"Bist du sicher, dass du allein hinfahren willst?", fragte Madeleine.
"Natürlich bin ich sicher, Maddy. Du brauchst mich nicht alle fünf Minuten fragen", erwiderte ich und klang wahrscheinlich so genervt, wie ich mich fühlte. Ich verstand und verstehe bis heute nicht, weshalb Madeleine mich unbedingt begleiten wollte. Ich wollte doch nur auf den Friedhof, auf dem meine Familie begraben lag. Daran war nichts besonderes. Es war etwas, dass ich jedes Mal tat, wenn ich meine alte Heimat in Schottland besuchte.
Seufzend gab sie nach. So sehr schienen ihr meine schottischen Wurzeln also doch nicht am Herzen zu liegen. Im Nachhinein würde ich behaupten, es hat ihr das Leben gerettet. Auch wenn wir uns nach dieser Unterhaltung niemals wieder sahen.
Beinahe amüsiert dachte ich an diese letzte Unterhaltung zurück. Die letzte Unterhaltung, die ich als Mensch geführt hatte. Danach war ich ins Auto gestiegen und war gefahren. Stundenlang. Mein einziger Begleiter waren das Autoradio und meine Tasche voll mit einigen Wechselklamotten für das verlängerte Wochenende, welches ich geplant hatte.
Es war schon spät, als ich endlich in meinem kleinen Heimatdorf ankam. Trotzdem steuerte ich als erstes den Friedhof anstatt des Pubs an. Ich parkte meinen Wagen an der Straße, stieg aus und streckte mich ausgiebig, bevor ich durch das verfallene und halb verrottete Metalltor schlüpfte, welches Abends immer so gut es ging zugeschoben wurde.
Mit zielgerichteten Schritten bewegte ich mich über die ausgetretenen Pfade im Gras, ignorierte, die alten von Moos bewachsenen Gräber mit ihren verwitterten Grabsteinen, Kreuzen und Statuen.
Mein Weg führte mich zur Familienkrypta, deren Tür von zwei grimmigen Statuen bewacht wurden. Beide hielten Sensen in der einen Hand, in der anderen einen Kelch. Ihre Körper schienen von Umhängen verborgen zu sein, aber auch diese waren aus Stein gemeißelt, eben so wie ihre Gesichter, die Totenschädeln glichen.
Ich nannte sie immer die Stillen Brüder, weil sie einander so gleich waren.
Aus Gewohnheit neigte ich meinen Kopf höflich, bevor ich die Krypta aufschloss und die schwere marmorne Tür aufschob. Ich zückte mein Zippo und entzündete die alte Öllampe, die auf dem Tisch neben dem Eingang stand und als ihr warmes Licht zu flackern begann, schloss ich die Tür hinter mir und setzte meinen Weg tiefer in die Krypta fort, wohl wissend, dass ich endlich das Alter erreicht hatte, in welchem ich hinüber gehen konnte.
Heute Nacht würde ich mein sterbliches Leben hinter mir lassen und mein neues, unsterbliches Leben würde beginnen. Ich wusste nicht, wer aus der Familie erwählt worden war, mir den Kuss zu geben, der alles in Gang setzen würde, aber ich war bereit dafür.
Als ich den Hauptraum der Krypta betrat, warteten sie alle schon auf mich. Meine Vorfahren.
Ich lächelte ein wenig nervös und stellte die Lampe vorsichtig ab, bevor ich mich in ihre Mitte begab um sie zu begrüßen.
"Bist du bereit, Peter?", raunte eine warme Stimme an mein Ohr und ich spürte kühle Lippen meinen Hals liebkosen, während starke Arme sich von hinten um mich legten.
Sie wollten also keine Zeit verlieren. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, wer mich da im Arm hielt. Ich lehnte mich vertrauensvoll zurück, wohl wissend, dass ich die nächsten Tage, Monate, vielleicht Jahre mit dieser Person teilen und dabei auch mit ihr intim sein würde. Jahre, in denen das Moos und Gras endgültig über mein Leben wachsen und mich der Vergangenheit anheim fallen lassen würden. Zumindest in der Welt der Lebenden.
Madeleine würde sich die Haare raufen, wenn sie das wüsste.
So schnell der Gedanke an meine Freundin, Partnerin, was auch immer sie genau war, da war, war er auch wieder verschwunden. Denn die kühlen Lippen hörten nicht auf mich zu kosen und ich spürte, wie ich hart wurde. Ein Raunen ging durch die Gruppe.
"Peter?", fragte die Stimme noch einmal und diesmal schaffte ich es zu antworten.
"Ja, Carlisle. Ich bin bereit", flüsterte ich mit heiserer Stimme.
Die Hand an meiner Hüfte wanderte zu meiner Mitte und die Berührung an meinem harten Schaft ließ mich den scharfen Schmerz an meinem Hals vergessen. Meine Adern schienen sich mit Eis zu füllen und mich gleichzeitig zu verbrennen. Dumpf drangen meine eigenen Schreie an meine Ohren und meine Welt wurde schwarz.