Ihre Nervenenden brannten, ihr Körper versenkte sich selbst. Schweiß trat aus, ihre Haut wurde heiß und kalt zugleich. Ihre Augen verdrehten sich gefährlich nach oben, während diese Kopfschmerzen überhandnahmen und der Kopf zu platzen drohte. Doch nur die Finger krampften sich in den Stoff der Kleidung, ihre Atemzüge wurde hektischer.
„Ich bitte dich doch nur um einen kleinen Gefallen, meine Liebe“, stöhnte der Mann genervt vor ihr auf. Doch diese Stimme hörte sie nur am Rande ihrer Wahrnehmung. Hinas Körper gehorchte ihr nicht mehr, und doch zwang ihr Wille diese Schmerzen nieder. Sie biss sich auf die Lippe und je stärker sich ihre Nerven nach Erlösung sehnten, desto mehr übte sie Druck auf ihre Lippe aus. Desto mehr sich der Kiefer verspannte, je eher bekam sie von ihrer Außenwelt etwas mit. Schließlich sogar, als neben ihr eine besorgte Frau nach ihrem Befinden fragte.
So schnell wie dies kam, so verblasste der Moment auch. Keine zwei Sekunden, dann war er vorbei. Doch sie atmete hektisch. Hina saß da, wie vorhin, gegen die Lehne gesunken und wirkte erschöpft. Doch das lag nicht an dem gewohnten Schmerz, der ihr bei Ungehorsam zugefügt wurde. Nein, es war das Verstecken der verursachten Schmerzen. Hina wollte ihm diese Genugtuung nicht gönnen, wie er sie kontrollierte. Und das Einzige, was ihr eingefallen war, war, dass sie ihm nicht zeigte, wie schmerzhaft diese ständigen Elektroschocks waren. Wie sehr sie weh taten. Wie sehr sie bei jedem neuen Bestätigen des Auslösers immer stärker ihren Körper beanspruchten.
„Bist du so lieb und hörst mich an?“, fragte er sie. Er wartete nicht auf ihre Zustimmung, auf ihre Worte, sondern fing einfach an.
„Es gibt jemanden, der mich ein wenig geärgert hat.“ Allein dieser Satz sorgte schon dafür, dass ihre Alarmglocken schrillten. Es gab keinen, der dumm genug war, sich mit ihm, Dr. Jack Phineas Mors, anzulegen. „Und den suche ich. Die üblichen Methoden haben mich nicht zu ihm gebracht. Und da meine Männer ihn nicht finden konnten, habe ich an meine liebe Tochter gedacht.“ Schelmisch grinste er, als ihre Talente angesprochen wurden. So nannte er ihre besonderen Fähigkeiten, die sie sich selbst nicht erklären konnte. Sie nickte nur einmal langsam. Was man in dieser einen Bewegung interpretieren konnte, überließ sie ihrem Gesprächspartner. War es Verständnis, Gehorsam, Missmut oder Abscheu. Er führte zwar einen Monolog, dumm war er dennoch nicht. Er war ignorant und streng, ein Kontrollfreak eben. Aber ihre Gefühle konnte er ihr nicht nehmen. Daher verschloss sie diese in einem inneren Tresor, sodass der Blick der jungen Dame teilnahmslos und neutral wirkte.
„Sehr schön.“ Er meinte also Zustimmung gelesen zu haben. Innerlich lächelte sie. Natürlich würde sie ihn nicht hier überwältigen können, aber dass nur zwei statt seiner üblich zehn Bodyguards anwesend waren, zeigte ihr, dass er die Station und auch das Treffen auf die leichte Schulter nahm. Er konnte ihr so viele Schmerzen zufügen, wie er wollte. Ihren Willen würde er niemals brechen.
Ein brauner Briefumschlag mit der Aufschrift Project 452-Jg-2020 wurde zu ihr rübergeschoben. Sie blickte den Inhalt nicht an, sondern wartete, bis er aufgestanden war und sich seinen Mantel richtete. Hina errechnete sich die Zeit und ihre Chancen. Zehn Minuten, dann würde er an der schwarzen Limousine sein. Dieses Zeitfenster reichte ihr, um ihn und seine Männer zu erledigen.
„Bevor ich es vergesse.“ Er drehte sich nochmal um und lächelte träge. „Nimm diesen Auftrag ernst. Es ist wichtig, diese Person zu finden. Und wir wollen doch nicht, dass uns das nicht gelingt, richtig?“ Er wartete keine Antwort ab, sondern schlenderte an der Kasse vorbei hinaus ins triste Wetter.
Es vergingen einige Minuten, bis Hina den Umschlag erneut betrachtete und das Datum erkannte. Letztes Jahr. Eine Person? Sie wusste, dass ihr Vater nicht nur mit seiner eigenen Tochter seine Spielchen getrieben hatte, sondern auch andere unscheinbare Menschen der Gesellschaft entführt hatte und nun gefangen hielt. Genexperimente, das Verabreichen von selbstentwickelten Psychopharmaka, anschließende Tests und natürlich Folter bei Ungehorsamkeit. Hina war einer der wenigen, die sich behaupten konnten. Und einer der wenigen, die überhaupt überlebt hatten.
Sie schaute auf die Uhr. Wenn sie schnell war, würde sie ihren Vater noch erwischen und ihm alles heimzahlen können. Und doch blieb sie sitzen. Unbeteiligt starrte sie das Stück Papier vor sich nieder, bis sie sich traute ihn zu öffnen.
Zwei Minuten noch. Er war auf dem Weg zum Fahrzeug. Sie konnte ihn erwischen, töten, das Leiden ein Ende bereiten. Ihrem Hass endlich Ausdruck verleihen.
Doch wie zu erwarten hatte er vorgesorgt. Das erste, das ihr in den Schoß fiel war ein Bild einer Ostsiatin, die an den Tresen einer Metzgerei Kunden bediente. Das freundliche Lächeln richtete sich nicht in die Kamera. Also wurde das heimliche Foto ihrer Mutter während ihrer Arbeit geschossen. Er beobachtete sie und ihr Leben. Sie wusste, Dr. Mors würde seine eigene Frau, vermutlich eher Ex-Frau, umbringen, nur um sein Ziel zu erreichen.
Einzelne Tränen der Gewissheit sammelten sich und rannen ihre Wangen hinunter. Wann hatte dieses Leid nur ein Ende?
Warum konnte sie nicht wie jedes andere Kind fröhlich sein, spielen, Wundertüten am Schwimmbad erhalten und Geschenke zu Weihnachten? Sich mittags nach der Schule mit Freunden treffen und Hausaufgaben machen? Nein, Hina hatte andere Dinge gelernt. Sie schluckte also alles, was in ihr hoch kam hinunter. Das schwere Gefühl im Magen, das ihr mittlerweile ein stetiger Begleiter zu sein schien wie auch ewige Kopfschmerzen der unterdrückten Gefühle. Also stand sie auf und ging hinaus in die kühle, kalte Welt.
Eine Welt, die ihrem Herzen glich.