25 – Finsternis und Feuerwerk
Die Zeit zwischen den Feiertagen war wie im Flug vergangen. Während Erik abends bei Alex in der Bar stand, verbrachte er die Tage großteils damit, zu schlafen oder vor dem Fernseher zu hängen. Nicht, dass das Programm sonderlich interessant gewesen wäre. Aber es reichte zumindest dafür, Erik von den Hausaufgaben abzulenken. Denn wenigstens diese eine, ganz bestimmte, schob er weiterhin vor sich her. Wobei Berger ohnehin einer der wenigen Lehrer gewesen war, die ihnen überhaupt etwas über die Feiertage aufgegeben hatten.
Nachdenklich schob Erik sich ein paar Chips in den Mund, während er mit geschlossenen Augen im Sessel hing. Seine Mutter war zum Dienst gegangen und würde erst irgendwann in der Nacht nach Hause kommen. Am liebsten würde Erik ebenso zur Arbeit verschwinden. Aber Alex hatte darauf bestanden, dass er wenigstens diesen einen Abend freinehmen würde.
‚Immerhin hast du auf diese Weise, die Schicht morgen an Silvester bekommen.‘ Erik grinste zufrieden. Das würde hoffentlich genauso viel Trinkgeld geben, wie an Weihnachten.
Nachdem Eriks Mutter über den Jahreswechsel ebenfalls zum Dienst antreten würde, war die Schicht im Rush-Inn für diese Nacht ein echter Glücksgriff gewesen. Zwar hatte Erik sich nie wirklich etwas aus Silvester, Feuerwerk und dem ganzen Kram gemacht. Den Abend wollte er aber trotzdem nicht allein zu Hause verbringen. Tatsächlich hatte Erik ein paar Mal darüber nachgedacht, ob er den Abend als Gast im Rush-Inn aufschlagen wollte. Aber irgendwie fühlte sich das nicht richtig an.
‚Versuchung ist ein Biest‘, wisperte es in Eriks Kopf. Missmutig stopfte er sich ein paar weitere Chips in den Mund.
Von wegen. War ja nicht so, als ob Erik hätte dorthin gehen wollen, um mit jemandem ins Bett zu steigen. Zugegeben war er nicht einmal ernsthaft auf diesen Gedanken gekommen. Auch wenn diese verfluchte Stimme in seinem Kopf etwas anderes behauptete.
‚Deshalb verschwindest du ja zwei bis dreimal täglich ins Bad. Weil du dabei an Tom denkst‘, flüsterte es hämisch weiter. Verflucht noch einmal! Wieso konnte ihn sein dämliches Hirn nicht einmal in Ruhe lassen?
Wütend auf die beschissene Stimme in seinem Kopf und noch viel mehr über sich selbst, weil er wieder kein Argument gegen sie hatte, stellte Erik die inzwischen leere Schüssel auf den Couchtisch. Mit einer kurzen Bewegung wischte er sich recht unfein die Finger am T-Shirt ab.
Da das Fernsehprogramm ohnehin unterirdisch war, stapfte Erik kurz darauf in sein Zimmer und ließ sich auf das Bett fallen. Jetzt wusste er wieder nichts mit sich anzufangen. Aus dem Augenwinkel schielt Erik zum Schreibtisch. Vielleicht sollte er sich endlich diese blöde Hausaufgabe von Berger ansehen.
Aber der Gedanke versetzte ihm einen Stich in den Magen. Also richtete Erik sich kurz auf und zog sich den Laptop heran. Vielleicht fand sich ja im Netz irgendetwas, das ihn ablenken würde.
‚Pornos finden sich überall‘, höhnte es erneut in Eriks Kopf.
„Dafür brauch ich kein Internet“, knurrte er wütend und fuhr kurz darauf zusammen. Allmählich fing es an, reichlich beängstigend zu werden, wenn er jetzt schon Gespräche mit diesem Arschloch in seinem Kopf führte.
Es wurde Zeit, dass Tom zurückkam. Der schaffte es wenigstens, Erik für eine Weile von den Problemen und den verfluchten Bildern abzulenken. Seit er Berger auf dem Kirchplatz getroffen hatte, spukte der wieder deutlich zu intensiv in Eriks Fantasien herum. Schlimmer noch, es wurde zunehmend schwerer, den Kerl durch Tom zu ersetzen.
‚Der sich im Übrigen bisher nur kurz gemeldet und auch auf deine mehrfachen Nachfragen hin, nichts dazu gesagt hat, wann er zurückkommt.‘
Erik stöhnte und öffnete den Browser. Bevor er den ersten Link aufgerufen hatte, stoppte er sich erneut. Stattdessen wanderte der Mauszeiger weiter nach rechts und ehe er es sich versah, hatte er das dämliche Icon schon angeklickt.
Kaum war Eriks Blick auf einen inzwischen langhaarigen Dominik im Weihnachtsengelkostüm gefallen, schloss er den Tab schnell wieder. Warum hatte er auf das dämliche Bookmark geklickt? Weshalb hatte er es nicht schon vor Monaten gelöscht?
War ja nicht so, dass er Dominik hinterher trauerte. Das blöde Ziehen in Eriks Bauch bestand allerdings darauf, dass er wissen wollte, wie sein dummer Ex die Feiertage verbrachte. Ob das Anabolikaopfer bei ihm gewesen war? Ganz sicher war Domi nicht der Typ Mann, der Heiligabend alleine oder im Rush-Inn abhing. Und dass er nicht dort gewesen war, wusste Erik nur zu genau. Das zwischen Domi und ihm war anders gelaufen, als diese Sache mit Tom. Wobei Letzterer deutlich weniger nervig war.
‚Weil er nie da ist.‘
„Ach verdammt!“, zischte Erik ungehalte. Er wollte doch nicht mehr über Dominik nachdenken. Und schon gleich gar nicht, sollte Erik seinen Ex mit Tom vergleichen.
Erneut sah er zum Schreibtisch. Seufzend stand Erik auf und stellte den Laptop ab. Als er die Blätter heranzog, die Berger ausgeteilt hatte, verengte sich sein Hals sofort. Bisher hatte Erik vermieden, sich die blöden Zettel allzu gründlich anzusehen. Morgen war Silvester und das hieß, dass am Montag darauf die Schule wieder anfangen würde.
‚Bring es einfach hinter dich‘, versuchte Erik sich zu ermutigen. Half allerdings nicht viel.
Er seufzte, atmete ein weiteres Mal tief durch und widmete sich zunächst dem Text, den sie lesen sollten. Gelangweilt scannte Erik lediglich flüchtig über die Zeilen, nur um sich am Ende stirnrunzelnd nach hinten zu lehnen. Das Paar in dem Interview war seit vierzig Jahren verheiratet und offenbar durch einige Höhen und Tiefen gewandert. Keine Kinder, kaum Freunde und trotzdem waren sie glücklich. Sagten sie jedenfalls.
Schnell schüttelte Erik den Kopf. Aber die Frage, ob er jemals so einen Punkt erreichen würde, verschwand einfach nicht. Weniger den Teil mit ‚seit vierzig Jahren verheiratet‘. Da legte Erik keinen Wert drauf. Nein, es war dieses Gefühl von Zufriedenheit, das der Text ihm vermittelte. Obwohl die beiden nichts von dem hatten, was sonst doch immer als so wichtig vermittelt wurde.
‚Sie haben nur sich. Und das reicht ihnen.‘
Erik seufzte und versuchte erneut, den Gedanken fortzuschieben. Um sich wenigstens einigermaßen abzulenken, füllte er hastig die Fragen zum Text aus. Damit fertig ließ er sich erneut im Stuhl zurückfallen.
‚Nur noch die verfluchte Liste‘, sagte Erik sich, als ob ihm das die nötige Kraft geben würde, um diesen Teil der Hausaufgaben ebenso zu erledigen.
Die Aufgabenstellung gab vor, dass Erik für jede der aufgelisteten Personen angeben musste, welches Rollenbild er diesem Menschen in seinem Leben zuordnen würde. Aber schon beim ersten Eintrag stockte er.
„Mutter“, murmelte Erik vor sich hin. Was sollte er da bitte schreiben?! Das hier war so was von dämlich! Den ‚Vater‘ in der zweiten Zeile strich er vorsorglich schon einmal durch. Beim nächsten Punkt stand ‚Geschwister‘ und auch das war kurz darauf durchgestrichen.
„Und jetzt?“, fragte Erik sich selbst.
Freunde hatte er ja offenbar keine mehr und Mirek oder die anderen Jungen aus früheren Tagen würde er hier sicherlich nicht eintragen. Erik schluckte. Seine Hand zitterte leicht, als er mit heftig klopfendem Herzen in die nächste Zeile ‚T.‘ eintrug. Ganz sicher würde Erik dem Arschloch Berger nicht auf die Nase binden, wie Tom hieß.
Bei dem Versuch, in das Kästchen daneben, dessen Rolle in seinem Leben zu definieren, versagte Erik erneut. Er wollte ‚Liebesbeziehung‘ eintragen. Aber das traf es ganz offensichtlich zumindest bisher nicht. Irgendwann würde Erik mit Tom darüber reden müssen, im Augenblick hieß das jedoch nur eines. Seufzend schrieb er ein, in seinem Fall ja ohnehin zweideutiges, ‚Freund‘ in die zweite Spalte.
„Was für ein Scheiß“, nuschelte Erik erneut und schloss die Augen. War sein Leben tatsächlich so beschissen, dass das die ganze Liste war?!
Wieder kamen ihm Bergers Worte in den Sinn – diesmal jedoch die aus dem Unterricht. Beziehungen hatte man zu allen, die man kannte. Aber die spielten schließlich nicht automatisch eine Rolle in seinem Leben, oder? Trotzdem trug Erik einer spontanen Eingebung folgend, in der nächsten Zeile Alex und Herrn Ceylan als ‚A./C.‘ mit der Rolle ‚Arbeitgeber‘ ein. Darüber weiter gedacht fand ebenso Benny als Kollege einen Platz auf der Liste.
Nach einem kurzen Grinsen fügte Erik Sandro, Oliver und Luca als ‚aversive Beziehung‘ hinzu. Toms WG Bewohner schafften es als ‚Bekannte‘ auf die Liste. Und es kostete Erik nur ein kurzes Zögern, bevor ‚D.‘ als ‚Ex’ sich ebenfalls einreihte. Je länger er darüber nachdachte, desto einfacher schien die Aufgabe zu sein. Erik war sogar für einen Moment versucht, Berger und alle anderen Lehrer zu notieren. Immerhin führte er auch mit denen eine Art von Beziehung.
Bei dem Gedanken stockte Erik jedoch schlagartig. „Scheiße!“, zischte er und sah auf seinen Block hinunter. Das hatte er jetzt nicht wirklich gerade gedacht!
In Eriks Ohren rauschte es im gleichen hastigen Rhythmus, der schon wieder hinter seinen Rippen hämmerte. Gerade mit diesem Blödmann Berger wollte Erik ganz sicher keine Beziehung haben. Erst Recht nicht, wenn die im Grunde nur daraus bestand, dass sie Lehrer und Schüler waren.
Erik schluckte, denn die Bilder aus diesem verfluchten Aufsatz tauchten schon wieder in seinem Kopf auf. Berger, wie er am Lehrertisch saß, ganz darauf konzentriert, irgendwelche Aufgaben zu kontrollieren. Fast so, wie Erik ihn an dem verdammten Samstag damals im September vorgefunden hatte.
Am Anfang würde der Mistkerl sich sträuben. Nicht wirklich wehren, denn im Grunde wartete Berger ja darauf. Dieses Grinsen, die herausfordernden Blicke. Der Kerl verlangte förmlich danach, gevögelt zu werden. Jedenfalls behauptete Eriks inneres Arschloch das ständig. Alles andere wäre aber ohnehin verflucht gestört! Er schloss die Augen und versuchte, die Bilder zurück zu drängen. Aber jetzt, wo die Tore zu dieser Fantasie einmal entriegelt waren, wurden sie förmlich aufgerissen und es stürmte wie die Flutwelle aus den geöffneten Schleusentoren eines Staudamms auf ihn herein.
Erik wollte sich nehmen, was er fast jeden verfluchten Tag in der Schule gesehen hatte. Dieses rote Tuch, das vor seiner Nase herumgewedelt wurde und ihn zu einem geradezu tollwütigen Stier mutieren ließ. Anders waren diese beschissenen Fantasien nicht zu erklären!
Ein Krächzen entkam Erik, als er den Stift über den Schreibtisch pfefferte und die Handballen gegen seine Augen presste. Aber die Bilder verschwanden nicht. Es war nicht Tom, denn der würde so etwas nie mit sich machen lassen.
„Scheiße ...“, wimmerte Erik leise, während er die Beine zusammenpresste und weiter darum kämpfte, die Bilder zu verdrängen.
Erik wollte die Hände nicht runternehmen und schon gleich gar nicht, wollte er ins Bad stürmen, um dieser Fantasie freien Lauf zu lassen. Aber die Bilder preschten weiter auf ihn ein. Berger, der ihn mit einem hinterhältigen Grinsen ansah und fragte, was Erik dachte, dass er hier trieb. Es war dem Blödmann ins Gesicht geschrieben, dass er es wollte, nur darauf wartete. Erik provozierte, damit er endlich aufhörte, sich zurückzuhalten. Und stattdessen Berger das gab, was der wirklich brauchte.
„Es ist nicht echt“, wisperte Erik erneut.
Aber auch das half nicht. Denn schon hörte er Bergers Stimme, wie sie ihn weiter provozierte. Fragte, ob Erik tatsächlich glaubte, hier seinen Mann stehen zu können, wo er tief in seinem Inneren doch nur ein jämmerliches, feiges Kind war.
‚Sei kein Weichei‘, flüsterte die verfluchte Stimme Erik zu. ‚Er will es. Du brauchst ihn dir nur zu nehmen. Dann gehört er zu dir.‘
Erik sprang so hastig auf, dass der Stuhl nach hinten wegrollte. Mehr stolpernd als laufend schaffte er es ins Bad und drehte das kalte Wasser unter der Dusche auf. Erst als Erik, vollständig bekleidet und bibbernd, dafür mit allmählich ruhiger werdendem Herzschlag dort saß, verschwanden die Bilder langsam.
„Er gehört aber nicht zu mir“, krächzte Erik geradezu verzweifelt.
‚Genauso wenig wie Tom. Oder irgendjemand sonst. Weil du zu feige bist!‘
Im Nachhinein betrachtet, hatte Erik keine Ahnung, wie lange er zitternd in der Dusche saß, bevor er sich und seinen offensichtlich durchgedrehten Verstand so weit beruhigt hatte, dass er sich aus seinen nassen Klamotten schälen konnte. Glücklicherweise brachte nicht einmal das warme Wasser der Dusche die verdammten Bilder zurück. Am liebsten hätte Erik Berger die Schuld an diesem kranken Mist in seinem Kopf gegeben, aber der war vermutlich der Letzte, den er dafür verantwortlich machen sollte.
„Womöglich hat Sandro eben doch recht“, flüsterte Erik leise, während er in das Bett und unter die Decke kroch.
Der Gedanke stach ihm unangenehm in den Magen. Er wollte diesen Mist nicht denken. Es war absurd. Und falsch. Aber je öfter Erik sich das sagte, desto lauter wurde diese verfluchte Stimme in seinem Kopf, die darauf bestand, dass Berger ihn schon vor Monaten hatte melden können. Trotzdem hatte der Kerl genau das nicht getan.
‚Weil er es will‘, flüsterte es erneut in Eriks Kopf.
„Nein“, wisperte er und presste die Augen zusammen. „Niemand will das.“
Ein weiteres Zittern lief durch Eriks Körper, als er gegen die Verführung dieser beschissenen Stimme ankämpfte. Immer wieder sagte er sich, dass es Tom war, der zu ihm gehörte, dass er den wollte – und nicht Berger oder irgendwelche kranken Hirngespinste. Aber je länger Erik versuchte, sich das einzureden, desto deutlicher wurde die Angst davor, dass genau das nie passieren würde.
Leise fluchend sagte Erik sich immer wieder, dass er Tom schließlich nicht ‚besitzen‘ wollte. Er sollte nicht ihm gehören, sondern zu ihm. Das wäre doch normal, oder? Erik wollte nicht der verdammte Fickbuddy sein, den Nora durch die zu dünne Zimmerwand hörte. Kein verfluchter ‚Freund‘. Und erst recht wollte Erik nicht den ‚Gast‘ in Toms Wohngemeinschaft darstellen.
Nein, was er brauchte, war etwas anderes. „Mein Freund“, flüsterte er verhalten. So sollte Tom ihn nennen, denn das war es, was Erik über eben den sagen können wollte. Angesichts der Tatsache, dass er seit Toms Abreise nur einen kurzen Gruß am ersten Feiertag erhalten hatte, schien diese Möglichkeit stetig weiter in die Ferne zu rücken.
‚Wenn du etwas ändern willst, dann höre endlich auf, rum zu heulen‘, keifte ihn seine innere Stimme beleidigt an.
Eriks Blick verfinsterte sich. Richtig. Obwohl er dem gestörten Arschloch in seinem Kopf in letzter Zeit selten zustimmen konnte. Aber damit hatte der Mistkerl definitiv recht.
Ein kurzes Flattern wanderte durch Eriks Bauch, als er sich entschlossen auf den Rücken drehte und zur Decke starrte. Er musste mit Tom reden, sagte er sich immer wieder.
„Und wenn er Schluss macht?“
Erik schluckte. Es half aber nicht gegen den Druck, der sich einmal mehr in seinem Hals und der Brust aufbaute. Immerhin würde es ihm wenigstens in dieser Hinsicht Klarheit verschaffen. Der Gedanke, dass das bisschen, was zwischen ihm und Tom lief, damit endete, gefiel Erik trotzdem nicht.
Dabei war es doch gerade diese Unverfänglichkeit gewesen, die ihn am Anfang an der Sache mit Tom gereizt hatte. Keine komplizierte Beziehung, bei der man an Jahrestage oder irgendwelchen anderen Schnickschnack denken musste. Keine aufgesetzten Liebesschwüre oder sexuelle Durststrecken, weil man den verdammten Abwasch nicht gemacht hatte.
Hoffentlich würde in ein paar Tagen alles besser aussehen. Schließlich sagte man ja nicht ohne Grund: Neues Jahr, neues Glück.
✑
Allerdings kam dieses vielversprechende und Hoffnung erweckende neue Jahr nicht so schnell, wie Erik es sich gewünscht hätte. Um genau zu sein, zog sich der Silvestertag wie Kaugummi in die Länge. Da half auch kein gut gemeinter Ablenkungsversuch. In seiner Verzweiflung hatte Erik sich sogar dazu aufgerafft sein Zimmer aufzuräumen und die Wäsche zu erledigen.
Nachdem die vergangene Nacht eher unruhig und mit wenig Schlaf gesegnet gewesen war, hätte er vielleicht müde sein sollen. Tatsächlich fühlte Erik sich aber mit mehr Energie ausgestattet als je zuvor. Zumindest reicht die Ablenkung durch das Putzen, damit die beschissenen Gedanken der letzten Nacht nicht wieder in ihm aufsteigen konnten. Dummerweise hielt diese Abwechslung nur bis zum frühen Nachmittag.
„Was ist denn hier passiert?“, fragte seine Mutter verwundert, als sie in die geradezu glänzende Küche trat, in der Erik am Esstisch saß und sich an die frisch zubereitete Tomatensoße mit Nudeln hielt.
„Hab gekocht“, nuschelte Erik, ohne sie anzusehen.
„Scheinbar nicht nur das ...“
Etwas beschämt stocherte er in den Nudeln. „Dachte, einmal im Jahr aufräumen kann nicht schaden.“
Eriks Mutter lächelte, als sie sich mit einem Teller zu ihm setzte und sich ebenfalls eine Portion nahm. „Gefällt mir. Kannst du gern öfter machen“, entgegnete sie mit einem breiten Grinsen.
Erik zuckte mit den Schultern, antwortete jedoch nicht. Ihm war klar, dass er sich im letzten Jahr nicht wie der Mustersohn verhalten hatte, den sie verdiente. Letztendlich war er das aber eben nicht. Und sicher wollte Erik nicht, dass sie jemals herausfand, was mitunter in seinem Kopf alles vorging.
„Was machst du denn heute Abend?“, fragte seine Mutter plötzlich. „Triffst du dich mit Freunden?“
Erstaunlicherweise schaffte Erik es, bei der Frage nicht zusammenzuzucken. „Ja“, log er lapidar, ohne aufzublicken. Vielleicht wäre es eine Gelegenheit gewesen, ihr von dem Job bei Alex zu erzählen. Aber Erik war sich nicht sicher, was sie davon halten würde. Und das Jahr mit einem Streit beenden wollte er nicht. Zumal der sich zwangsläufig in das neue ziehen würde.
‚Lieber beginnst du es mit einer Lüge?‘
Erik versuchte, aus dem Augenwinkel zu seiner Mutter zu schielen, die sich zufrieden die ersten Löffel Nudeln gönnte. „Die ist lecker geworden“, meinte sie beiläufig und lächelte wieder.
„Danke“, murmelte er verhalten. „Ist ja nicht gerade schwer.“
Für ein paar Minuten herrschte Schweigen, dann hakte Eriks Mutter nach: „Feiert ihr bei jemandem zu Hause oder geht ihr irgendwo hin?“
Hastig schob er sich einen Löffel Nudeln in den Mund, um nicht sofort antworten zu müssen. Eigentlich wollte Erik sie nicht anlügen, deshalb hatte er gehofft, dass sie es auf sich beruhen lassen würde.
„Eine Bar“, murmelte er irgendwann.
Das war wenigstens nicht gelogen, denn er würde sich schließlich bis deutlich nach Mitternacht bei Alex aufhalten. Normalerweise schickte er Erik zwar Punkt zwölf heim, für den Jahreswechsel würde Alexander allerdings eine Ausnahme machen.
Eriks Mutter verzog den Mund, offenbar wenig begeistert. Nun, genau deshalb hatte er ihr nicht erzählt, dass er dort arbeitete. Er wusste nur zu gut, was sie von Alkohol hielt. Und eine ‚Bar‘ klang vermutlich nicht sonderlich vertrauenseinflößend für sie.
„Es ist mehr so eine kleine gemütliche Kneipe“, fügte Erik zögerlich hinzu. Aus dem Augenwinkel glaubte er erkennen, dass sie das etwas milder zu stimmen schien. Wirklich beruhigt war sie aber nicht.
Erik konnte sehen, wie sie schluckte – und sicherlich nicht das Essen, denn das schien ihr gerade eher im Halse stecken zu bleiben. „Trink nicht so viel, ja?“
„Höchstens zum Anstoßen um Mitternacht. Versprochen.“
Für einen Moment glaubte Erik, dass seine Mutter noch etwas sagen wollte. Wenn dem so war, verkniff sie es sich allerdings. Stattdessen ass sie schweigend auf und räumte anschließend den Teller weg. Als sie sich anschickte, die Küche zu verlassen, wuschelte sie ihm durch die kurzen blonden Haare.
„Danke Erik. Du bist ein guter Junge.“
Er schaffte es erneut, bei ihren Worten nicht zusammenzuzucken. Stattdessen starrte Erik betreten auf die restliche Portion auf dem Teller vor ihm und wünschte sich, dass sie die Worte wirklich so meinte. Dass wenigstens sie diesen ‚guten Jungen‘ in ihm sehen konnte, den Erik selbst schon lange nicht mehr erkennen konnte. Weder den Jungen noch das Gute.
Erst als er die Schlafzimmertür zufallen hörte, schaufelte Erik sich hastig die letzten Reste rein und räumte den Teller in die Spülmaschine. Ihre Worte lagen ihm jedoch, als er in sein Zimmer trat, noch wie ein tonnenschwerer Stein im Magen. Langsam schloss Erik die Tür hinter sich.
Ohne dass er es wollte, wanderte sein Blick zu Bergers verfluchter Liste auf dem Schreibtisch. Prompt begann es in Eriks Inneren zu Ziehen und zu Reißen. Er ließ den Kopf hängen und lehnte sich gegen die geschlossene Tür.
Wenn seine Mutter wüsste, was in Eriks Hirn vor sich ging, würde sich ihr der Magen umdrehen. Sie würde ihn verabscheuen und hassen. Und vermutlich hätte sie damit recht. Er verstand ja selbst nicht mehr, wieso diese Fantasien sich immer wieder in seinen Kopf schlichen – und warum sie stetig deutlicher wurden, anstatt endlich zu verschwinden. Schließlich hatte er Tom. Irgendwie zumindest.
Erst als er die Tür zum Schlafzimmer hörte, wurde Erik klar, dass er immer noch an die Zimmertür gelehnt stand. Hastig stieß er sich davon ab und stürzte zum Schreibtisch. Gerade hatte er sich gesetzt, als es an der Tür klopfte.
„Herein“, rief Erik, darum hoffend, dass seine Stimme nicht so sehr bebte, wie es sich für ihn anhörte.
„Ich geh zum Dienst, Erik. Viel Spaß mit deinen Freunden.“
Er drehte sich halb herum und zwang sich ein Lächeln ab. „Wir sehen uns im nächsten Jahr.“
Sie lächelte und nickte. „Richtig. Bis nächstes Jahr“, erwiderte sie mit einem kurzen Lachen. Danach war sie verschwunden.
Als die Wohnungstür ins Schloss fiel, atmete Erik erleichtert aus. Irgendwie musste er diesen Mist aus seinem Kopf bekommen, bevor das noch schlimmer wurde. Aber der Einzige, der die Bilder hatte zurückhalten können, war Tom – und der war bekanntlich nicht in der Gegend.
‚Dann such dir halt jemanden. Das Rush-Inn wird voll sein. Ist doch nicht so schwer.‘
Geradezu angewidert verzogt Erik das Gesicht. Da versuchte er ständig, sich einzureden, dass er von Tom mehr als nur Sex wollte, sondern eine Beziehung und dann kam neben dem ganzen gestörten Mist solche Gedanken aus diesem verdrehten Hirn heraus.
Trotzdem beschloss Erik, eher aufzubrechen als notwendig. Zwar würde er nicht deutlich vor dem Dienst im Rush-Inn aufschlagen können – und schon gar nicht um sich einen Kerl zu angeln – aber etwas frische Luft würde vielleicht diese Gedanken vertreiben. Zwar nicht so gut wie die Ablenkung durch einen gewissen schwarzhaarigen Jemand, aber es wäre zumindest etwas.
Die Unruhe konnte der Spaziergang jedoch nicht vertreiben. Also gab Erik irgendwann auf und stieg in den Bus. So war er zwar zwanzig Minuten vor Arbeitsbeginn im Rush-Inn, aber Alex nahm es gelassen. Genaugenommen war er recht froh, dass Erik zu früh auftauchte, denn die kleine Kneipe war quasi kurz davor aus allen Nähten zu platzen.
Es war nicht das erste Mal, dass Erik die Bar gut besucht sah. Aber so voll wie heute war es bei keinem seiner bisherigen Besuche gewesen. Auch schien die Stimmung bereits jetzt, mehr als vier Stunden vor Mitternacht, reichlich ausgelassen zu sein.
„Du hast einen sechsten Sinn, wann du gebraucht wirst, oder?“, rief Alex grinsend von der Bar aus. „Na los, zieh dich hinten um. Es gibt mehr als genug Gäste, die etwas zu Trinken brauchen.“
Hastig kämpfte Erik sich durch den überfüllten Gastraum und schaffte es in das Hinterzimmer. Schnell hing er Rucksack und Parka an die Garderobe. Alex hatte wie immer eine Weste für Erik bereitgelegt, die er ebenfalls schnell überstreifte. Kurz darauf stand Erik hinter dem Tresen und schenkte das erste Bier aus.
Die vier folgenden Stunden vergingen schneller, als er es jemals für möglich gehalten hatte. Glücklicherweise war heute von den Trauergestalten, die am Heiligen Abend hier gesessen hatten, nichts zu sehen. Im Gegenteil. Die Stimmung war ausgesprochen gut. Vielleicht war das ja der Grund, warum Erik beinahe den Jahreswechsel verpasst hätte.
Allerdings hatte Alex da scheinbar seine ganz eigene Tradition, denn pünktlich fünf Minuten vor zwölf liefen die Zapfhähne ein letztes Mal in diesem Jahr heiß, damit auch ja jeder versorgt war. Und den dreißig Sekunden Countdown zählte gefühlt das gesamte Publikum im Chor herunter. Punkt Mitternacht ließ Alex eine Tröte erklingen, die vermutlich die halbe Nachbarschaft wecken konnte.
Wer in dieser Nacht schlief, war allerdings selbst schuld.
Es war lächerlich, aber trotzdem irgendwie schön – und lustig. Erik konnte das Grinsen gar nicht mehr wegstecken, als Benny lautstark verkündete, dass es gefälligst das ‚beschissen beste Jahr seines Lebens‘ zu werden hatte. Und daraufhin sich gleich drei Herren freiwillig meldeten, ihm den Jahresanfang zu versüßen.
„Klärt so etwas nach der Schicht“, fuhr Alex lachend dazwischen. „Ihr kennt die Regeln.“ Danach winkte er Benny vom Tresen herunter, damit der mit seiner großartiger Laune zurück an die Arbeit gehen konnte.
Danach kam Alex zu Erik hinüber, der weiterhin grinsend etwas am Rand der Bar stand und das Treiben der Kollegen beobachtete. „Wenigstens stehst du ruhig hier und grinst nur.“ Bevor Erik etwas sagen konnte, landete eine kräftige Hand auf seiner Schulter und drückte kurz zu. „Frohes neues Jahr, Erik. Und danke, Mann. Du warst mir in der Woche eine echte Hilfe. Ich hoffe, die Typen haben dich nicht vergrault und du machst weiter.“
Schnell nickte Erik. Klar war es anstrengend, die ganze Zeit hinter dem Tresen zu stehen, aber im Grunde machte die Arbeit Spaß. Und bisher hatte Erik es ja erfolgreich vermeiden können, sich mit den Labertaschen abgeben zu müssen.
Alex zufriedenes Grinsen war ansteckend. „Sehr gut. Wenn du Zeit hast ... ich denke bis eins werden sich die meisten verkrümelt haben. Aber bis dahin kannst du gerne noch bleiben und die Meute versorgen.“
Erik stimmte zu. Die Stimmung war gerade zu gut und das zusätzliche Trinkgeld konnte schließlich ebenfalls nicht schaden.
Alexanders Vorhersage stimmte. Der Mann führte den Laden eben doch schon ein paar Jahre. Das hier war sicherlich nicht sein erster Jahreswechsel gewesen. Kurz vor eins waren die meisten der Gäste verschwunden und nur noch so wenige da, dass Alex die drei Aushilfen nach Hause schickte.
Kaum war Erik draußen, atmete er die kühle Nachtluft ein und schloss die Augen. Wie automatisch lenkten ihn seine Schritte nach links. Inzwischen fuhren die Nachtbusse. Wenn er ein paar Straßen weiterlief, würde Erik zu einer Linie kommen, mit der er deutlich schneller in die Nähe seiner Wohnung gelangen konnte als mit der, die vor dem Rush-Inn fuhr.
Das Trinkgeld war heute, genau wie an den vorherigen Abend reichlich geflossen. Leider war nur einmal im Jahr Silvester. Aber wenn es an normalen Wochenenden nur halb so gut lief, würde Erik seinen Anteil der Klassenfahrt locker finanzieren können.
‚Wenn ich genug zusammenbekomme, braucht Ma gar nichts davon zu bezahlen‘, dachte Erik lächelnd, während er weiter in Richtung Bushaltestelle schlenderte.
Die Gedanken an die Fahrt brachten jedoch den Grund dafür, dass Erik sich entschieden hatte mitzufahren, zurück. Komischerweise fand er sich in genau dem Moment, als ihm das bewusst wurde, auf dem Platz vor der Stadtkirche wieder.
Als Erik sich umblickte, erwartete er fast, dass Berger erneut vor der Kirche stehen konnte. Stattdessen war dort aber nur eine Gruppe von Leuten, die lautstark lachend – und offensichtlich angetrunken – auf das neue Jahr anstießen.
„Etwas spät dran“, murmelte Erik vor sich hin und setzte zu einem großen Bogen an. Als er dabei an der Kirche vorbei kam, konnte er nicht widerstehen hinaufzusehen. Wieso hatte Berger hier eigentlich gestanden? Der Gottesdienst war um die Zeit sicherlich längst vorbei gewesen. Außerdem hatte der Kerl nicht ausgesehen, als ob er vorgehabt hatte reinzugehen.
‚Vielleicht ist er gläubig oder so etwas‘, überlegte Erik, bevor er missmutig den Kopf schüttelte. Berger konnte ihm egal sein. Genauso wie er diese bescheuerte Idee für die Abschlussfahrt besser ganz weit von sich schob.
‚Warum?‘
„Weil es total krank ist“, zischte Erik sich selbst an und zuckte prompt zusammen, nachdem er merkte, dass er die Worte laut gesagt hatte. Glücklicherweise war niemand in der Nähe, der ihn hätte hören können. Seufzend setzte Erik sich auf die Stufen zum Eingang der Kirche und starrte auf den in der Tat inzwischen menschenleeren Platz.
Je länger er dort saß, desto mehr begann irgendetwas in Eriks Bauch zu rumoren. Das gleiche Etwas, das ihn bereits am Vortag in den Wahnsinn getrieben hatte. Hastig sprang Erik auf und stapfte durch die Nacht in Richtung Bushaltestelle. Je eher er nach Hause und ins Bett kam, um sich auszuschlafen, desto besser. Mit jedem Schritt wurde das unschöne Gefühl in seinem Magen jedoch stärker.
Da war weiterhin dieser absurde Gedanke, dass er keine Lust mehr hatte sich ständig zurückhalten zu müssen. Weder bei Tom noch bei Berger. Bei Ersterem wäre es zumindest ein Anfang, wenn Erik sich wenigstens beim Sex einmal richtig austoben dürfte. Zumal Tom selbst nicht gerade zimperlich war, was das betraf.
‚Und Berger?‘
Erik zuckte zusammen und vergrub die Hände tiefer in den Jackentaschen. Half aber nicht wirklich gegen das Kribbeln, das allmählich in seinem Schritt einsetzte. Zumindest der schien sehr genau zu wissen, was er mit dem blöden Lehrer nur zu gern anstellen würde. Hastig ließ Erik einen weiteren Blick über den menschenleeren Platz schweifen – nur um sicherzustellen, dass er noch immer alleine war.
‚Du willst ihn‘, flüsterte es erneut in seinem Kopf. Erik kniff die Augen zusammen und zog zischend die Luft ein – in der irrigen Hoffnung, dass das irgendetwas bringen würde. ‚Er würde es keinem erzählen.‘
Irgendwie musste er diesen fixen Gedanken loswerden. Berger war verflucht noch einmal ein Lehrer! Und ein Blödmann obendrein. Ständig irgendwelche dämlichen Aufgaben. Die verdammte Pornopoesie und jetzt dieser ganze Beziehungsscheiß!
Als ob Erik nicht genug Probleme hätte. Nein, da musste sein krankes Hirn sich zusätzliche machen, indem es ihm vorgaukelte, der Kerl könnte Gefallen daran finden, wenn jemand ihn auf diese Weise überfiel.
„Verdammt noch einmal ...“, flüsterte Erik leise. „Das muss aufhören.“
Er wollte diese beschissenen Fantasien nicht mehr in seinem Kopf haben. Sich vorzustellen mit jemandem zu schlafen war eine Sache, aber die fixe Idee, Berger bei der Klassenfahrt dermaßen bloßzustellen war schlichtweg falsch. Am Anfang war es dieser Durst nach Rache gewesen, der Erik auf die Idee gebracht hatte. Aber wofür wollte er sich denn rächen? Es war Berger, der vielmehr jeden Grund hätte, Erik fertigzumachen.
Ganz davon abgesehen, dass er damit riskieren würde, kurz vor den Prüfungen von der Schule zu fliegen. All die Jahre umsonst, die Mühe, die Qual. Und seine Mutter? Die Enttäuschung konnte er ihr nicht antun.
Eriks Herzschlag wurde schneller. Bisher hatte er Angst davor gehabt, wie sie darauf reagieren würde, wenn er ihr erzählte, dass er auf Männer stand. Das hier war eine vollkommen andere Hausnummer.
Mit einem Mal kam da die Erinnerung an seinen Vater in Erik auf. Sein Blick verfinsterte sich. Ganz sicher wollte er nicht so ein Arschloch wie der werden. Wo auch immer der Mistkerl sich inzwischen rumtrieb.