Die Atemwolken wurden durch die Dunkelheit verschluckt. Eins, zwei Sekunden, dann verschwanden die hellen Schattierungen in der Schwärze. Es roch so nach Kellerfeuchte und Schimmel, dass Hina sich nicht mehr daran erinnern konnte, wie sich frische Luft anfühlte. Irgendwo huschte eine Ratte durch die Stäbe und quiekte, als würde sie mit Hina kommunizieren wollen. Diese sah an die Decke und zählte die Zellenstäbe, fühlte die Kühle des Metalls und schließlich die einzelnen Steine, die die Feuchtigkeit von draußen nicht zurückhielten.
Wie viel Zeit vergangen war, wollte Hina nicht wissen. Sie wusste, es wäre Zeitverschwendung, würde sie ihre Zweifel hinausschreien. Selbst Tränen konnten nicht mehr geweint werden, wenn die schreckliche Einsamkeit einen nach und nach einholte. Sie tat einfach nichts. In der Ecke sitzen, starr den Raum anschauen, dessen unterschiedliche Schattierungen sich voneinander abhoben und es ihr erlaubten, die Orientierung nicht zu verlieren. Den Kampf gegen ihren Vater würde sie verlieren, denn sie stand unter seiner Kontrolle. Widerstand hätte schlimme Qualen zur Folge, die sie bereits in der Vergangenheit zu genüge hatte erleiden müssen. Egal wie sehr sie sich als Kind gegen diese Behandlungen gesträubt hatte, wenn sie nicht das tat, was ihr Vater wollte, erfand er eine neue Lösung, sie gefügig zu machen. Zunächst mit Folter, dann mit stundenlangem Training. Dann mit Ausharren in unendlicher Kälter oder sengender Hitze. Bis er ihre Sturheit derart verabscheute, dass er diese Nanotbots erfand. Woher immer dieser plötzliche Einfall auch immer kam, Dr. Mors schaffte es, sie so wie ein wildes Tier im Käfig zu halten. Und sie blieb.
Du musst nur hinaus, liebes Kind. Die Tür steht offen.
Wenn stundenlange Einsamkeit herrschte und Beschäftigung fehlte, dachte der Mensch nach. Doch nicht über ihr Leben und ihre Fehler machte sich Hina einen Kopf. Auch nicht, was sie alles machen könnte, wenn sie nicht mehr in den Fängen ihres Vaters wäre oder was dieser unbekannte Krieger wohl für eine Person ist. Nein. Die Stimme in ihrem Inneren horchte der Stille und es glich einem Hall, wenn sie auftauchte. Ihr Schatten machte sich bemerkbar. Also kniff sie sich immer wieder in die Wade oder anderen Stellen, damit Schmerz die Stimme verbannte. Irgendwann wollte sie sich aber nicht mehr verdrängen lassen.
Die Welt steht dir offen, wenn du es wünschst.
Wie Nebel umschloss der Schatten ihren Geist und lockte sie in die Dunkelheit, aus welcher er gekommen war. Hina warf den Kopf nach hinten, der Stoß hallte dumpf in ihren Ohren. Keiner würde kommen und nach ihr sehen. Doch auch würde Hina sicher nicht einfach aufstehen und nach draußen laufen.
„Wenn ich gehe, wird er mich bestrafen.“ Das eigene Krächzen aus der trockenen Kehle klang viel zu laut für ihre Ohren.
Sicher? Du hast einen mächtigen Gegner fast bezwungen und willst mir sagen, dass dich Eisenstangen an einen Ort binden? Oh weh, mein liebes Kind. Ich könnte dir meine Macht schenken, dann wären wir frei.
Es klang nicht nur verlockend. Hina würde sich am liebsten mit offenen Armen auf dieses Angebot werfen. Doch dann wäre das Ergebnis irgendwann das gleiche.
„Nein“, kam die bloße Antwort. Die Kontrolle über ihren Schatten zu wahren war Hina nur unter Schmerzen und reinem eisernen Willen möglich. Und genau diesen Zustand wollte Jack herbeirufen, wenn sie nicht die Kraft hatte, sich gegen ihren inneren Dämon und dem Willen ihres Vaters zu stemmen. Mithilfe der kleinen Bots würde er ihren Zorn entfachen, der Schatten würde hereinbrechen und ihr Erzeuger hätte nicht nur einen Kämpfer, der ihm zu eigen war, wenn sie es wollte, sondern auch wäre die Hina, wie sie sich kannte, nur noch ein Hauch von Nichts. Je mehr sie die Kontrolle über sich selbst aufgab, desto mehr wurde sie unter dem Schatten vergraben, der sich immer noch schleichend um sie wand.
Dann würdest du dem Wind lauschen, die Natur bewundern und tun, was immer dir beliebt. Deine Sinne erleben Dinge, die du zuvor niemals erlebt hast. Du kannst die Welt bereisen und noch mehr…
Wie toll wäre eine Freiheit wohl? Wenn Hina sich es überlegte, sehnte sie sich danach. Augenblicklich wurde ein Bild in ihrem Kopf fast schon Realität, wie sie die Arme ausbreitend an einem Hang stand und auf das offene Meer hinausstarrte. Ein Schiff an einer Hafenstadt wartete auf ihre Ankunft, um endlich ablegen zu können und die Besatzung würde ihr Geschichten der großen weiten Welt erzählen. Und in einer Kombüse wären Speisen aufgetischt, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Und an diesem Tisch säßen Menschen, die sie anlächelten. Die auf sie warteten und sie in die Arme schloss, wenn es ihr nicht gut ging. Die ihre Freunde waren. Ihr ein Zuhause boten.
Hinas Kehle wurde trocken, als doch stumme Tränen an der Wange hinabliefen.
Zuhause? Welch ein tolles Wort. Du musst mich nur lassen, dann können wir die Fesseln zerstören und die einzige Hürde überwinden, die dich daran hemmt, diese Heimat zu erreichen.
Die wohlige Atmosphäre in ihrem Kopf wurde düsterer und verschlang sie, als sich ihr sehnlichster Wunsch in ihrem Kopf etablierte.
Erfreulich, nicht wahr? , flüsterte jemand in Ohr. Wie wundervoll es wohl wäre, die letzte Kette in deinem Inneren zu zerreißen und dich deinem Verlangen hinzugeben.
Hina musste aufkeuchen, als sie das Bild fast spüren konnte. Vor ihr machte sich ein dunkler Raum auf, doch die Örtlichkeit war nicht von Belang. Viel interessanter war der Leib, der sich vor ihr aufmachte. Ein schwarzer Anzug, befleckt mit roter Flüssigkeit. Er lag auf dem Bauch, die klaffende Wunde am Rücken durchbrach seine gesamten Körper, sodass jeglicher Inhalt achtlos auf dem Boden zerstreut vor ihr lag. Langsam breitete sich das Blut auf den Steinen aus und bestätigte ihr, dass sie ihren Vater ermordet hatte.
Das Bild war so erschreckend und lieblich zugleich, dass Hina in ihrer Zelle aufsprang und ihre Faust gegen die Wand schlug. Durch die Wucht brachen einige Steine auseinander und rissen, doch die Wand hielt und war stabil genug, um ihrem Zorn Herr zu werden.
Die Stille schlug über sie ein wie eine meterhohe Welle, das der stockende Atem in der Kammer zu hören war. Ihr Schatten hatte sich zurückgezogen und überließ es ihren tosenden Gedanken, dass Richtige zu tun. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und ihre aufkommende Kraft entwich ihren Gliedern, als Hina sich langsam setzt und sie Hände über den Kopf zusammenschlug. Doch nicht das Bild ihres toten Vaters erschreckte sie.
Die augenblickliche Einsamkeit und aufkommende Verzweiflung, ihre Kontrolle und den Verstand langsam und stetig zu verlieren: Das machte Hina rasend. Das würde ihr den Rest geben.