Eigentlich hätte Hina schreien müssen, so sehr überraschte es sie, einen Werwolf hinter sich gehabt zu haben. Törichterweise war sie zu schwach gewesen, um solche irrealen Geschöpfe aufspüren zu können, doch diese neue Kraft überwältige Hina so sehr, dass sie erst einmal damit klarkommen musste.Ihre Sinne breiteten sich im Raum automatisch aus und durchsuchten jede Ecke nach Unbekannten, Gefahren oder solche Dinge, die für Hina interessant schienen. Solche, wie zerbrochene Kolben, kaputte Bildschirme oder Festplatten, die noch ein wenig vor sich hin surrten, waren ihr bekannt, doch Thiana bedachte diese Gegenstände mit skeptischem Blick, während die Aufmerksamkeit ihrer neuen Hälfte im Kopf auch auf den akuten Feind gerichtet war.
„Ich übernehme“, warnte Thiana, ohne, dass Hina ihre Zustimmung geben musste. Ihre Gedanken waren die der Göttin und anders rum. Überwältigt von so viel Wissen und Neuem waren beide zunächst geistig getrennt, doch je mehr Sekunden verstrichen, desto eher schienen sich die beiden Frauen aufeinander abstimmen zu können. Die telepathisch Begabte im Raum kontrollierte die Gliedmaßen Hinas, während diese immer noch mit der Tatsache klarkommen musste, ein fremdes Wesen in sich aufgenommen zu haben. Doch andrerseits nutzte sie auch die Chance, um ihrem Geist ein wenig Ruhe gönnen zu können. Immer mit einem offenen Auge dabei sah sie zu, wie die Schwertscheide in die Linke genommen wurde und sie selbst leicht in die Knie ging. Sie spürte den harten Griff, den Thiana bei Gladius Klinge anwandte, wobei das Metall in der nächsten Sekunde ihre Augen blendete und nur noch ein Jaulen mitsamt sterbendem Winseln zu hören war.
Hina wusste aus Erfahrung, dass bestimmte Wolfsgruppen nicht empfänglich waren für magische Angriffe oder einfache Waffen. Auch Fenriswölfe gehörten zu den besseren Soldaten. Ihr Vaqter hielt sich allerdings auch Gestaltenwandler, die Werwölfe waren. Sie waren durchaus dümmer, aber größer und schneller, als ihre Artgenossen. Es glich einem Wunder, dass ein einziger Schwerthieb den Leib sofort durchdrängt hatte.
„Wieso blutet er nicht?“, fragte Hina sich sofort, als sie das bekannte Rot auf den Metallboden suchte. Ihre Lippen bewegten sich auf ihre Frage hin, während aus dem gleichen Hund die Antwort folgte.
„Das Schwert ist keine Waffe“, erwiderte Thiana nur und bedachte ihren Weitblick. Diese Eigenschaft, alles um sich herum zu spüren, war wahrlich erschreckend und faszinierend zugleich. Doch auch hilfreich. Werwölfe waren keine Einzelgänger. Das wusste Hina, und damit auch Thiana. Deshalb suchte sie geistesabwesend nach den anderen Werwölfen, während Hina die Erinnerungen der Göttin verarbeitete, die sich nach und nach in ihr breitmachten. Es überforderte sie und dennoch fokussierte sich ihr Blick auf ihre Umgebung.
Wie bereits vermutet umkreisten die anderen Wesen das Mädchen, während sie nun im Zentrum stand. Wie eine Wärmebildkamera sah und spürte Hina dessen Herzschläge und hörte ihr Knurren. Bei einer geschätzten Entfernung von ca. zehn Metern versteckten sich diese Kreaturen in den Schatten und warteten, bis die Dunkelheit sich über den Raum legte. Der Sonnenuntergang wartete nicht mehr lang, und Hina zweifelte an ihren Kräften, auch ihren Schatten dann noch bändigen zu können.
Die augenblicklich auftauchende Kralle hinter ihr verschwand in Schemen und verwandelte sich in Jaulen. Ein Zweiter griff an, während Thiana wie selbstverständlich sich drehte, fast schon tanzte, während die Spitze in den Körper ragte. Hina erwartete einen Schwall Blut sehen zu können, doch in dem Moment, als die Klinge den Körper durchstieß, riss der Wolf die viel zu menschlichen Augen auf und kreischte umher. Thiana konnte aufgrund der feinen Ohren dieses Gebrüll nicht ertragen und köpfte den Wolf augenblicklich. Doch es wurden immer mehr Gegner, und allein würde Hina dies nie schaffen, die Flucht zu ergreifen bevor es dunkel wurde.
Thiana dagegen schwieg, sah sich um und rannte auf einen Aktenschrank zu. Die Höhe von zwei Metern wirkte für Hina wie eine unüberwindbare Mauer. Doch umso mehr riss sie selbst die Augen auf, als Thiana mit ihrem kleinen Körper in die Knie ging und geschmeidig auf dem Schrank landete. Zwei kleine Mulden waren dort zu sehen, wo Hina mit ihren Füßen aufgekommen war. Doch ihr blieb keine Zeit, diese Anmut zu bewundern, die Thiana an den Tag legte. Die Göttin drehte sich um, murmelte etwas in einer Sprache, die Hina kannte und dennoch nicht verstand. Das Schwert leuchtete golden auf, nachdem die Worte ausgesprochen waren. Hinas Nackenhaare stellten sich auf und ihr Arm durchlief ein Zittern, während gleichzeitig das Leuchten auf die gesamte Waffe überging. Mit einer Wucht, die Hina selbst in ihren besten Tagen nicht aus sich herausholen könnte, schmiss die Klinge einen Hieb, der ebenso golden leuchtete wie die Klinge selbst, dem nächstbesten Angreifer entgegen. Weitere folgten und je schneller die Schulter sich bewegte, desto mehr Schmerzen durchschoss den menschlichen Körper. Hina biss die Zähne zusammen, während Thiana fluchte und sich auch ihrer Schwäche bewusstwurde. Ihr Gefäß war nicht stark genug.
Dennoch reichte es, die umliegenden Angreifer niederzustrecken und den Sieg zu erringen. Keuchend schlug Thiana ein letztes Mal mit der Klinge durch das Nichts, während Hina allmählich wieder die Kontrolle über ihren Körper und den Verstand erlangte. Die Göttin wirkte ebenso geschwächt wie Hina. Dennoch war der Mensch in ihr Willens genug und stur obendrein, nicht ohnmächtig von dem Schrank zu fallen. Ein wenig unbeholfen kletterte die junge Frau auf den Boden und betrachtete die nun ausblutenden Wesen.
„Wieso bluten sie nun doch?“ Diese Tatsache erschien ihr unlogisch. Doch Zeit war nicht über umschweifende Antworten. Hina machte kehrte, dankte im Stillen für ihr Glück und rannte aus dem Raum.
Während sich Hina einen Weg durch das Labyrinth bahnte und versuchte, sich zu orientieren, redete Thiana mit ihr und versuchte, den Kampf zu erklären. Es glückte, denn Hina wurde durch die tausenden von Fragen nicht überfordert, hatte etwas zum Reden und gleichzeitig verhalf es ihr, nicht hier und jetzt aufgrund der Unmenge an Kraftverbrauch zusammenzufallen.
„Diese Wesen bluten nur, wenn Gladius nicht hungrig ist.“
„Wer zum Teufel ist Gladius?“, keuchte Hina mit lauter Stimme, die in ihren Ohren hallte. Es wirkte zu still und gleichzeitig zu laut.
„Es ist ein Estayaner, so wie ich.“ Diese Antwort war ebenso fragwürdig wie unnütz.
„Esta- was?“, rief Hina in den leeren Gang hinein. Diese ewige Konzentration zwischen einem Gespräch, ihrer fehlenden Orientierung und der ganzen Situation wirkten sich auf ihren Verstand ein. Es war es wirklich ein Rätsel, wieso sie immer noch niemanden fand und gleichzeitig der Überzeugung war, dass es hier viel zu voll wirkte. Ein stechender Magenschmerz bahnte sich an. Und das hieß, dass ihre Intuition sie zur Vorsicht mahnte.
„Estayan“, meldete sich Thiana im Geist, die langsam wieder die Kontrolle des Körpers forderte. Doch der Sturkopf in ihr weigerte sich, sie abzugeben. Nun wollte Hina beweisen, was sie konnte. Mit zusammengeballten Fäusten hielt sie an einer Kreuzung an, sah nach links und rechts und fragte sich nun: Wohin?
„Estayan, ein Land außerhalb deiner Vorstellung“, ein Bild voller saftiger Pflanzen, leuchtenden Tieren, sanft blauem Himmel und Weiterem tauchte in Hinas Verstand auf, als wäre sie schon einmal dort gewesen. Das vertraute Heimatgefühl erfüllte ihren Geist, wirbelte allerdings ihre verworrenen Gefühle auf. So warm und herzlich wirkte die Sonne, wie sie auf die ebnen Landschaft voller kleiner Häuser, weiten Feldern und Bäume so groß wie zehn Häuser strahlte. Friedlich und wohlig umschloss diese Erinnerung ihren Geist, während ihr anderer Teil, ihr dunkles Ich, dachte, dass dies niemals real sein wird. Das Bild nahm sie ein und gleichzeitig stieß ihr Schatten dieses ab wir Gift.
Strauchelnd kam Hina zum Stehen, keuchte und verbannte diese Bilder aus den Erinnerungen.
„Ich glaube nicht daran!“, schrie sie, während ihr Verstand nicht mehr wusste, was gut und böse war. Richtig oder falsch. So zerrissen und wieder zusammengefügt hatte sie sich noch hie gefühlt.
„Aber ich“, flüsterte jemand hinter ihr.