Die Dome dieser Welt sind für Kölner so eine Sache.
Nicht, dass ich erwarten würde, dass alle Dome dieser Welt so gigantisch daherkommen wie unser Bahnhofskappelchen.
So genannt, weil der Dom in Köln direkt am Hauptbahnhof steht, was ich übrigens, als ich ein Kind war, von allen Domen dieser Erde erwartet habe. Dass ich aus einem Zug steige und sofort den Dom sehe.
https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Kölner_Dom_von_Osten.jpg
Diesen hier bin ich gewöhnt, und bin mit ihm aufgewachsen.
Das war damals in Mailand eine Enttäuschung, so lange herum latschen zu müssen, aber immerhin war der Dom dort prachtvoll.
https://de.wikipedia.org/wiki/Mailänder_Dom#/media/Datei:Milano_Italy_Duomo-Milan-01.jpg
Der in Florenz ist der schönste, beeindruckender noch als unserer, weil die gigantische, freischwebende Kuppel Brunelleschis ein Meisterwerk ist.
Oder der in Siena, der im Gegensatz zum Florentiner Dom, wie in Köln, eine gotische, aber buntere Kathedrale ist. Das Münster in Ulm ist schön und hat die höchsten Türme Europas, das Münster in Münster ist auch wundervoll. Der Stephansdom ist eine steingewordene Marienverehrung mit wunderschönem Dach.
Ich verzichte auf weitere Fotos, da ich annehme, man weiß, was ich vermitteln will.
Aber das hier ist.....
„Das ist eine rote Ziegelwand“, quietsche ich entsetzt.
„Du lieber Himmel“, Steffi steht neben mir, und umklammert hilfesuchend ihre Handtasche mit beiden Händen.
„Äh“, Thomas nimmt sich das Basecap ab und kratzt sich am Kopf.
Entgeistert starren wir mit zurückgelegten Köpfen die schmucklose Ziegelfassade hoch, als Nicki hinter uns begeistert jubelt. „Da ist ein Lokal!“
Synchron drehen wir uns um und entdecken auf einem Hügel....
Hügel..., im plattesten Land der Erde, ein italienisches Eiscafé, das sich bei genauerem Hinsehen als eine Mischung aus Café und Restaurant entpuppt.
Außengastronomie mit Domblick.
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Havelberg_Dom_2006-07-30.jpg
Für Domblick bezahlt man überall auf der Welt einen Aufpreis auf den Kaffee, aber wir können uns nicht vorstellen, dass der hier für das visuelle Vergnügen höher als einen Cent betragen kann. Vor dem Lokal sind massenweise Treppen, weshalb Tom schon mal anfängt, mich die Wiese neben den Treppen hochzuschieben. Ich rumpele so vor mich hin, als mir was einfällt. „Mundschutz!“
Alle kramen in ihren Taschen, und schon bald sehen wir entmenschlicht gesichtslos aus, wie der Rest der Welt, als uns ein Kellner in Empfang nimmt und zu einem Tisch lotst, an dem wir uns die Lappen sofort aus dem Antlitz reißen.
Und ich darf sitzen, wo ich will, obwohl wir in Preußen sind, denn der Kellner ist Italiener.
„Ich habe nie zuvor einen so verkniffen dreinblickenden Italiener gesehen“, konstatiere ich frustriert in die Karte blickend.
„Das ist Assimilation“, entgegnet Steffi trocken, „Ich frage mich, wie der hier hergekommen ist.“
„Ich glaube, er fragt sich das täglich selbst“, meint Jan, „Ich nehm‘ ne Pizza.“
„Die Luftwaffe hat in Havelberg eine Kaserne“, Tom greift nach den Zigaretten, „da sind immer Oberstaberstellen frei. Die kriegen die nicht besetzt.“
„Ne, echt?“, Steffi stutzt, „Ich dachte, nur 5 % aller Unteroffiziere werden Oberstaber. Da könnte ich mir einen Run vorstellen.“
„Nen Run gibt es auch“, Tom lächelt schief, „von Havelberg weg.“
„Ich hätte gerne einen Pfefferminztee“, bestellt Nicki charmant und entlockt so dem Italiener ein erstes Lächeln.
Wir anderen bestellen Cola (Jan) und Weißwein (Steffi & ich) sowie Bier und diverse italienische Gerichte.
„Komm, wir machen ein Foto mit den anstoßenden Gläsern“, fordert meine Freundin und zückt ihr Handy. Wir alle stoßen die Gläser an, warten auf Nicki, der uns grammatikalisch korrekt darauf aufmerksam macht, er habe ein Heißgetränk und müsse vorsichtig sein.
Ja, wir haben dieses Foto.
Nach dem Essen schlendern wir durch die Altstadt, die evakuiert aussieht. Alte Häuser, viele schön, die meisten verfallen, kaum Geschäfte, kein Café, an dem man draußen sitzen kann. Auf einem Stein vor einer Bank sitzt eine Frau, die ein Eis aus einem Pappbecher löffelt. Überrascht einen Menschen zu sehen, spreche ich sie an. „Entschuldigung.“
Sie guckt auf wie ein Kalb, wenn es blitzt, als hätte sie die Existenz anderer menschlicher Wesen vergessen. Ihre großen Augen drohen ihr aus dem Kopf zu purzeln.
„Wo haben sie denn das Eis gekauft?“ Ich klinge freundlich.
Aber sie guckt, als hätte ich nicht mehr alle Nadeln an der Tanne.
„Na, da!“, in der Hand den Plastiklöffel zeigt sie die Straße entlang, wo aus einem ganz gewöhnlichen Wohnhaus im Erdgeschoß eine gelbe Markise herausragt, unter der sich drei Menschen vor einem geöffneten Fenster versammelt haben.
Menschen.
Richtige Menschen, die sich an keine Abstandsregelung halten.
Wir trödeln der gelben Markise entgegen und entdecken an der Hausfassade einen Hinweis auf drei selbstgemachte Eissorten. Ich möchte keines, denn ich friere im frischen Wind und den immer mal wieder vom Himmel tröpfelnden Regentropfen.
Aber Nicki hopst vergnügt auf der Stelle und fordert ein Maracujaeis.
Jan will nichts.
Wir anderen auch nicht, uns verzehrt es nach Kaffee, aber den gibt es nicht. Und so warten wir unter einer anderen Markise vor einem ehemaligen, ausgeräumten Ex-Juweliergeschäft, bis Nicki sein Eis gegessen hat.
Wir trödeln weiter.
An einer Seitenstraße hält Thomas inne, denn offenbar hat er ein altes Haus mit einer Gedenkplakette entdeckt, der er zielsicher entgegenstrebt.
Es fängt mehr zu nieseln an, sodass wir anderen uns näher an ein Eckhaus drücken, derweil wir warten.
Dabei fallen mir die Stolpersteine auf, die auf verschleppte jüdische Bewohner hinweisen, denen man ansieht, dass versucht worden war, sie auszugraben. Ich will Tom gerade mit gefurchter Stirn bitten, sie wieder richtig einzugraben, als ich Steffis Stimme höre.
„Das ist ein Geschäft“, sie steht mit dem Gesicht zum Schaufenster und stiert entgeistert in die Auslage. Verdutzt tue ich es ihr gleich. Überall Waffen. Historische Waffen, aber nicht älter als 1933.
Tom, der das Schaufenster um die Ecke desselben Ladens betrachtet, ruft: „Hier ist es noch viel schlimmer.“
Wir huschen hin. Reichskriegsflaggen, noch mehr Blut & Ehre-Dolche und gerahmte Blechschilder mit Sprüchen, die sich auf Heimat und Fremdenhass beziehen. Alle Ware knapp an der Illegalität vorbeigeschrappt. Überall Reichskriegsflaggen, gerade mal so kein Hakenkreuz.
„Also wirklich“, keife ich wild gestikulierend, „das ist ja das Allerletzte. Ich weiß überhaupt nicht, was ich dazu....“
„Das ist ein BeXXXXhaus“
Wir furchen unsere Stirn, denn was für ein Haus Thomas angesehen hat, wurde vom Wind verschluckt.
„Was?“, schreit ihm seine Frau entgegen.
Der Wind wird stetig wilder, der Regen legt zu und fällt in dicken Tropfen.
Thomas ist aufgeregt, wie immer, wenn er eine versteckte historische Sehenswürdigkeit entdeckt hat. In Florenz, vor vier Jahren, kam er aus dem Aufgeregtsein kaum noch raus und wir befürchteten, seine Blutdrucktablettendosis erhöhen zu müssen.
„Ein Beduinenhaus“, strahlt er.
„Äh, was?“
Steffi und ich, studierte Historikerinnen, sehen ihn an, als hätte er unterwegs seinen Verstand verloren. „Wie sollen denn hier Beduinen hingekommen sein?“
„So wie wir“, nuschelt Jan.
„Ich mein‘ ein Beginenhaus.“
„Ach so“, stöhnen wir im Chor.
Der Regen lässt nach.
„Wollt ihr es nicht sehen?“ Enttäuscht zeigt er in die gepflasterte Straße mit dem Beduinenhaus.
„Guck dir das mal an“, schnappt Steffi und meint den Laden, vor dem wir stehen, „Ein Nazifachgeachäft.“
„Das Beginenhaus...“
„Beginenhäuser kennen wir zu Genüge. In Köln ist ein sehr großes, das jetzt eine protestantische Kirche ist, in der Tiane getauft wurde. Aber das hier ist ein Skandal.“ Sie streckt die Hand zur Auslage aus.
„Lasst uns weiter gehen“, verlangt Tom.
„Wohin denn? Hier ist doch nichts.“
„Zum Wasser.“
Wenigstens haben wir mit noch keinem Preußen geredet.“
„Doch. Mit der Frau, die auf dem Stein saß.“
„Kleine Meerjungfrau“, murmelt Jan.
„Sie saß aber nicht am Wasser“, widerspricht sein kleiner Bruder, „Und außerdem ist das hier nicht das Meer.“
Schweigend latschen wir die leeren Straßen entlang, bis Steffi plötzlich einen Lachanfall bekommt, und wie immer ist der ansteckend.
Ich weiß genau, was sie meint.
Ich weiß es ganz genau.
Ich muss stehen bleiben, weil ich vor Lachen nicht mehr Rollstuhl fahren kann. Sie verhält im Schritt, weil sie sich vor Lachen den Bauch hält.
„Ich komm‘ mir vor“, quetscht sie hinaus, „wie....
„....in einem Film noir“, vollende ich den Satz korrekt.