2 - Schweigen und Erfahrung
Natürlich erntete Erik für sein Zuspätkommen beim nächsten Lehrer einen bösen Blick. Wenigstens brummte ihm der nicht auch noch eine weitere Hausaufgabe auf. War eben nicht jeder so ein Arschloch wie dieser doofe Deutschlehrer. Trotzdem verlief der Rest des Schultages genauso beschissen wie die Wochen davor. Jedenfalls kam bei Erik keine irgendwie gut geartete Stimmung mehr auf. Und das permanente Getuschel um ihn herum taten sein Übriges, um Eriks Laune ins Bodenlose sinken zu lassen. Selbst wenn er die Worte nicht verstand, hatte Erik genug Fantasie um sich auszumalen, worum es gehen dürfte.
Deshalb war es vermutlich nicht verwunderlich, dass er bis zum Ultimo frustriert irgendwann am Nachmittag nach Hause kam. Seine Mutter hatte an diesem Tag Nachtdienst und Erik war entsprechend nicht alleine, als er die Wohnungstür lautstark hinter sich zuschmiss. Sie protestierte sofort, aber er ignorierte sie – wie so oft in letzter Zeit.
Erik stürmte in sein Zimmer. Und mit einem weiteren lauten Krachen warf er den Rucksack gegen das Bücherregal. Das ächzte verachtend ob der Tortur und einige Bücher fielen heraus. Scherte Erik in dem Moment allerdings keinen Deut. Seine Mutter hingegen kam umgehend angerannt und starrte verwundert in das entstandene Chaos.
„Was geht denn hier vor?!“, fauchte sie ihn entgeistert an.
Natürlich fing sie jetzt auch so an, wie alle anderen. Eriks Mitschüler, der dämliche Lehrer, seine Mutter. Jeder beschissene Mensch auf diesem Planeten schien mit ihm ein Problem zu haben. Was zum Geier war nicht in Ordnung mit ihm, dass sie ihn nicht alle einfach in Ruhe lassen konnten?
„Erik!“
„Was? Gar nichts ist. Darf ich in meinem Zimmer nicht mehr machen, was ich will?“, schrie er wütend zurück und wandte den Blick von ihr ab.
Er wollte es nicht sehen – die Enttäuschung, die Wut. Bei anderen konnte er das ertragen, aber nicht bei ihr. Selbst aus dem Augenwinkel konnte Erik sie zusammenzucken sehen. Er brauchte nicht einmal direkt hinzusehen, um sich ausmalen zu können, wie sie ihn ansah. Unverständnis, vielleicht auch Angst, würde da in ihrem Blick liegen. Zwei Dinge, die Erik nicht bei ihr sehen wollte. Aber was sonst, durfte er erwarten? Manchmal verstand er sich ja selbst nicht mehr. Seit dem Sommer war die Wut Eriks ständiger Begleiter geworden. Das war einfacher war, als darüber nachzudenken, warum sie ihn alle verachteten. Abgesehen von seiner Mutter. Noch nicht.
‚Weil du ihr diese eine Wahrheit nicht sagen willst.‘
Sie würde ihn sowieso nicht verstehen. Und vielleicht war das besser so. Mit dem Rücken zu seiner Mutter gewand stand Erik da und ließ die Schultern hängen. Sollte sie fragen, wenn sie es wirklich wissen wollte. Womöglich würde er es ihr in dem Fall sogar sagen. Manchmal war Erik sich nicht sicher, ob er sich nicht besser fühlen würde, sobald er es endlich hinter sich hatte.
Sie hing doch förmlich in der Luft – diese beschissene Frage, warum er sich so ‚aufführte‘. Seine Mutter wollte sie stellen, er konnte es regelrecht spüren. Aber sie tat es nicht – machte nie den Mund auf. Fast so, als hätte sie vor seiner Antwort genauso viel Angst wie er vor ihrer Reaktion darauf.
„Lass mich einfach in Ruhe, Ma“, murmelte Erik verhalten, ohne sie anzusehen.
Er hörte das Keuchen hinter sich, drehte sich aber weiterhin nicht um. „Was ist mit dir los, Erik?“, fragte sie schließlich. Da war ein Zittern in ihrer Stimme. „Du führst dich auf wie ...“ Die Worte erstarben, bevor sie den Satz beenden konnte.
Aber Erik wusste genau, was sie sagen wollte. Er führte sich auf wie sein missratener Erzeuger. Der cholerische Vollversager, dem keiner von ihnen beiden wirklich nachgetrauert hatte. Er jedenfalls nicht, obwohl Erik dem Mistkerl ständig am Hosenbein gehangen hatte, als er noch kleiner war. Als seine Mutter ihm vor sechs Jahren erzählte, dass der Alte sich verpisst hatte und nie zurückkommen würde, war Erik ehrlicherweise sogar eine Spur erleichtert gewesen. Wenigstens hatte er so keine Angst mehr haben müssen. Vor diesem Moment, an dem der Alte die Beherrschung endgültig verlor. Vor dem Tag, an dem Erik nach Hause kam und das Arschloch einmal zu fest zugeschlagen hatte.
Bis heute war sich er sich nicht sicher, warum sein alter Herr verschwunden war. Kurz nachdem der weg war, hatte Erik seine Mutter gefragt, aber sie meinte nur, das würde keine Rolle spielen. Bis heute war Erik sich nicht sicher, ob er wirklich wissen wollte, was passiert war. Dass sie keine Ahnung hatte, wo sein Vater sich aufhielt, kaufte Erik ihr schon lange nicht mehr ab. Er sah über die Schulter zu seiner Mutter, die weiterhin in der Tür zu seinem Zimmer stand und ihn schweigend anstarrte.
Er hatte keine Ahnung, was wirklich in ihrem Kopf vorging, aber in Eriks Vorstellung war es ziemlich klar, in welche Richtung das gehen musste: Er war doch so ein netter Junge gewesen, immer brav. Selbst in der Pubertät – all die Jahre, in denen andere Mütter mit ihren Söhnen ständig Probleme hatten. Erik hatte nie Schwierigkeiten gemacht, hatte gute Noten gehabt, hatte sich trotz seiner körperlichen Stärke selten auf Schlägereien eingelassen, war oft mit seinen Freunden weg.
Und jetzt? Inzwischen saß Erik nur zu Hause, seine Noten wurden trotzdem quasi täglich schlechter und er sprach kaum mehr ein Wort mit ihr. Denn was Erik zu sagen hätte, würde sie nur enttäuschen und ihr Bild von dem ursprünglich mal so perfekten Jungen endgültig zerstören. Dann wäre er am Ende genauso ein Versager wie sein Arschloch von Vater.
„Erik, ich bitte dich. So geht das nicht weiter“, presste sie heraus, als er weiterhin schwieg.
Es schnitt ihm ins Herz die zurückgehaltenen Tränen in ihrer Stimme zu hören. Sie klang alles andere als wütend, eher bittend und besorgt. Er versuchte, ihr in die Augen zu sehen, zu erkennen, was wirklich in ihr vorging, aber alles, was Erik sah, war das gleiche Blau, das ihn jeden Morgen im Spiegel anblickte. In den Momenten, in denen er vergeblich hoffte, dass an diesem Tag sein Leben endlich wieder normal werden würde.
„Willst du’s wirklich wissen?“
Vielleicht sollte er ihr davon erzählen. Von seinem Ex Dominik, dem Mobbing in der Schule – von Sandro und Berger, den anhaltenden Schikanen. Einfach alles. Aber was würde es bringen? Sie würde sich Sorgen machen, womöglich zu seinem Kursleiter rennen oder sogar zum Direktor. Und dann?
Berger, das Arschloch, konnte immer argumentieren, dass er Strafarbeiten für ‚falsches Verhalten‘ vergeben hatte. Und Sandro? Den würde es nicht interessieren. Im Gegenteil. Wenn der Mistkerl Erik nicht mehr offen schikanieren konnte, würde er es eben versteckt machen. Am Ende wäre das sogar schlimmer.
Eriks Mutter schwieg, war sich nach seiner halbwegs offenen Frage vermutlich selbst nicht mehr sicher. Dann eben nicht. Es war sowieso besser, wenn Erik dieses Problem wie immer irgendwie alleine löste. Obwohl er keine Ahnung hatte, wie er das anstellen konnte.
„Es ist nichts“, log Erik schließlich. „Ich habe verflucht viele Hausaufgaben und keinen Bock drauf.“ Für einen Jungen in seinem Alter sollte das als Erklärung hoffentlich ausreichen.
Seine Mutter musterte Erik einen Augenblick, nickte stumm und gab auf. Wenigstens für heute. „In einer Stunde gibt es Essen. Komm dann zumindest in die Küche.“
Sie drehte sich um und schlurfte ins Wohnzimmer zurück. Erik sah ihr einen Moment lang nach, bevor er zur Tür stapfte und diese zuschlug. Genug. Reden half ohnehin nichts. Nein, er brauchte einen Plan, einen verdammt Guten! Einen, mit dem Erik wenigstens dem Arschloch von Lehrer so richtig eine verpassen konnte. Es musste schon echt effektiv sein, denn Berger erweckte nicht den Eindruck, als würde er sich einfach aus der Fassung bringen lassen.
Zumindest ignorierte der Mistkerl das Kindergartengehabe von Sandro und seiner Affenbande seit drei Wochen stoisch. Okay, die machten das zugegeben nur in der Pause. Denn im Unterricht ließ Berger sich ganz sicher von niemandem ans Bein pissen. Das hatte er bei Sandros bisher einzigem Versuch während der ersten Deutschstunde des Jahres bereits deutlich gemacht. Also vielleicht fand der blöde Berger es einfach witzig, wenn die Deppen sich dafür in den Pausen immer wieder Erik als Ziel ihrer Angriffe aussuchten.
Gedankenverloren setzte Erik sich an seinen Schreibtisch und griff zum Stift. Der Block mit den leeren Seiten lag vom Vortag auf dem Tisch. Nachdenklich spielte er mit einem Kuli. Was sollte er schreiben? Das Gleiche wie gestern? Nein, irgendwie hatte Erik keinen Bock drauf den Müll erneut zu Papier zu bringen. Die Kraft der Wut, die ihn vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden dazu gedrängt hatte, so etwas zu schreiben, war aus ihm verloschen. Wenn Erik versuchte, die Worte ein weiteres Mal zu finden, wären sie verraucht und der Effekt dahin.
Okay, was war die Aufgabe? Mindestens fünf Seiten zum Thema ‚Illusion‘. Gestern hatte er daraus eine verdammte Kurzgeschichte gemacht, in der ein frustrierter Achtzehnjähriger in seiner Klasse Amok lief. Sandros Fresse hatte ihm als gedankliche Vorlage gedient, als Eriks namenloser Protagonist dem ersten Schüler das Messer ins Auge gerammt hatte.
Im Nachhinein war es reichlich krank, was er da in seiner Wut zu Papier gebracht hatte. Irre genug, dass Eriks Verstand sich glücklicherweise weigerte, es ein weiteres Mal heraus zu lassen. Besser so. Gewalt war früher doch auch nie Eriks Mittel der Wahl gewesen, wenn es um Konfliktlösungen ging. Wohin das führte, hatte er bei seinem Vater ja erlebt. So wollte Erik nicht sein.
Außerdem konnte er Berger mit dem wenig subtilen Gemetzel wahrscheinlich ohnehin nicht schocken. Da stand der Kerl am Ende vermutlich drüber – oder rief den Schulpsychologen, der Erik wegen potenzieller Gefährdung der Schülerschaft vom Unterricht suspendieren würde. Verdammt, daran hatte er gar nicht gedacht. Am Ende musste er Sandro und dessen Affen dankbar sein, dass sie die erste Version seines Aufsatzes zerfetzt hatten. Aber was jetzt?
Die Stunde bis zum Essen saß Erik vor dem leeren Blatt Papier und wusste nicht, was er schreiben sollte. Seine Mutter rief irgendwann aus der Küche. Und da Erik ohnehin nicht vorankam, lief er zu ihr und schob sich gelangweilt das Essen in den Mund.
Es war nichts Besonderes, aber es schmeckte und machte satt. Zwischen ihren Wechselschichten hatte seine Mutter selten Zeit, um zu kochen. Und Erik in der Regel keine Lust – zumal es im Grunde nur zwei Gerichte gab, die er auf einem Niveau beherrschte, das er selbst als ‚genießbar‘ einstufen würde. Wenn seine Mutter nicht arbeitete, schlief sie oder entspannte für zwei Stunden auf der Couch. Dass sie dazwischen keine Lust hatte, groß zu kochen, war verständlich.
Erik überlegte, während er lustlos in seinem Essen herumstocherte. Er sollte zusehen, dass er nach diesem letzten Jahr irgendetwas auf die Reihe bekam und auszog, damit sie sich nicht mehr für ihn verantwortlich fühlte und endlich anfing, wieder ihr eigenes Leben zu führen. Sie war immerhin jung genug, um vielleicht einen anderen Mann zu finden. Einen besseren als Eriks Erzeuger. Wenigstens das war er ihr, seiner Meinung nach schuldig. Dafür müsste er aber das verfluchte Abi bestehen. Und dafür wiederum war es notwendig, dieses beschissene letzte Jahr irgendwie zu überleben.
Kaum, dass Erik mit dem Essen fertig war, stand er auf, aber seine Mutter hielt ihn zurück. „Es ist Freitag. Wieso gehst du nicht aus? Deine Freunde gehen sicher auch weg. Begleite sie doch einfach mal wieder. Vielleicht kommst du so auf andere Gedanken. Wenn du Geld brauchst, ich kann dir etwas geben. Nicht viel, das weißt du, aber ...“
Erik runzelte die Stirn. Womöglich hatte sie damit recht. Ja, vielleicht würde es helfen, wenn er sich ‚auf andere Gedanken‘ brachte. Das Geld seiner Mutter würde er aber garantiert nicht annehmen. Da Erik in letzter Zeit selten aus war, hatte er noch einiges von seinem Job bei Herrn Ceylan.
Also nickte er und kehrte in sein Zimmer zurück. Mit einem heftigen Ruck riss Erik den Kleiderschrank auf und überlegte für eine Sekunde, was er anziehen wollte. Kurz darauf hatte er eine schwarze Jeans und ein dünnes, beiges Langarmshirt heraus- und sich umgezogen. Aus einer kleinen Metalldose kramte er einige Geldscheine zusammen und verließ das Zimmer.
„Ich geh weg!“, rief Erik seiner Mutter zu, die zufrieden im Wohnzimmer saß und lächelnd nickte. Zielstrebig rannte er drei Minuten später zur Bushaltestelle.
Obwohl es total hirnrissig war, stieg mit jedem Meter, den der kurze Zeit später eintreffende Bus sich seinem Ziel näherte, in Erik die Nervosität an. Dabei war es nicht gerade sein erster Besuch im Rush-Inn. Gedankenverloren schloss er die Augen und erinnerte sich an diesen Tag vor inzwischen gut einem halben Jahr zurück.
✑
Es war zwei Tage vor Eriks achtzehntem Geburtstag gewesen. Sein damaliger Freund, Dominik, hatte Erik eingeladen – und Alex sie beide hochkant wieder rausgeschmissen. Denn neben diversen anderen gab es im Rush-Inn eine goldene Regel, an die jeder Besucher sich zwangsläufig halten musste: Keine minderjährigen Gäste.
Entsprechend waren sie zwei Tage später wieder dort aufgeschlagen. An Eriks Geburtstag.
Wenn er heute an diesen Tag zurückdachte, fühlte es sich lächerlich an. Dieser kindlich naive Stolz, etwas erreicht zu haben, an dem er im Grunde nicht einmal einen echten Anteil gehabt hatte. Das Einzige, was Erik dazu beigetragen hatte, dass er achtzehn geworden war, blieb die Tatsache, dass er bis zu diesem Zeitpunkt keinen guten Grund gefunden hatte, sich von der nächsten Brücke zu stürzen.
Seine Mutter hatte damals keinen Urlaub bekommen und war reichlich geknickt gewesen. Aber Erik hatte nur gelacht und gemeint, dass sie es ja schließlich jederzeit später nachholen konnten. Statt mit seiner Mutter in einem Restaurant zu sitzen und zu feiern, was letztendlich sie vollbracht hatte und nicht er, war Erik also mit einem Mann aus gewesen.
Ein Typ, in den Erik sich zwei Wochen zuvor Hals über Kopf in irgendeinem Klub verguckt hatte, in den seine Kumpel ihn geschleppt hatten. Ein todlangweiliger Abend mit mieser Musik, zu teuren Alcopops und nervigen Tussis, die versucht hatten, ihn anzumachen. Aber dann hatte Erik plötzlich diesen Kerl gesehen.
Dominik.
Der feuchte Traum seiner schlaflosen Nächte – jedenfalls zu dem Zeitpunkt. Das Erste was Erik von Domi gesehen hatte, war sein Hinterteil, wie es beschwingt und im perfekten Rhythmus über die Tanzfläche geschwebt war. Und ja, bei Dominik konnte man durchaus von ‚schweben‘ reden, denn der Kerl lebte fürs Tanzen. Um genau zu sein, lebte er vom Tanzen. Oder etwas in der Art. Erik hatte versucht, sich für die Musicals zu interessieren, bei denen Dominik engagiert war. Ehrlich. Hatte er. Aber singende und herumhüpfende Männer waren einfach nicht seins. Zumal es am Ende doch immer um irgendeine schmalzige Heten Romanze ging. Das war nicht Eriks Welt und würde es auch nie werden.
Dominik hingegen war ganz nach seinem Geschmack gewesen. Ein Hintern zum Reinbeißen. Was Domi ihm – zusammen mit Eriks ersten öffentlichen Kuss – im Anschluss an diesen Geburtstag im Rush-Inn direkt gewährt hatte.
Dominik war nicht der erste Mann, mit dem Erik ins Bett gestiegen war. Aber er war der erste, der das ganze ‚Beziehung‘ genannt hatte. Was folgte, waren allerdings nur falsche Versprechen und Eriks naiver Glaube daran, dass sie eingehalten werden würden.
In den Monaten mit Domi waren sie immer wieder im Rush-Inn gewesen. Meistens wenn Eriks Mutter Nachtdienst hatte. Ein paar Drinks, danach ging es in Domis Wohnung, wo sie stets im Bett gelandet waren. Und weil Erik nicht wollte, dass seine Mutter davon erfuhr, war anschließend meistens nach Hause gefahren.
Aber hey, er war gerade achtzehn gewesen, geil und Dominik nur zu willig – in jeder Hinsicht. Das konnte man Erik nun wirklich nicht vorwerfen! Oder?
Inzwischen war er sich nicht sicher, ob da jemals so viel mehr zwischen ihnen gewesen war als Sex. Wenn Erik darüber nachdachte, waren sie außer zum Saufen ins Rush-Inn so gut wie nie ausgegangen. Aber der Gedanke, eine ‚Beziehung‘ zu führen, hatte sich damals unheimlich erwachsen angefühlt. Also hatte Erik einfach mitgemacht.
Er hatte die Fernsehabende mit blöden Schnulzenromanzen genauso ertragen wie das mädchenhafte Getue, wenn Dominik davon erzählte, dass er irgendeinen komischen Kerl im Theater getroffen hatte, von dem er ein Fan war.
Und dann kam dieser beschissene Tag im letzten Juni. Dominik war komisch drauf gewesen, hatte miese Laune gehabt, weil er die Rolle, die er wollte, nicht bekommen hatte. Erik hatte angenommen, dass sie sich ein paar Bier hinter die Binde kippen und anschließend zu Domi nach Hause fahren würden, um eine ganze andere Sorte von Spaß zu haben.
Den hatte Dominik aber lieber auf dem Herrenklo mit irgendeinem Wichser gehabt. Deshalb hatte Erik an dem Abend das Rush-Inn nach einer lautstarken Trennung zwischen Pissoir und Klokabine mit schmerzender Faust verlassen. Am liebsten hätte er Domi an dem Abend eine reingehauen – dafür, dass der auch noch versucht hatte das als ‚völlig normal‘ hinzustellen.
Aber Erik hatte es sich seit jeher zu eigen gemacht, keine unfairen Kämpfe anzufangen. Deshalb hatte er seine Faust lieber dem Wichser in die Fresse gerammt, der ebendiese kurz zuvor noch in Dominiks Schritt gehabt hatte. Nicht für den Blowjob wohlgemerkt. Sondern für den beschissenen Kommentar darüber, dass Domi sich lieber mit ‚echten Männern‘ abgeben sollte als mit irgendwelchen dummen Jungen.
Alex, der Besitzer des Rush-Inns, und ein anderer Gast hatten die Schlägerei umgehend aufgelöst und Erik hätte beinahe ein Hausverbot kassiert. Nachdem zwischen einem feuerrot angelaufenen Dominik, dem Wichser mit der vermutlich angebrochenen Nase und Eriks eigenen wütenden Fauchen endlich rausgekommen war, was sich abgespielt hatte, kam Erik allerdings mit einer Verwarnung davon.
Alex hatte wahrscheinlich Mitleid gehabt. Etwas, worauf Erik eigentlich immer und überall verzichtet hätte. Aber in diesem Fall hatte er sich den beißenden Kommentar verkniffen und es als glückliche Fügung verbucht.
Dominik und die Trennung waren trotzdem nicht der Grund dafür, dass Erik seit einer gefühlten Ewigkeit nicht ausgegangen war. Die ‚große Liebe‘ war es nicht gewesen, dieser Illusion hatte er sich nie hingegeben. Mal ehrlich, wer fand die denn bitte mit siebzehn in irgendwelchen Klubs, aus denen man rausgeschmissen wurde, sobald sich der Abend Mitternacht näherte?
Das Interesse daran, sich gleich wieder ernsthaft auf jemanden einzulassen, war trotzdem nicht da – bis heute nicht. Die Art und Weise, wie es geendet hatte, war zu demütigend gewesen.
Erik wollte gar nicht wissen, wie oft Dominik mit anderen Kerlen rumgevögelt hatte, während sie angeblich ‚exklusiv‘ zusammen gewesen waren. Wenigstens war der HIV Test negativ, den Erik an einem Tag klaren Verstandes ein paar Wochen später heimlich bei einem Arzt hatte machen lassen, den seine Mutter garantiert nicht kannte. Nur zur Sicherheit. Ausgegangen war er seit dem nur einmal. Und der Versuch, einen anderen Mann anzusprechen daran gescheitert, dass Erik keinen Plan gehabt hatte, was er sagen sollte. In der Hinsicht war er wohl wirklich noch ein dummer Junge.
Für alle körperlichen Bedürfnisse sorgte Erik zumindest seitdem dank des Internets alleine.
Eine Frauenstimme verkündete über die Lautsprecheranlage des Busses die nächste Haltestelle. Schloss noch für eine Sekunde die Augen, dann erhob er sich.
Mit einem tiefen Atemzug sog Erik die kühler werdende Luft des Abends ein, nachdem er aus dem Bus gestiegen war. Zeit, das endgültig alles hinter sich zu lassen. Genauso wie die Folgen, die sie gehabt hatte. Dominik war die Vergangenheit. Eine, zu der Erik nicht zurückkehren wollte.