Thiana lachte nicht spöttisch auf. Irgendwie hätte Hina vermutet, dass sie ausgelacht werden würde, wenn sie ein Gewehr auf eine telepathisch begabte Frau richtete. Wirklich komisch war es auch, dass seit Beginn des Gesprächs sich die Ruhe immer noch ausweitete. Entweder war der Showdown irgendwo anders, wodurch Hina es durch ihre scharfen Sinne, die viel feiner und genauer waren als die eines gewöhnlichen Menschen, oder ihrem fünften Sinn, der ihr praktisch alle Form der Magie spüren ließ, hätte erkennen müssen, oder jeder war hier tot. Nur dann wäre die Frage, wo derjenige oder das Etwas war, der alle in diesem Unterwassergefängnis in den Himmel geschickte hätte.
Über diese Theorien bekam Hina tatsächlich ein kleiner Lacher in die Gedanken geschossen. So melodisch ihre Stimme war, so trotzig wirkte dieses leise Kichern nun.
„Es sind nicht alle tot. Nur Dhiandar und dieser dunkle Mann sind hier. Und ein paar Tiere, die er hier hält.“ Hina horchte auf, doch sagte nichts dazu. Antworten würden sie später bekommen, wenn sie hier draußen war. Lebendig. Im besten Fall.
„Ich muss dir noch etwas sagen“, flüsterte die Göttin in Hinas Ohr, während sie sich umsah und ihre Sinne ausstreckte. Ihre Reichweite war wirklich begrenzt oder ihr Vater hatte gelernt sich zu verstecken. Und Dhiandar, wie wohl der Krieger wohl hieß, hatte ebenfalls unbekannte Eigenschaften. Nervös krallten sich die Finger um das mittlerweile durch die schwitzigen Hände warme Metall und Plastik, das Hina vor Übernatürlichem schützen soll, während sie Thianas Stimme lauschte. Ihr Herz raste durchgehend, während sich der Körper auf einen Ruhemodus einzustellen versuchte, den Hina vehement unterdrückte.
„Ich kann meinen Geist auf deinen übertragen, aber durch deine Sterblichkeit bin ich mir nicht sicher, ob du dem Stand halten kannst. Ich würde dich sonst verschlingen und dein Ich, wie du es kennen würdest, wäre nimmermehr.“
„Was hindert dich daran, mich nicht einfach wie einen toten Fisch auszunehmen und herumzuspazieren, während mein Geist sabbernd zusieht?“ Der Sarkasmus war nicht zu überhören, doch mehr Humor konnte Hina sich nicht erlauben. Immerhin besser als keuchend in einer Ecke zu liegen oder weinend am Boden zu winseln. Während Thiana wohl mit ihrer Antwort zögerte, konnte Hina bereits nicht mehr glauben, dass diese Stille willkürlich war.
„Wir müssen verschwinden“, beschloss sie, nahm die Waffe und schnallte sie dich mit Hilfe des Bands am Riemen um die Schultern. Danach zog sie das Schwert fester um ihre Hüfte. Irgendwie wirkte die Klinge vertraut, als wäre der Krieger vor ihr, der sie mit diesem intensiven Blick bei ihrer ersten Begegnung angesehen hatte. Diese regenbogenfarbenen Augen waren wirklich seltsam und hypnotisierend zugleich.
Hina drehte sich zu der Dame um, die sich immer noch nicht in dem durchsichtigen Tank bewegte. Atemlos lauschte sie der erschreckenden Ruhe und erwartete jeden Moment einen Angriff aus dem Hinterhalt. Sie konnte ihrem Instinkt nun mehr trauen als den Tatsachen. Wer wusste schon, ob nicht Geräusche und Gerüche derart unterdrückt wurden, sodass der Feind sich lautlos anschleichen konnte? Wenngleich ihr Vater weniger Interesse an ihr hatte wie an dem Krieger, würde sich Dr. Mors sicher nicht die Blöße geben, seine Tochter einfach so entkommen zu lassen. Der Atem, den Hina angehalten hatte, stieß sie zischend aus und dachte nach.
„Also gut!“, stimme Hina dem stummem Vorschlag der Zusammenarbeit zu, trotz der Risiken, die sich hinter dieser Entscheidung verbarg. „Es mag kein Silberstreifen am Horizont sein, aber immerhin kein Untergang“, sie sah die Puppe im Glas entschlossen an. „Was muss ich tun?“
Auch wenn Thiana nicht ganz erklären konnte, was alles der Tank beinhaltete, konnte sie beschreiben, was Hina tun musste, damit ihr Geist auf sie übertragen werden konnte. Dabei musste ihr Körper mit den des neuen Gefäßes physisch verbunden werden und das Blut musste ausgetauscht werden. Das entsprechende Ritual wurde telepathisch mitsamt Zaubersprüchen weitergegeben und das in einer fremden Sprache, die Hina fremd war. Doch die Worte wurden ihr im Geiste vorgesprochen, sodass es der Schwarzhaarigen leichtfiel, diese auszusprechen. Viel schwieriger war der Teil, den Thiana nicht bedacht hatte. Wenn Hina richtig vermutete, gab es einen Grund, weshalb der Körper in dieser Masse steckte. Also durfte man den Zylinder nicht einfach einschlagen, sonst würde dieser sicherlich sterben. Und damit auch Thianas Geist.
Das Hinaufklettern erwies sich als leicht, das Entfernen des Deckels dagegen weniger. Mit dem kleinen Messer schnitt Hina an den Kanten entlang und nutzte alle Öffnungen und Löcher, bis ein Zischen ertönte. Nebelschwaden schossen hervor wie flüssiger Stickstoff und Hina fühlte sich wie in einem schlechten Horrorstreifen. Gleich würden in ihren Gedanken die bösen Monster aufkommen und ihren Leib verschlingen. Natürlich blinkten in ihrer Vorstellung all die Lichter auf und böses Lachen zusammen mit einem hellen Frauenschrei waren zu hören. Düstere Musik im Hintergrund unterstrich das ganze Szenario.
Als Kommentar schnalzte Thiana mit der Zunge. „Ihr Menschen habt einen seltsamen Sinn für Humor.“
„Wenn ich ein Mensch bin, was bist du dann, obwohl du gleich aussiehst?“, fragte Hina in Gedanken und ließ den Deckel auf den Boden plumpsen. Nach zwei Metern brach das Metall auseinander und hinterließ eine Kerbe auf dem Boden. Dieser Hall in dem Labor war unerträglich laut, klang in den Ohren nach. Hina trieb sich an, vorsichtig zu sein, schnell zu handeln und bereit für alles zu sein, mit dem sie niemals rechnen würde.
„Ein Wesen, das du nicht verstehen würdest.“ Diese Antwort war ungenügend, doch nicht Teil ihrer Mission. „Es gibt viel, dass du nicht verstehen würdest.“ Sehnsucht klang in der Frauenstimme nach, die wehmütig nachhallte. Hina schnaufte innerlich und holte sich erneut ein glockenklares Lachen ein. Glaub mir, es gib viel, dass ich lieber nicht wissen würde. Aber das sprach Hina nicht aus. Und eigentlich brauchte sie das gar nicht.
Nachdem ihre Position erreicht war, um Thianas Körper berühren zu können, blendeten von unten heraus LED-Leuchten Hinas Augen und erhellte das Gesicht. Man sah die grüne Glibbermasse als wäre sie Wackelpudding mitsamt Luftblasen, die darin eingeschlossen waren. Das Giftgrün schoss sofort Gefahr in den Schädel, bevor Hina den seltsamen Geruch zwischen Süße, Herb und Schärfe identifizieren konnte. Es wirkte wie ein Unterwasserabendteuer, nur ohne Wasser und mit weit mehr Bedrohungen und Unsicherheiten, die einen erwarteten.
Ihre Gedanken kamen zum Stillstand, als die Finger die Masse berührten. Es fühlte sich so kalt an, wie Hina vermutet hatte. Doch viel schwieriger war es, sich durch dieses Gel hindurchzukämpfen. Jedes weiteres Durchstoßen der Masse hatte eine Verhärtung zur Folge, als würde es mit Luft reagieren und nach Sekunden erstarren. Doch die kleine Frau wollte nicht aufgeben und brauchte alle Kraft, die sie in der Zwischenzeit wiedergefunden hatte, um an den Haaransatz der Rothaarigen zu gelangen.
„Du musst meine Haut berühren!“, erinnerte sie Thiana. Hina tat wie geheißen. Mittlerweile steckte ihr ganzer Arm bis zur Schulter drin. Die Kälte war nicht störend, nur fröstelte ihre Kräfte entzerrter Leib, während die Masse zwar nicht die Farbe veränderte, aber dessen Konsistenz. Die Oberfläche war inzwischen fast so fest wie Hartplastik. Und es würde sicher noch zu Stein erstarren, wenn sich Hina nicht beeilte.
Sofort, als der Zeigefinger in Streikposten auf den Kopf tippte, durchschoss eine Welle purer Energie den Leib des Mädchens. Sie nahm augenblicklich einen tiefen Atemzug, schloss damit den Geruch der Masse in sich ein und hustete sofort wieder aus, da die plötzliche Schärfe in ihrer Kehle sie überraschte. Doch zeitgleich verwandelten sich ihre Muskeln aus Wackelpudding wieder zu festen Substanzen, ihr vernebelter Kopf schien klarer zu denken als überhaupt und ihr Kraftreserven füllten sich automatisch.
„Du hast es geschafft!“, murmelte jemand aus ihrem Mund. Hina begriff schmerzlich langsam, dass es Thiana war, die sprach. Mit lauten Schmatzgeräuschen löste sich der Arm aus der Masse. Nicht Hina steuerte nun ihren Körper, sondern Thiana. Es dauerte ein paar Minuten, doch es gelang der Göttin gelang, ihre Körperteile perfekt zu übernehmen und Hina damit ein wenig Verschnaufpause zu gönnen. Die Zusammenarbeit mit der Frau war überraschend flüssig verlaufen, und Hina nutzte die Zeit, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Ironischerweise musste sie ihre Gedanken auch niemanden mehr mitteilen, denn Thiana lächelte mit ihren Lippen und nickte. Sie kletterte von dem Zylinder herunter, drehte sich um und blickte in ein feixendes Gesicht voller scharfer Zähne.