„Wo seid ihr denn jetzt?“, tippe ich in mein Smartphone und warte auf Antwort. Der Autoverkehr rauscht unter grauem Himmel dahin, derweil ich versuche, zu ignorieren, dass Tom neben mir mit Begeisterung aufs Gaspedal latscht, um möglichst viele der Vierhundert-und-Pferde mit der imaginären Peitsche über die Autobahn zu jagen. Im Augenwinkel huscht das blaue Autobahnschild vorbei.
Magdeburg.
Da wollen wir nicht hin, aber daran vorbei, und weit ist es nicht mehr.
Wo wir hin wollen?
Nach Plaue an der Havel, was in Brandeburg liegt, eine Folge von gutem Essen, Wein und Impulsivität.
Es fing damit an, dass ich im Oktober 2018 auf der Reha-Care-Messe in Düsseldorf ein Prospekt eingepackt hatte, in dem barrierefreier Urlaub im Hausboot beworben wurde.
Es ging damit weiter, dass der Göga und ich die Idee eines Hausbooturlaubs ganz witzig fanden.
Und es endete mit besagtem Essen mit Steffi und Thomas im November 2018, und der beschwipsten, im Chor gerufenen Entscheidung: „Ja, das machen wir!“
Vier Erwachsene, zwei Kinder. Obwohl man nur von Nicki mit seinen zehn Jahren tatsächlich von einem Kind reden kann, denn sein Bruder Jan ist mit fünfzehn ja schon fast ein junger Mann.
Bemerkenswert daran ist, dass wir ab dem Buchungszeitraum nie so genau wussten, wohin wir fahren werden.
Wichtig war nur, dass wir, bei aller Verschiedenheit der Lebenskonzepte, die engsten Freunde dieser Erde, mit den Kindern ein Hausboot besiedeln. Ganz gleich, wo es liegt, und worüber wir fahren.
Wir bezahlten die Anzahlung, viel später die Restzahlung, und weil wir richtige Stadtkinder sind, buchten wir auch gleich das Wäsche-Set und die Handtücher mit.
Nicht zu vergessen die beiden Kajaks. Jan und ich lieben Kajaks.
Erst circa eine Woche vor Reiseantritt, als deutlich wurde, dass uns weder der regionale Lockdown in Gütersloh und Reda-Wiedenbrück, noch die zweite Welle einen Strich durch die Rechnung machen konnten, als wir bei Maps nachsahen, wie weit wir fahren, um bis 14 Uhr da sein zu können, realisierten wir: Wir fahren nach Brandenburg.
Während ich auf Steffis Antwort warte, google ich ein bisschen.
Niedersorbisch Bramborska.
Liegt im Nordosten der Republik, wurde als Mark Brandeburg im Jahr 1157 durch Albrecht den Bären Teil des Heiligen Römischen Reiches...blablabla....und entwickelte sich von 1701 bis 1946 zum Kernland Preußen.
„Ach du liebe Güte!“
Seine Augen huschen kurz zu mir rüber. „Was denn?“
Ich hasse es, wenn er nicht auf die Fahrbahn guckt.
„Preußen und ich? Das geht doch nie gut“, spiele ich zerknirscht auf meine durch und durch rheinländische Mentalität an, doch er zuckt die Achseln. „Wir sind ja die meiste Zeit auf dem Boot.“
„Aber mehr als ein Drittel der Fläche Brandenburgs wird von Naturparks, Wäldern, Seen und Wassergebieten eingenommen.“
„Mehr wollen wir doch nicht.“
Das stimmt schon. Aber Erinnerungen an eine Jahre zurückliegende Auseinandersetzung zwischen mir und einer waschechten Preußin, die zum Berliner Flughafenbodenpersonal gehörte, zucken auf.
Was das für ein Desaster war, weil ich mich nicht herumkommandieren lassen wollte.
Das damit endete, dass der Flughafenmanager neben uns stand und sich meine berechtigte Beschwerde anhörte. Der herumtelefonierte, um die Vorschrift zu finden, der ich gerecht werden sollte.
Weil ich mir nicht ohne Rechtsgrundlage Regeln aufoktroyieren lasse, die völlig sinnlos sind. und meine ohnehin schon eingeschränkte Bewegungsfreiheit noch mehr einschränken.
Umringt vom Sicherheitschef und meinem wissend lächelnden Gemahl, der das schon kennt.
Meine Freiheitsliebe.
Mein Aufbegehren, und die nadelspitzen Bemerkungen, mit denen ich in der Sache immer Recht habe, aber man sich durchaus fragen kann, ob sie den Aufwand lohnen.
Preußen und ich- das geht im Grunde gar nicht, aber wie er sagt, sind wir die meiste Zeit auf dem Boot.
Jedenfalls dachten wir das da noch.
Ich werfe einen Blick auf mein Handy und entdecke noch immer keine Antwort von Steffi.
Ich lese mir weitere Infos über Brandenburg an. Meine Stirn verfinstert sich.
„Die AFD hatte hier zuletzt 20 %.“
„Wir sind die meiste Zeit...“
„Auf dem Boot ich weiß.“
Kurz beiße ich auf der Unterlippe. Aber letztlich ist es egal, wir sollen um 14 Uhr am Anleger sein, weil Tom den Charterschein machen muss.
Das war anders geplant, denn nicht nur für diese Reise strebte er den Bootsführerschein an, war fast schon fertig, aber dann kam ein Virus, dass die Bootsschule in Mönchengladbach dazu zwang, zu schließen.
Und überhaupt Corona.
Eine Weile hatte es so ausgesehen, als wäre das der einzige Urlaub in diesem Jahr.
Die anderen, die danach direkt von Berlin nach Mallorca, in die heiß geliebte Miet-Finca fliegen wollten, hatten sich davon innerlich verabschieden müssen. Und unser Italienurlaub, drei Wochen hiernach, schien in weite Ferne gerückt.
Alles, was vormals so nah, erreichbar und normal war, ähnelt plötzlich einer Reise zum Mars, sodass wir im Mai befreit darüber lachten, wenigstens das Hausboot gebucht zu haben. Unbehelligt von Überbuchungen innerhalb Deutschlands, denn so früh mussten wir mieten, weil es wenige barrierefreie Hausboote gibt, wir ein solches jedoch brauchen, da ich nun mal im Rollstuhl sitze.
Ich höre auf, zu sinnieren, mein Handy signalisiert eine Nachricht.
Wird das Wetter besser?
Das ist doch keine Antwort auf meine Frage.
Ich spähe in den Himmel. Über uns ist er bleigrau, aber die Temperaturanzeige behauptet 23 Grad, und vor mir zeichnet sich ein blauer Himmel ab.
Ja
Gott sei Dank.
Wir sind guter Laune, die Rückbank des Challangers ist voller Gepäck. Wahrscheinlich zu viel, aber der Skoda Kombi der anderen wird bis unters Dach gepackt sein. Nicht nur weil sie zu viert sind. Vielmehr, weil es generell grenzwertig ist, zwei typische Waagefrauen auf einen verbrämten Campingurlaub zu schicken. In meiner Tasche befinden sich zwei Aperol-Sprizz- Gläser. Zum Beispiel.
Aber egal.
Es plinkt und ich lese die Antwort auf die ursprüngliche Frage. Mein Mund verzieht sich vage amüsiert.
„Sie sind erst bei Braunschweig.“
Der Mann neben mir setzt zum Überholvorgang an. „Warum das denn?“
Ich tippe: Wie konnte das passieren?
Und lese die Antwort laut vor. „Thomas hat seine Blutdrucktabletten vergessen.“
Tom schnaubt.
Ich antworte: Wo fiel das auf?
Hannover.
„Ach du lieber Himmel.“
„Ist ja egal“, murmelt Tom, „dann kommen sie eben später. Ich mach‘ ja den Charterschein.“
Ich lege meine Hand auf seinen Oberschenkel und grinse vor mich hin.
Denn es ist wirklich egal. Meine allerliebste, beste und längste Freundin und ihre Familie zeichnen sich nicht eben durch Pünktlichkeit aus.
Das heißt: Wir wussten es.
Manche Dinge ändern sich einfach nie, und das müssen sie auch nicht, wenn sie nach langer Zeit zu einer verlässlichen Größe geworden sind.
Eine liebevoll beäugte Angewohnheit.
Irgendeine Art Verspätung hatte ich schon eingeplant und mir ausgemalt, in der gewonnen Zeit unser vieles Gepäck in die 40 Quadratmeter zu quetschen, damit ich schon fertig bin, wenn sie ankommen.
Es wird weniger hektisch sein.
Man muss nur das Gute daran sehen.
Aber der Vorsprung nützt mir dann nichts mehr.