. George teilt den restlichen anwesenden Gästen mit, dass sie bitte austrinken mögen, da wir Feierabend machen wollen. Summend tänzle ich zu der nun wieder leise im Hintergrund laufenden Musik und freue mich auf die frische Nachtluft die ich gleich schnuppern werde. Auch mein Bett ruft lautstark bei mir, denn der gestrige Tag fordert seinen Tribut. Sonst hocke ich seit Monaten in der Bude, sowas macht sich direkt bemerkbar.
_
„Die Tanzeinlage kam unerwartet. Machen Sie so etwas öfter?“, erkundigt Calin sich bei mir.
„Normalerweise nach Schließung, oder vor der Öffnung der Bar. George möchte mir was gutes tun, da ich derzeit die Clubs meide und auch sonst eher zur Stubenhockerin mutiert bin“, gebe ich bereitwillig Auskunft. „Das eben war wohl ein typischer Spontaneinfall von ihm.“
„Verstehe. Sie haben mehrere Tanzausbildungen?“
„Poledance und Freestyle. Das war damals an meiner Schule ein Kurs, den Mitschüler auf die Beine gestellt haben. Und irgendwann haben sie mich gefragt, weil sie mitbekommen haben, dass ich nach dem Unterricht immer in das lokale Tanzstudio gegangen bin.“
Calin öffnet seinen Camaro und hält mir die Beifahrertür auf. Leise seufzend gleite ich auf den Ledersitz und er schließt die Tür behutsam. Danach steigt er auf der Fahrerseite ein und ich schnalle mich an. Meine Handtasche parke ich zwischen meinen Füßen. Vorhin sind wir mit seiner Harley gefahren und ich konnte mich an seinen Rücken schmiegen, ohne das es komisch rüber gekommenen wäre. Seine Bauchmuskeln unter meinen Händen fühlten sich einfach nur toll an. Er hat dann kurz bei sich Zuhause gehalten und hat das Bike gegen den Camaro getauscht, damit es jetzt einfach bequemer ist.
„Dann fahre ich Sie nach Hause, damit Sie dieses Mal mehr Schlaf bekommen. Steht morgen irgendwas an?“
„Nein. Vermutlich werde ich Serien schauen oder lesen. Mal schauen“, sage ich leichthin.
„Klingt nicht so spannend.“
„Ist es auch nicht, wenn man das jeden Sonntag so macht.“
Aus dem Augenwinkel kann ich sehen das er mich nachdenklich anschaut und tue so, als wenn ich es nicht mitbekommen würde. Einen Cent für seine Gedanken. Was ihm wohl durchs hübsche Köpfchen geht? Vermutlich macht er mental drei Kreuze, weil er auch mal einen freien Tag in der Woche hat. Es sei ihm wirklich gegönnt. In der Bar rum zu sitzen und nichts tun, außer auf ein Mädel aufzupassen scheint mir keine unterhaltsame Beschäftigung zu sein. Und dann bis spät in die Nacht. Ich verziehe meinen Mund und lehne meinen Hinterkopf an die Kopfstütze an, während Calin den Wagen startet und mich nach Hause fährt.