Von der Autobahn abgefahren brausen wir eine knappe halbe Stunde durch die brandenburgische Landschaft, die gelinde gesagt ziemlich platt ist.
Was mich nicht schreckt, denn am Niederrhein herrscht gleichwohl ein eklatanter Mangel an Bergen. Daneben wohnten wir mal vier Jahre in Dänemark, wo ich mit dem Feldstecher erkannte, wer mich übermorgen besucht.
Was hier wesentlich schöner anmutet als in Dänemark und am Niederrhein ist der Anschein von Unberührtheit.
Ja, es gibt bestellte Felder.
Weizen und Mais.
Aber mehrheitlich durchpflügt die Landstraße eine unbebaute Heidelandschaft, an deren Horizont sich Fichtenwälder abzeichnen. Gelegentlich fahren wir durch ein Dorf mit merkwürdigem Namen, und weichen selbstmordgefährdeten Vögeln aus.
Alle fünf Minuten latscht Tom auf die Bremse und flucht.
Nach fünfzehn Minuten fahren wir rechts ran, um zu gucken, ob im Wagengrill eine Vogelleiche hängt.
Hängt nicht, also weiter, aber seltsam ist es dennoch.
„So was hab‘ ich noch nie erlebt“, murmelt er, während er zurück auf die Straße lenkt.
„Lemmingvögel“, schlage ich vor und kichere.
Aber in der Tiefe meines Herzens bin ich entzückt von dem Nichts um mich herum.
Ich fühle mich geerdet, was schon was heißt, denn falls sich mal jemand meiner wenigen Leser gefragt haben sollte, wer Vorbild der von mir immer wieder gerne bemühten fiktiven Figur Gitta/Sichelgaita ist: Ich bin es.
Natürlich überspitze ich sie.
Meistens jedenfalls.
Nicht immer.
Doch jetzt komme ich runter.
„Hübsch hier“, summe ich, in den Beifahrersitz zurück gelehnt.
„Ja“, er steuerte den Wagen rumpelnd weiter, „aber Straßen wie im Wilden Westen.“
„Ist doch in Köln auch nicht anders“, wende ich zwitschernd ein, „für die deutschen Straßen braucht man einen SUV.“
„Haben wir aber nicht.“
„Ich weiß.“ Breit lächelnd, einen Arm hinterrücks die Kopfstütze umklammernd, genieße ich das Grün in allen Schattierungen um uns herum.
Irgendwann erreichen wir Plaue.
Und fahren den Bungalowboot-Hinweisschildern nach, bis wir einen Parkplatz erreichen, hinter dem wir den kleinen Hafen entdecken. Wolken jagen über den windgepeitschten Himmel und verdecken immer mal wieder die Sonne. Im nächsten Moment ist sie zurück, und grellt hinunter auf den Steg, an dem sich, gegenüber und nebeneinanderliegend, ein Hausboot an das andere reiht. Grau, blau, pink, orange-in allen möglichen Farben und Größen.
„Wie schön“, ich reiße die Wagentüre auf, hopse in den herbeigestellten Rollstuhl, zücke mein Handy und knipse den Eindruck, den ich sofort an Steffi versende.
Ohne das Gepäck zu holen, steuern der Liebste und ich die BunBo-Charterstation an, die noch nicht geöffnet ist.
Eine ganze Stunde sind wir zu früh, aber es haben sich bereits einige Gäste vor dem verschlossenen Holzhaus versammelt. Teils auf ihren mit Koffern und Taschen beladenen Bollerwagen der Anlage sitzend, wachsam alle Neuankömmlinge beäugend, auf dass sie sich nicht vordrängeln.
„Hallo!“, rufe ich freundlich in die Runde und erhalte ein Hallo zur Antwort, das stark kölsch klingt.
Immerhin.
Alle anderen schweigen, weshalb ich nicht errate, woher sie kommen, aber die Ermangelung der Fähigkeit meiner Mitmenschen, einem die Tageszeit in Grußform zu sagen, lässt mich inzwischen resigniert kalt. Ich strahle, greife seine Hand. Er lächelt zurück, mit blitzend blauen Augen.
Mein Handy plinkt.
Steffi.
Ist es da so diesig oder ist deine Linse schmutzig?
Ich betrachte mein Handy.
Linse schmutzig
Smiley.
Wir wandern zum Steg hinab, schießen ein paar Bilder und raten, welches unser Boot ist, entscheiden aber, wieder hoch zu gehen, weil alle Boote noch geputzt werden und wir nicht im Weg sein möchten.
Oben sind weitere Gäste eingetrudelt, aber von unseren Freunden keine Spur. Ich rechne ohnehin nicht vor 16 Uhr mit ihnen.
„Ich hol‘ mal das Gepäck“, Tom marschiert los zum Auto, ohne sich einen Bollerwagen zu schnappen. Typisch Mann kann ich noch denken. Der Sinn, alles Gepäck nacheinander herbeizuschleppen, um es dann erst hier in den Wagen zu hieven, mit dem es dann später zum Boot gezogen wird, erschließt sich mir nicht. Ich komme nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu denken, denn plötzlich kommt Bewegung in die Sache.
Ein hochgeschossener schlaksiger Grauhaariger mit Mundschutz stelzt herbei, einen Schlüssel gezückt, den er zielsicher gen Tür des Charterhauses richtet.
„Guten Tag zusammen“, ruft er zackig, „Und willkommen. Alle nacheinander eintreten. Immer nur zwei Personen. Mit Mundschutz!“
Ich bin geerdet, denke ich.
Das macht nichts. Das ist nun mal Preußen.
Eine rundliche Frau Mitte dreißig setzt sich mit Unterlagen in der Hand in Bewegung.
„Wir waren aber zuerst da!“, keift es von Bollerwagen Nummer eins nahe der Tür auf badensisch.
Das macht nichts, denke ich, ich bin geerdet. Wir haben Urlaub.
Die Mittdreißigerin zuckt zurück und weist mit ironischer Geste zur Tür, ohne etwas zu sagen.
Baden-Baden tritt ein.
Die Frau draußen und ich grinsen uns an.
Im Grunde müssen wir nichts sagen, instinktiv erkennen wir unsere gemeinsame Heimatstadt. Witzig eigentlich.
Im Augenwinkel schleppt mein hauseigener Hüne das Gepäck heran und hievt es in einen hellgrünen Bollerwagen, um dann nochmal zu gehen.
„Nimm den Wagen doch mit!“, schrille ich hinterher, aber es verhallt ungehört.
Mittlerweile tritt Baden-Baden aus dem Haus, in Händen einen Schlüssel am Korkenanhänger (schwimmend), zielsicher ein Boot ansteuernd. Die Mittdreißigerin tritt ein.
Da die Tür weit offen steht, lausche ich zwangsläufig dem Dialog.
„Nein, pro Boot ein Bollerwagen.“
„Aber wir haben so viel Gepäck“, wendet die Frau ein.
„Ein Bollerwagen pro Boot!“
„Aber hier stehen so viele.“
„Ein Bollerwagen pro Boot!“
„Darf ich den dann mehrmals benutzen?“
Ich lache laut auf und sehe eine irritiert steile Falte auf preußischer Stirn über dem Mundschutz. Sie dreht sich nach meinem Lachen um, wir grinsen uns breit an, und ich denke, sollte hier eine andere Rheinländerin meinen Köln-Preußen-Konflikt austragen?
Das wäre ungemein befreiend für mich.
Ich bin geerdet.
Ich habe Urlaub.
Ah, da kommt Tom. Schweiß steht auf seiner Stirn, aber ich entgegne nichts, nehme eine der beiden Zigaretten an, die er für uns anzündet.
„Ist witzig hier“, kichere ich.
„Warum?“
„Erzähl‘ ich dir gleich.“
Unterdessen zieht die Mittdreißigerin, umringt von Frau und zwei Kindern einen überladenen Bollerwagen zu irgendeinem Boot. Es geht ein Mitarbeiter vorbei, den wir freundlich grüßen und von dem wir zurückgegrüßt werden Und ein Pärchen Mitte zwanzig erledigt drinnen, bemundschutzt, den Papierkram.
„Ja, die anderen haben kurzfristig abgesagt“, höre ich aus weiblichen Mund.
„Denen fiel vier Tage vorher auf, dass sie nicht genug Geld haben“, mosert ihr Partner leicht pfälzisch.
„Kann man aber auch zu zweit fahren, oder? Das Boot?“, fragt sie.
„Die haben nur Angst vor Corona“, motzt ihr Partner.
„Ja, zu zweit geht auch. Wer macht denn den Charterschein?“, der Preuße blickt den jungen Mann erwartungsvoll an, doch der schüttelt den Kopf.
„Ich“, quietscht sie vergnügt.
„Stimmt, ist witzig hier“, gibt der Liebste zurück und haucht mir einen Kuss auf die Stirn, ehe er, mit Papieren bewaffnet, eintritt.
Dass ich draußen warte, hat weniger mit überkommenen Rollenbildern zu tun, als vielmehr mit der Tatsache, dass ich keine Lust auf den Lappen im Gesicht habe.
Als Tom wieder rauskommt, in Händen den BunBo-Schlüssel, meint er, wir müssten noch warten, weil unser Boot noch nicht sauber wäre.
„Das ist zu spät rein gekomme“, erklärt ein junger Mann, der hier arbeitet, „aber möchten sie einen Kaffee?“
„Gerne“, ich suche mir einen kleinen Holztisch mit Blick auf den Anleger. Der Wind fegt mir das Haar in die Stirn, das ich mir zur Seite streiche, „Aber haben sie auch irgendwo eine Toilette?“
„Aber klar. Kommense mit.“
Als ich zurückkehre, stehen zwei Tassen und eine Thermoskanne vor uns auf dem Tisch. Immer noch sind wir tiefenentspannt, sitzen, reden, chatten und lassen uns den warmen Wind um die Ohren pfeifen. Der Himmel ist tüchtig in Bewegung, die Wolken hetzen geradezu. Schwülwarm muss es um die 23 Grad sein, aber ein Blick auf meine Wetter-App verheißt nichts Gutes.
Egal.
Abwarten.
„Alled tschick?“
Tschick?
Tschick ist österreichisch und heißt Zigarette.
Oder ist ein Roman.
Was meint er also damit?
Wir blicken auf und entdecken einen grinsenden jungen Mann in einer Kluft, die ihn als Mitarbeiter des Unternehmens ausweist. Kurzhaarig, Vollbart mit Flechte und eine Menge Tatoos, wogegen ich null habe. Ich erwähne das nur, um ihn zu beschreiben. Aber wesentlich augenfälliger ist die Flasche Rotkäppchensekt in seiner Rechten.
„Als Entschuldigung fürs Warten“, mit einem Rumms landet die Flasche auf dem Tisch, „könnense ja heute Abend trinken.“
„Vielen Dank“, strahle ich, und auch Göga dankt und beteuert, dass das Warten uns nichts ausmacht.
Wir sind geerdet und haben Urlaub.
Wo seid ihr denn jetzt?, tippe ich an Steffi.
Jan antwortet: Stau bei Magdeburg.
„Das dauert noch. Sie haben Stau“, erläutere ich dem Liebsten.
„Macht nichts. Wir warten ja auch noch.“