Es musste Stunden her sein, seit man sie hier festhielt. Der Unbekannte hatte sich seither nicht mehr blicken lassen, auch aus den Lautsprechern entrang kein einziger Laut. Doch irgendwelche Störgeräusche waren ihr geringstes Problem.
„Mist“, fluchte sie immer wieder, während Hina eigentlich das stetige Geifern hätte sein lassen wollen. Aber dies war eben der einzige Weg, ihren Frust irgendwo entfliehen zu lassen. Immer wieder suchte sie nach Schwachstellen an den Ketten, nach einem Schloss oder Zeichen, die ihre Finger hätten ertasten können. Irgendwelche Zauberwörter vielleicht, die ihr sagten, dass der Fremde nicht geblufft hatte.
Auch wenn die Schwarzhaarige über mehr Muskelkraft verfügte wie ein ausgewachsener Mensch, konnte sie sich gegen das Eisen stemmen bis zum Sank Nimmerleinstag. Allein die gleichmäßigen Pendelbewegungen erhöhten den Druck auf ihren Schläfen. Ihr Kopf müsste mittlerweile hochrot angelaufen sein, so sehr regte Hina das Kribbeln an ihren Füßen auf. Es musste doch einen Weg geben, sie hier herauszulassen. Immer wieder ließ sie die Worte des Mannes Revue passieren lassen, immer wieder sorgten diese Worte dafür, dass sie kurz innehielt.
Diese Ketten sind speziell angefertigt für uns. Wir, hatte er gesagt. Das heißt, er war also auch ein verfluchtes Wesen. Inmitten der Nacht würde er also auch zur Finsternis werden und Unschuldige abschlachten? Aber wieso hatte er dann Ketten, die ihn bändigten, wenngleich er einfach herumspazierte, als würde dies alles hier einer gemachten Falle für sie gleichkommen. Hina kam es wirklich wie ein Plan vor, wie eine Falle, in die sie blind getappt war. Nun, es war immerhin nicht ihr Vater, der sie festhielt. Aber ob das nun besser war? Eigentlich war es ihr egal, und doch irgendwie nicht.
Hina überlegte sich fieberhaft, wie sie den Schwung ausnutzen konnte, um vielleicht an der Wand einen Schalter finden zu können. Licht würde ihr hierbei viel bringen. Wenigstens wäre dies ein Anfang. Doch auch das schlug fehl, als nicht einmal ihr Kopf auf dem Boden aufkam oder eine Wand berührte. Sie hing wie ein Fisch am Haken.
„Ich bin erstaunt“, gurrte diese tiefe Stimme hinter ihr. Hina stellte jegliche Bewegungen ein und konzentrierte sich auf ihn. Hörte ihm zu, um irgendwelche Informationen herausfiltern zu können. Indes rief sie wie eine Wilde nach Thiana. Doch die liebe Göttin antwortete ihr nicht. Auch ihre Macht in ihr schien irgendwo festzustecken. Dass ihr Schatten sie nicht kontrollierte, hieß nur, dass es taghell war. Aber mehr auch nicht.
„Ich bin erstaunt, dass du nicht einmal zehn Prozent deiner Macht nutzen kannst, um ein einfaches Schloss aufzubrechen.“ Er kam näher, ließ sie vor sich hin baumeln und setzte sich vor ihr hin. Im Schneidersitz lehnte er sich vor und betrachtete ihr verschwitztes Gesicht. Wenigstens böse anstarren konnte sie ihn. Wieso hatte sie eigentlich keine Laseraugen?
Ihr Gegenüber lachte herzhaft. „Ja, ich weiß, man würde mich gerne töten. Aber das kannst du grade nicht, und das ist auch gut so. Denn du musst wissen...“, er sah ihr mit einem amüsierten Augenaufschlag direkt in die Augen, fixierte ihre Seele und schaute tiefer, als Hina denken konnte. „…du bist aktuell eines der wenigen Wesen, die mir schaden könnten.“ Hina erstarrte und sah ihn direkt an. War er wirklich so dumm, ihr diese Schwäche einfach so zu offenbaren? „Doch mit dem Potential, was du grade an den Tag legst, würde ich dich selbst im Schlaf besiegen können“, bemerkte er allerdings trocken und seine Lachfalten erreichten nicht seine Augen. Die gespielte Freundlichkeit überraschte Hina nicht.
„Was willst du von mir, Mistkerl?“, harschte die Gefangene. Sie spuckte auf die Seite, um ihm ihre Missgunst zu demonstrierten. Er hob träge die Augenbraunen, als wäre diese Geste vollkommen überflüssig gewesen. „Der schöne Boden. Jetzt muss er wieder gereinigt werden.“
„Was willst du von mir?“ Hina betonte jedes Wort, in der Hoffnung endlich diese Position kopfüber entfliehen zu können.
„Ich bin dein Lebensretter, und so dankst du es mir? Du beleidigst mich und verdreckst meinen schönen Boden.“ Übertrieben schaute der Fremde sie traurig an, als wäre sein Herz zutiefst getroffen worden. „Jetzt bin ich aber...“, er wollte noch mehr sagen, doch Hina nahm Schwung nach hinten und riss den Kopf hoch. Sie sah Sterne und zischte vor Schmerz, als ihre Stirn gegen seine traf und er nach hinten fiel. Die Bewegung hatte nicht genügend Kraft gehabt, ihm ihn bewusstlos zu schlagen. Aber er hörte wenigstens auf zu reden. Hina war sich ihrer Lage bewusst, und doch gab sie nicht klein bei.
„Ich frage nochmal...“, sagte sie wütend, während sie ihre Kräfte sammelte. Keuchend sah sie dem Mann in die roten Fuchsaugen, während er sich lachend aufrichtete und kniend in ihr Gesicht sah. Herausforderung stand in diesem Lächeln, und Triumph. Und Überraschung. Er rieb sich nicht die wunde Stelle, denn es gab keine. Er hatte Selbstheilungskräfte, sodass er diese schlappe Prellung leichtfertig abtun konnte.
„Gut, das gefällt mir.“ Er lächelte immer noch feixend, als der Schelm sich aufrichtete. Seine keuchenden Atemzüge kamen nicht davon, dass er außer Atem war. Die Schultern bebten und hoben und sanken sich unregelmäßig, als müsste er Luft anhalten.
„Hör auf mich aufzulachen!“, keifte Hina und fauchte mit den Zähnen, während sich der Mann nicht mehr halten konnte. Er hielt sich den Bauch, so sehr musste er lachen. Hina begriff nicht, was an diesem Kerl nur falsch war.
Die braunen Haare wurden zurückgeworfen und er krümmte sich anschließend, als die Tränen über die Wangen flossen. „Ich...“, er holte erneut Luft und setzte immer wieder zum Sprechen an. „Ich…“
„Was willst du?“, schrie Hina mittlerweile, weil sie ihn ignorierte und sich weder hilflos noch überwältigt fühlte. Vielmehr war sie wie das Paket, das bestellt, aber nicht abgeholt wurde. Verwirrt und ziellos sah sie dabei zu, wie die der Fremde sich ihr langsam näherte, als er zuvor wie ein Clown umhergesprungen war.
Sie wollte zurückweichen, als er die Hand auf die Ketten legte und sich zu ihr herunterbeugte. Wieder ging er in die Knie, verhielt sich vollkomme entspannt. Doch Hina erkannte solche Täuschungen sofort und spannte sich an. Seine Lippen waren so nah.
„Spiel mit mir, Hina!“, flüsterte er in ihr Ohr und sie bekam eine Gänsehaut. Plötzlich spürte sie die Schwerkraft und ihr Hinterkopf krachte auf den Boden., Wie ein nasser Sack plumpste die Schwarzhaarige auf den Boden, fiel ungelenkig und das Kribbeln unter ihrer Haut setzte an den Stellen ein, wo die Ketten ihr Blut angedrückt hatten. Fluchend hievte sie sich hoch, ihr Kopf pulsierte, während ihr Instinkt ihr eine Warnung zurief. Eine Gänsehaut an ihrem Rücken trat ein, während die Eiseskälte ihre Wirbelsäule hinaufkroch. Nein, eher sprintete.
Sofort krabbelte sie weg, ein wenig zu ungelenkig, da ihre Extremitäten ihr noch nicht ganz gehorchen wollten. Mit großen Augen drehte sie sich um und sah die Stelle an, an welcher zuvor ihre Ketten und sie gelegen hatten. Teilweise waren kokelnde Reste zu erkennen, während die schwarze Stelle noch rauchte.
„Du bist ein Geschöpf, das es nicht geben sollte, Hina. Und trotzdem bist du hier. Eine Gefahr für mich und die meinem. Mein Dämon in mir verlangt es, dich zu töten, auszuweiden wie eine Gans. Doch mein anderes Ich ist so fasziniert von dieser Tatsache, dass deine Existenz überhaupt auf dieser Erde wandelt. So bezaubernd und doch erschreckend zugleich.“ Der Fremde kam näher, doch Hina stand sofort auf zittrigen Beinen und machte sich zum Kampf bereit.
„Zeige mir, dass mein erbärmlicher Schüler nicht so nutzlos ist, wie er immer tut. Beweis mir, dass er ein Geschöpf entwickelt hat, dass mich verzaubern kann. Zeige mir, dass du leben sollst, Hina!“
Hina wusste nicht mehr Recht, wer verrückter war. Dieser Kerl vor ihr oder ihr Vater. Doch eines war sicher: Beide wollten ihren Tod. Und sie wusste das zu hindern. Geschickt erweiterte sie den Abstand und hob die kleinen Fäuste, als würde rohe Kraft gegen eine solche Macht ankommen, die er ausstrahlte. In ihr schrie alles zur Flucht, ihre Muskeln waren zum Zerreißen gespannt. Doch egal wie sehr sie sich umsah, der Ausgang war von diesem Fremden flankiert. Sie konnte sich ihre Freiheit nur erkämpfen.
„Thiana?“, flüsterte sie, in der Hoffnung, die Göttin würde ihr noch einmal das Leben retten. Stille. Reine dunkle Finsternis wallte vor ihr auf, umhüllten den Mann, obwohl seine Gestalt immer noch in diesem gestriegelten Anzug steckte. Dieses Grinsen glich dem Teufel höchstpersönlich, während ihr Schatten sich langsam regte und der Dunkelheit vor ihr zu antworten schien.
„Ich bin Burukvashrun, Hina. Dein Schöpfer mag ein Mensch sein, doch dein Vater ist einer der mächtigsten Dämonen, die jemals existiert haben.“
Hina hielt inne und sprach, ohne, dass sie die Antwort wissen wollte. „Und wer soll das sein?“
Der Dämon grinste. „Ich natürlich. Aber du kannst mich Buck nennen.“