Normalerweise dauert so was weniger als eine Stunde:
Sich landfein anziehen, Haare hochstecken und ab ins Auto.
Aber in dieser Konstellation dauert es bis Mittag.
Jan will nicht vom W-Lan weg, Nicki fallen X Plüschtiere ein, die er mitnehmen will, und dann wieder doch nicht, Thomas sucht sein Basecap, das seine Frau in dem Karton voller, beim Werkskauf in Solingen eingekauften Haribo findet. Nicki findet seine Schuhe nicht, Jan seine Sonnenbrille nicht.
Ein hektisches Gewusel, bei dem alle unaufhörlich gegeneinander rennen, und das von uns beiden, windgepeitscht auf dem Steg stehend, beobachtet und nicht kommentiert wird.
Wir haben tatsächlich keine Meinung dazu. So ist es eben und wir lieben diese Menschen.
„Wir gehen schon mal vor“, Tom nimmt meine Hand und zieht mich so den Anleger hoch. Der Wind wird immer heftiger und zerrt an meinem blonden Zopf. Am Auto rauchen wir noch eine Zigarette, von der der Wind die meisten Züge nimmt, und bei der ich Infos zu Havelberg bei Wikipedia nachlese.
„Das war mal eine Hansestadt“, schreie ich gegen den Wind.
„Davon gab es sechszehn, oder?“, brüllt er zurück.
„Da kommen sie.“ Ich zucke mit dem Kinn zum Hafen.
„Wir fahren vor“, verkündet Steffi, die den Kindern die hinteren Türen aufhält, "Wir haben das ganze Boot voller Weingummi. Vielleicht kriegen wir irgendwo Schokolade."
Wir schlagen die Autotüren zu. Stille umfängt uns.
Ja, auch Windstille, aber unterwegs müssen wir feststellen, dass die suizidalen Vögel uns förmlich vors Auto geweht werden, was die Fahrt zu einem Hindernisparcours macht. Die Baumwipfel schaukeln links und rechts der schmalen Landstraßen, und ich beginne mich zu fragen, ob uns nicht ein Baum vors oder aufs Auto kracht.
Wir gurken herum
Kurvenreich.
Heidelandschaft und Wälder.
Störche und Silberreiher.
Und Dörfer.
Eins wie das andere, alle gleichermaßen beklemmend, denn überall nur Zäune um den allerkleinsten Vorgarten. Und diese Namen.
Wusterwitz
Knoblauch
Grumkow
Rathenow
Pimmelow
Ohnewitz
Kaum Menschen auf den Straßen.
„Sie haben hier keine Bürgersteige“, meine Hand zeigt hinaus auf die unkrautüberwucherte Fläche vor den Häusern.
"Bürger scheinen sie auch nicht zu haben. Wozu dann Steige?"
„Und wozu sind diese Einfüllstutzen vor jedem Haus?“
„Ausfüllstutzen“, grinst der Liebste mit blitzend blauen Augen, „da wird Abwasser abgepumpt.“
„Du willst sagen, ganz Brandeburg ist nicht an die Kanalisation angeschlossen?“ Meine Augen weiten sich überrascht.
„Yep.“
„Du lieber Himmel.“
Wir gurken und kurven.
„Es ist sehr schön hier, aber anders als in Regensburg“, meine Stimme klingt nachdenklich, als ich auf den Regensburg-Tripp einen Monat zuvor verweise.
„Wie meinst du das?“, seine Augen huschen kurz zu mir hin.
„Regensburg ist zauberhaft auf eine Weise, dass ich mir vorstellen könnte, dort zu wohnen. Die Menschen sind herzlich und nett. Sie haben Humor. Das Essen ist großartig und überall, wo es uns gefällt, kommen wir von Bayern schnell hin. Italien. Österreich. Das hier“, ich strecke die Hand zum Fenster, „ist landschaftlich ein Traum. Aber sonst? Es kommt mir vor, als wäre ich im Ausland. Was nicht schlimm ist, ich könnte mir auch vorstellen, in Italien zu leben. Aber....“, ich lehne den Kopf an die Nackenstütze, „Ich kann es nicht erklären. Die Zäune machen, dass ich mich abgewiesen fühle.“
Er schnaubt halb belustig, und setzt gerade an, mir zu antworten, als vor uns der Kombi aus Wuppertal auf eine Bushaltestelle fährt und Halt macht.
„Was denn jetzt?“
„Keine Ahnung“, ich schiele aufs Handy, aber Steffi rauscht schon aus dem Wagen und bleibt neben unserem stehen. Tom lässt die Seitenscheibe runter.
„Ich habe ins Navi Havelland eingegeben“, zwitschert sie erregt, „und das....“
„Havelland? Was soll das sein, ein Vergnügungspark?" Tom runzelt die Stirn.
"Ja, Tikkitakkaland", gibt sie ironisch zurück, "ich..."
"So heißt die ganze Region, glaube ich."
„Ich weiß das jetzt auch“, aufgeregt wirft sie die Arme in die Luft, „Aber es ist nun mal passiert.“
„Und was heißt das jetzt?“
„Dass wir das Navi neu programmieren müssen.“
„Wir sind hier eine Stunde umsonst umhergegurkt?“
„Ist doch egal“, kichere ich, „Wir haben Urlaub, und außerdem ist sie Akademikerin.“
„Ha-ha“, sie stemmt die Fäuste in die Hüften, „du doch auch.“
"Schon, aber ich sitze nicht mit noch einem im Autohoho", gackere ich.
„Okay, aber wir fahren vor", entscheidet der Nicht- Akademiker.