Dick eingepackt wegen des kalten Wetters betrat sie endlich nach zwei Stunden ihre Wohnung.. Der Wind peitschte gegen die Fensterfronten, nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte. Das Pfeifen in ihren Ohren kam nicht nur vom Wind, auch dröhnte ihr Schädel, als sich ihre Gedanken überschlugen. Doch sie ließ diesen freien Lauf, denn zu unterdrücken oder gar zu ordnen schien aktuell nicht möglich. Sie schritt mit nassen Schuhen durch ihre Wohnung, damit sie am Abend noch etwas Entspanntes zu tun hatte, zum Beispiel ihre Wohnung zu putzen. Müde warf sie den Wasserkocher an, lief ins Schlafzimmer, das zugleich den Wohnbereich darstellte und zog sich um. Achtlos schmiss sie alles beiseite. Diese Gewissheit, dass sie ein wenig Normalität in ihr Leben bringen wollte und vielleicht auch konnte, beruhigte sie immer.
Das Brodeln des warmen Wassers schreckte sie aus ihrer Gedankenwelt. Gedankenverloren schritt sie vom Wohnzimmer, mit der Bürste in der Hand in die Küche, mit dem Teebeutel ohne warmes Wasser in den Schlafbereich und wieder zurück. Nachdem nun endlich alle Einzelteile auf dem Nachttisch aufgereiht waren, zog sie ihren Blick zu dem Umschlag, der seit Eintritt in die Wohnung dort lag. Das Braun stach deutlich hervor. Die quietschbunte Decke auf dem Bett, ein Gemisch aus Rosa und Grün, wollte dieses Papier nicht einfach nicht in sich hineinsaugen. Sie starrte dem Braun entgegen und wünschte sich eine bunte, fröhlichere Farbe. Also kramte sie irgendwo zwischen den Romantik-Büchern und den Geschichtsklausuren der Universität die Farbstifte hervor und fand einen dunkelblauen Wachsmalstift. Das Blau wirkte zwar fehl am Platz, aber irgendwie schien sie diese Farbe heute froh zu stimmen. Sie sah die Spitze an, lächelte zufrieden und malte einige Regenwolken auf das Braun. Das Braun und die damit verbundene strenge Atmosphäre verschwanden sofort, als Hina eine Regenwolke malte und sie die Tropfen auf eine Pfütze fallen ließ. Dann suchte Hina nach einem Bleistift und fand ihn ebenfalls. Ungespitzt und weich, doch das würde für diese Zwecke ausreichen. Die grauen Linien passten besser zu dem tristen Braun und somit verband Hina die groben blauen sowie die feinen grauen. Als das Werk fertig war, lächelte sie strahlend. Ein Mann und ein Mädchen, Hand in Hand, unter einer Regenwolke spielten in einer Pfütze und hatten Spaß.
Nun wirkte die unordentliche Wohnung ein wenig heller. Diese kreative Abstufung von abstraktem Gelb und Neo-Grün an der Wand, die grünen und orangenen Möbel und dem hellblauen Teppich, dem braunen Linoleumboden sowie dem Bettbezug glich eher einem misslungenen Versuch eines Kunststudenten. Seine Gefühle beim Schlussmachen von der Liebe seines Lebens und dem anschließenden Abend daheim mit einem Kasten Bier würden daher besonders zum Ausdruck kommen. Hina dagegen fühlte sich in diesem Farbengemisch wohl, während sie lächelnd Wasser in die Tasse goss.
Nun fand sie auch die Kraft, mit dem warmen Tee in der Hand den Inhalt des Briefes zu lesen. Dann einmal genauer, dann noch ein drittes Mal. Mehrmals blinzelte sie und erschrak innerlich. Das war wirklich kein Aprilscherz.
Das erste Blatt zeigte die Aktennummer und die Firma ihres Vaters an. „Comet“, stand groß auf dem Papier, auch dessen Zeichen, als abstraktes schwarzes C, prangte darunter. Hina starrte das Zeichen nieder, Hass wallte in ihr auf, den sie sofort zu unterdrücken versuchte. Dann schlug sie das Bild auf, dass sie zunächst verwirrt hatte, dann aber, als sie den Bericht erneut gelesen hatte, alles irgendwie einen Sinn ergab.
Die Schwarz-Weiß-Fotographie war verschwommen, teils unerkenntlich, dennoch erkannte Hina eine Überwachsungskamera, einen Mann, der eine Rüstung trug. Sie kniff die Augen zusammen und sah lange Haare, und einen kräftigen Oberkörper. Die Miene des Mannes war störrisch und er blickte sich um. Wohl ein Fluchtversuch. Doch niemand konnte von Comet flüchten. Niemand, den sie kannte, hat das überlebt.
Die Informationen dagegen, die sie aus dem Bericht entnahm, ließ sie stocken. Ein Mann war geflohen, der eigentlich tot hätte sein müssen. Der eigentlich hätte sediert werden sollen. Der eigentlich gar nicht leben dürfte. Und diesen wollte ihr Vater, aber lebend.
Fragen über Fragen schossen sich durch ihre Gedanken, doch keine Antwort schien angemessen und warf umso mehr Zweifel auf. Warum lebend, wenn er doch tot besser untersucht werden konnte? Wieso war dieser Mann geflohen, und vor allem, wie? Warum wurde gerade sie mit dem Auftrag betraut, wenn es doch weit mehr und vor allem bessere Agenten von „Comet“ gab? Ihr Vater hatte recht, sie wollte diesen Mann kennenlernen, der es geschafft hatte, vom „Comet“ zu flüchten. Aus ihrer Hölle.
Und lebend war ein Exemplar auch deutlich spannender unter der Lupe als tot.
Die Frage, warum sie sich mit diesem Mann nicht verbünden würde, war eindeutig. Hina schob die Ärmel des Oberteils hoch und blickte die kleinen schwarzen Punkte an. Ihr Vater wusste immerhin, welchen Herzschlag sie wann hatte, wie ihre Hirnströme jederzeit waren, was sie wann tat, wann sie duschte, wann sie was aß, wann sie was fühlte. Wann sie lebte, oder innerlich tot zu sein schien. Und per Knopfdruck entschied er, wann sie sein Sklave war. Seufzend schob Hina den Ärmel wieder runter, verdrängte jegliche Gedanken und Gefühle und betrachtete das Bild. Mit einem frostigen Lächeln packte sie den Umschlag mit dem Bericht und pinnte ihn an die Wand. Zufrieden trat sie einen Schritt zurück, sah die Aufträge davor, die mit bunten Kinderbildchen bemalt worden waren.
Nun galt es zu jagen.