unos meses después…
«Dime con quién andas, y te diré quién eres.»
Deutsches Sprichwort:
„Sage mir, mit wem du umgehst, so sage ich dir, wer du bist.“
Es gibt Dinge, an denen man arbeitet.
Es gibt Dinge, die sich nicht ändern.
Und es gibt Dinge, die einen immer wieder einholen.
Ich habe es versucht, doch mit einer normalen, klassischen Beziehung und dem dazu passenden, langweiligen Leben werde ich nicht glücklich. Ich brauche mehr. Ich brauche alles.
Ich brauche meine Freiheit, ich brauche Sex, ich brauche Abwechslung und ich brauche regelmäßige Action.
Ich liebe das Extrem.
Ohne meine Ausschweifungen fühlt sich das Leben stumpf an und mein Leben soll nicht stumpf sein, koste es, was es wolle.
Mit einem kaum hörbaren Stöhnen komme ich im Mund einer fremden Frau, die ich kurz vor dem Konzert aufgegabelt habe. Ich habe ihr Geld und auch Drogen versprochen, im Gegenzug für einen Blowjob und ihre Diskretion. Das ist nicht das erste Mal und es wird auch nicht das letzte Mal sein, dass ich das tue.
Sie macht ihren Job ausgezeichnet, ich genieße den Moment, doch er zieht leider schnell an mir vorbei. Die Frau löst sich von mir, auch ich nehme Abstand. Mit einem Handtuch mache ich meinen Intimbereich sauber. Ihr dunkelroter Lippenstift geht glücklicherweise schneller ab, als ich dachte. Sobald ich mich wieder frisch fühle, ziehe ich meine Boxershorts und auch meine Hose wieder hoch. Ich schließe meinen Gürtel, als wäre nie etwas in meinem Umkleideraum passiert.
Als ich mich umdrehe, hat sich die Fremde hingesetzt. Unsere Blicke treffen sich. Von einem Glastisch nehme ich das versprochene Tütchen Kokain und reiche es ihr. Ihre geröteten Augen sehen mich an, sie grinst etwas.
„Das Geld“, erinnert sie mich, als sie das Tütchen in ihre Tasche steckt.
Natürlich habe ich das Geld nicht vergessen, abgemacht ist abgemacht. Geschäftlich zähle ich die vereinbarte Summe ab und beuge mich zu der Frau. Mit einem Grinsen auf den Lippen stecke ich ihr das Geld in den Ausschnitt.
„Zu schade, dass das kein längerfristiges Arrangement ist“, spricht sie verführerisch.
„Tja“, entgegne ich bloß.
Während sie sich in einem Handspiegel betrachtet und ihren Lippenstift auffrischt, checke ich kurz meine Nachrichten. Ich antworte meinem marido mit einem kurzen ‚Ich liebe dich auch‘ und lege mein Smartphone wieder weg. Er weiß, dass ich um diese Uhrzeit nicht mehr viel Zeit habe, um Nachrichten zu beantworten.
Es wird Zeit, mich vorzubereiten, ich muss in einigen Minuten schon auf die Bühne treten.
Vorfreudig knie ich mich neben den Glastisch auf den Boden. Auf der Tischplatte habe ich bereits eine Line vorbereitet, die ich nun durch die Nase inhaliere. Dazu nutze ich ein kleines Papierröhrchen. Es ist nichts, worauf ich stolz bin, doch ich brauche es. Ich brauche den Kick, ich brauche die Geheimnisse, ich brauche die verdammten Lügen, um genau das Leben zu führen, das mich vollkommen erfüllt.
„Du gehst 10 Minuten nachdem ich gegangen bin“, erkläre ich der Frau auf der Couch. „Alle werden auf ihre Arbeit konzentriert sein, niemand wird mitbekommen, dass du hier warst.“
„Verstanden.“
Etwas aufgekratzt gehe ich auf und ab. Mein Blick wird von meinem eigenen Spiegelbild gefangen. Ich sehe ein verlogenes Arschloch, das jedoch alles bekommen hat, was es sich gewünscht hat.
Geld, Musik, Frauen, Männer, Drogen, Alkohol, Liebe, Familie…
Ich habe alles, was ich mir jemals erträumt hätte. Ich habe alles bekommen, was ich vom Leben wollte. Mit Ehrlichkeit und Nettigkeit hätte ich nie alles auf einmal erreicht.
Ich brauche das Extrem nicht nur, ich bin das Extrem.
Entweder alles oder nichts.
Mit einer Serviette sorge ich dafür, dass alle sichtbaren Rückstände des Kokains aus meinem Gesicht verschwinden. In ein paar Minuten geht es los, das heißt, dass ich noch Zeit für eine schnelle Zigarette habe. Die Nervosität vor dem Auftritt gehört eigentlich zum Musikerdasein, doch meine Gefühle sind gedämpft, meine Sinne sind geschärft. So funktioniere ich am besten. So habe ich immer schon am besten funktioniert.
Ich bin mir fast sicher, dass Calum es weiß.
Sollte er es allerdings nicht wissen, ist alles vollkommen in Ordnung.
Sollte er es wissen und hinnehmen, wäre es sogar noch besser.
Es ist nicht so, als hätte ich es nicht versucht. Ich habe es versucht. Mit allen mir verfügbaren Mitteln habe ich versucht ein besserer, ein guter Mensch und treuer Ehemann zu sein, doch es hat nicht funktioniert. Calum hat viele gute Seiten in mir geweckt, doch es reicht mir nicht, eine glückliche Familie zu haben. Er wird es nie verstehen.
Es ist gut, dass Calum für so viele Dinge blind ist. Ich habe gelogen, ihn betrogen, bei Yoba, ich habe sogar mit seinem Cousin geschlafen und er hat mir geglaubt, als ich ihm ins Gesicht gelogen habe, um meinen eigenen Arsch zu retten.
Ich verstehe nicht, wieso er sich das alles gefallen lässt. Wahrscheinlich ist er von mir genauso abhängig wie ich von ihm. Wir brauchen einander, auch wenn wir uns nicht gut tun. Ich bin sicher, dass auch er es spürt, so wie ich es an ihm wahrnehme. Ich bin nicht der einzige, der etwas versteckt. Schon viel zu oft ist es vorgekommen, dass Calum sich mit seinem Smartphone verdrückt hat. Das ehrliche, zufriedene Lächeln, das er auf den Lippen trägt, sobald er eine Nachricht bekommt, ist verdächtig. Wahrscheinlich hat er sich mittlerweile einen Kerl gesucht, der ihm das gibt, was ich ihm nicht geben kann. Vermutlich ist es für uns alle das Beste, wenn wir einander diesen Freiraum geben und schweigend genießen.
Anstatt meiner Familie begleiten mich an diesem Abend eine Zigarette und ein Drink die letzten Minuten vor der Show. Ein abschließender, prüfender Blick in mein Gesicht zeigt mir, dass ich bereit bin. Meine Wertsachen sperre ich weg. Der Nutte, die ich hier zurücklasse, traue ich keinen Meter über den Weg.
Bereit für unseren Auftritt begebe ich mich zu meinen Bandkollegen. Jeder Schritt in dem langen Gang fühlt sich richtig an.
Ich grinse. Jaysons Schwester July bekommt ein Kompliment für ihren perfekten, knackigen Hintern. Sie lacht und schubst mich etwas.
„Du bist ein Idiot“, beleidigt sie mich schmunzelnd. „Aber trotzdem danke.“
„De nada, mi guapa.“
Alles um mich herum ist etwas gedämpft, aber dennoch wahnsinnig laut und dröhnend. Ich bin high, so verdammt high und ich liebe es.
Während ich alles um mich herum aufmerksam beobachte, werde ich verkabelt. Normalerweise sollte das längst erledigt sein, aber ich kann die Crew ja schlecht an mir rumfummeln lassen, während eine Nutte an meinem Schwanz lutscht.
Jayson holt sich eine innige Umarmung von seiner Schwester. Stolz macht July noch ein Foto von ihrem großen Bruder. Jayson zeigt seine Zunge und formt mit seinen Fingern ein Peace-Zeichen. Die beiden lachen, als July ihm das Foto präsentiert. Sie posieren für ein Selfie, die beiden sehen glücklich aus.
Max bekommt einen intensiven Kuss seines Mannes. Er soll ihm Glück bringen. Sebastian fällt es schwer von Max’ Lippen abzulassen. Mit einem breiten Lächeln schlingt das Zuckerstück seine Arme um den Brustkorb von Max. Auch sie wirken mehr als glücklich, doch das tun die beiden Turteltäubchen so gut wie immer, wenn sie zusammen sind. Sie sind füreinander geschaffen.
Selbst die zwei Statisten, der Bassist und der Drummer haben jemanden, der ihnen viel Spaß und Glück wünscht.
Ich bin der einzige der Band, der heute niemanden hier hat. Mein marido wartet mit den Kindern und dem Hund im Hotel, denn Cassie ist ein wenig erkältet. Ich wollte nicht, dass sie heute hier ist, meine Tochter braucht Ruhe und die kann eine volle Halle nicht bieten.
Außerdem habe ich auch etwas davon, wenn ich Zeit für mich habe.
„Trevor, ist alles okay?“, fragt Max mich. Er klopft mir auf die Schulter. „Du bist so ruhig und… du siehst ein bisschen blass aus.“
„Alles okay, ich hab nur grade an Cassie gedacht“, antworte ich ihm.
„Geht’s ihr schon besser?“, erkundigt Max sich, worauf ich mit den Schultern zucke.
„Ich weiß nicht genau. Die Kinder sind schon im Bett. Ich schätze aber schon, sonst hätte Calum etwas gesagt.“
„Beneidenswert“, scherzt Max grinsend. „Nach der Show werde ich wie ein Stein ins Bett fallen und sofort ins Land der Träume sinken.“
„Du wirst dich noch ein wenig gedulden müssen, bevor du ins Bett kommst“, antworte ich grinsend. Meine verschwitzten Hände wische ich unbemerkt an meiner Hose ab. Wenn es hinter der Bühne schon so heiß ist, wie heiß wird es dann erst im Scheinwerferlicht sein?
Max umarmt Sebastian noch einmal fest, schon müssen wir uns in Position begeben.
Etwas gebückt mache ich mich unter der Bühne auf den Weg in die Halle. Das Schreien der Menge ist nicht zu überhören. Mein Herz schlägt schneller, ich platze beinahe vor Vorfreude. Von einem Crewmitglied bekomme ich meine Gitarre. Ich begebe mich auf die kleine Plattform, die mich nach oben transportiert. Für einen Moment schließe ich die Augen. Die Schreie der Fans werden immer lauter, ich spüre sie in meinem gesamten Körper. Ich bekomme Gänsehaut. Mein Herz schlägt wie wild. Das Adrenalin rauscht durch meinen Körper. In wenigen Sekunden ist es so weit.
Als ich meine Augen wieder öffne, stehe ich auf der Bühne. Um mich herum ist Rauch, der sich nach und nach erst verdichtet und dann langsam auflöst. Die Fans machen durch Lichter auf sich aufmerksam. Überall in den Rängen erblicke ich die zahlreichen, strahlenden Lichter der Smartphones. Der Anblick bringt mich immer wieder zum Staunen. Es ist atemberaubend.
Der Schlagzeuger gibt den Takt an. Ich lege meine Finger an meine Gitarre, doch ich verpasse meinen Einsatz. Meine Hände rühren sich nicht. Mir ist plötzlich etwas schwindelig, ich verliere das Gefühl in meinen Armen und Beinen. Das Gleichgewicht zu bewahren fällt mir immer schwerer, ich schwanke etwas. Mir wird schwarz vor Augen, als ich auf dem Boden aufpralle. Ich spüre mein Herz aufgeregt gegen meinen Brustkorb hämmern, doch dann setzt es plötzlich aus. Ich bekomme keine Luft mehr.
Alles um mich herum ist dunkel, es ist nicht nur dunkel, sondern vollkommen still. Ich habe das Gefühl immer noch zu fallen, doch ich bin sicher, dass ich mich keinen Millimeter mehr rühre. Ich versuche meine Finger zu bewegen, versuche festen Halt zu ertasten, doch ich bin vollkommen starr.
Alles, was ich spüre ist Angst, Angst wie ich sie noch nie zuvor verspürt habe. Es fühlt sich an, als würde ich von der Atmosphäre um mich herum regelrecht zerdrückt werden. Das Gewicht um mich herum wird erst schwerer, dann leichter und immer leichter. Auch mein gesamter Körper fühlt sich mit einem Mal vollkommen anders an.
Ich öffne den Mund und schnappe nach Luft, als würde ich aus einem tiefen Schlaf hochschrecken. Mein nächster Atemzug fühlt sich anders an als gewohnt. Ich rieche Salz. Erst bin ich etwas verwirrt, doch dann bin ich sicher, dass ich das Rauschen des Meeres wahrnehme. Ich spüre eine sanfte Brise und den Sand unter meinen Fingern und Beinen.
Ich liege am Strand…
Die Sonne wärmt meine Haut…
Um zu testen, ob ich meine Bewegungsfreiheit zurückgewonnen habe, balle ich meine Hand zu einer Faust. Ich hebe sie aus dem Sand und reibe einige Körner zwischen meinen Fingern. Die Sandkörner rieseln meinen Unterarm entlang, sie kitzeln meine Haut, doch irgendetwas scheint nicht zu stimmen. Ich kann die Veränderung nicht ganz zuordnen, doch sie beunruhigt mich nicht. Ganz im Gegenteil, mein Körper und auch mein Geist fühlen sich ausgeruht und vollkommen ausgeglichen an. Für dieses Gefühl gibt es nichts Vergleichbares. Jedes High und jeder verdammte Orgasmus sind ein Witz dagegen. Noch nie habe ich mich so gut, zufrieden und entspannt gefühlt, wie in diesem Moment. Das hier ist alles, nach dem ich mich schon immer gesehnt habe.
Ich spüre das warme Meer an meinen nackten Füßen. Mich überkommt das Gefühl endlich vollkommen mit mir im Einklang zu sein.
Als sich ein Schatten über mir bildet, öffne ich die Augen. Das Gesicht, das ich erblicke, ist etwas besorgt, doch die verzogenen Lippen weichen schnell einem ehrlichen Lächeln.
„Du bist zu früh, Luciel.“
„Eigentlich bin ich zehn Jahre zu spät…“
Mein abuelo reicht mir die Hand, um mir aufzuhelfen. Ich zögere keine Sekunde, sondern greife sofort zu.
Schweigend spazieren wir die Küste entlang. Über uns fliegen einige Möwen, ihre Rufe begleiten uns auf unserem Weg. In der Ferne kann ich das Strandhaus meiner Großeltern erkennen. Ich nehme an, dass das unser Ziel ist, sicher bin ich mir jedoch nicht.
Mit jedem Schritt wird mir klarer, dass ich schon einmal hier war. Es war nur für wenige Sekunden, aber ich bin sicher, dass ich mich an dieses Gefühl erinnere. Ich hatte diesen überwältigenden Frieden vollkommen vergessen, als ich wieder im Krankenhaus aufgewacht bin. Seit diesem Tag hat mir etwas gefehlt und erst jetzt begreife ich, was es wirklich war.
Damals war es vielleicht zu früh. Damals hatte ich noch etwas Zeit, doch dieses Mal wird mich niemand zurückholen, da bin ich mir sicher…