Epilog
Das hier war scheiße. Und je länger es andauerte, desto beschissener wurde es. Wobei es im Grunde an sich schon hirnrissig war, so zu denken. Wenn etwas Scheiße war, dann konnte es wohl kaum noch schlimmer werden. Tat es aber. Sekündlich. Selbstfolter auf höchstem Niveau.
Genervt nahm er einen Schluck aus dem Bierglas und senkte den Kopf. Damit der Alkohol half, würde Bier nicht ausreichen. Aber besaufen war auch nicht die Lösung. Jedenfalls keine, die jemals funktioniert hätte. Zumindest konnte er sich nicht erinnern, dass irgendwann einmal irgendwas durch Komasaufen besser geworden war. Meistens wurde es deutlich beschissener.
Womit er wieder bei dem Gedanken war, dass es im Grunde nicht schlimmer werden konnte.
Okay, manchmal ließ der Alkohol einen vergessen, dass man sich selbst wie ein Arschloch aufgeführt hatte. Womöglich sogar das eine oder andere, was um einen herum passiert war. Aber im Grunde? Nein, es half nicht. Nicht dauerhaft. Nicht einmal kurzfristig. Es lenkte höchstens ab. Und das brachte heute leider überhaupt nichts. Denn so viel Ablenkung, um den Anblick dort drüben zu ertragen, konnte kein Glas der Welt aufbringen.
Betreten ließ er den Kopf hängen. Am liebsten würde er abhauen und nach Hause schleichen. Sich in sein Bett legen und für den Rest des Wochenendes dortbleiben. Schokolade könnte helfen. Aber fett wollte er nun auch nicht werden. Erst recht nicht, da er an der Situation selbst schuld war.
Verstohlen blickte er auf und hinüber zu den beiden Männern, die gut gelaunt gegenüber am anderen Ende der Bar standen und sich offensichtlich recht angeregt unterhielten. Den kurzen abschätzigen Blick über beide Gestalten konnte er nicht unterdrücken. Während der eine Kerl ihm vollkommen unbekannt war, kannte er den anderen nur zu gut.
Der nächste Schluck half leider nicht gegen das ätzende Gefühl in seinem Hals. „Lass es“, ermahnte er sich selbst leise und versuchte wegzusehen. Seine Augen hingen aber wie festgeklebt an dem Mann am anderen Ende des Tresens. Wenigstens hatte der Kerl ihn selbst bisher nicht bemerkt.
„Na? Bereust du es schon?“, fragte mit einem Mal eine leise Stimme. Deren Besitzer schob sich kurz darauf ins Sichtfeld. Blockierte damit effektiv die weitere heimliche Beobachtung.
Einen Moment lang überlegte er ernsthaft, was er erwidern wollte. Denn im Grunde würde er gern mit ‚Ja‘, antworten. Was er tatsächlich sagte, war jedoch ein leises bestimmtes: „Nein.“
„Sicher?“
Er lehnte sich nach links, damit er um den Barkeeper vor ihm herum sehen konnte. Die beiden Männer lachten, schienen sich gut zu verstehen. Der Anblick versetzte ihm einen Stich in den Magen, also sah er hastig weg und lehnte sich zurück. Denn es durfte nicht wehtun, sollte nicht.
„Ja“, murmelte er verhalten. „Ist besser so.“
Ein stummes Nicken, dann drehte Alex sich um und wandte sich anderen, gesprächsbedürftigeren Kunden zu. Auch das zählte garantiert in die Kategorie: besser so. Genau wie die Tatsache, dass die beiden Männern da vorn am anderen Ende des Tresens sich gut genug verstanden hatten, um in diesem Augenblick gemeinsam zu verschwinden.
Mit einem leisen Seufzen sah er nach unten. Den Kopf auf eine Hand gestützt starrte er auf das inzwischen fast leere Glas und versuchte, dieses beschissene Brennen in den Eingeweiden zu ignorieren. Das gehörte da nicht hin. Er wollte das nicht. Nie wieder.
„Kann ich dich mal was fragen?“, sprach ihn Alex plötzlich erneut an.
„Brauchst halt nicht mit rechnen, dass ich antworte.“
Ein kurzes Lachen, dann schob Alex ihm ein volles Glas entgegen. „Und wenn ich für deine Antwort mit einem Bier zahle?“ Er zuckte mit den Schultern, griff aber noch nicht zu. „Warum hast du ihn abserviert?“
Sein Kopf erschien zu schwer, um ihn tatsächlich zu heben, also ließ er es. Auf das blöde Glas zu starren, war einfacher. Alex sah ohnehin meistens viel zu viel in den Leuten. Sachen, die sie nicht preisgeben wollten, weil sie niemanden etwas angingen.
Das kostenlose Bier war aber verlockend, also gab er schließlich mit einem Seufzen leise zurück: „Hab ich nicht. War seine Entscheidung.“
„Nachdem du Hoffnung gesät und direkt wieder zertrampelt hattest.“
Da das keine Frage war, sah er nicht die Notwendigkeit, etwas darauf zu erwidern. Stattdessen griff er nach dem frischen Glas und schwieg. Wenn Alex die Antwort nicht reichte, würde er das Bier schon auf die Rechnung setzen.
„Warum tust du dir das an? Du solltest aufhören, dir etwas vorzumachen“, fuhr Alex jedoch unbeeindruckt fort.
„Was mache ich mir denn vor?“, fragte er lustlos zurück – nicht sicher, ob er eine Antwort hören wollte.
„Dass es das hier ist, was du willst.“
Er verzog den Mund. „Beziehungen machen nur Ärger, also warum sich damit quälen? Den ganzen Gefühlsscheiß braucht doch kein Mensch“, antwortete er gepresst, darum bemüht seine Stimme nicht so gebrochen klingen zu lassen, wie er sich fühlte.
Alex seufzte und schüttelte den Kopf.
„Wie viel schulde ich dir?“, fragte er, um einer weiteren Befragung zu entgehen.
Als Alex ihm die Summe nannte, kramte er hastig Bargeld aus den Hosentaschen und hatte damit seine Schuldigkeit für heute hoffentlich erledigt. Tatsächlich schien Alex Mitleid zu haben und ließ ihn für den Rest des geschenkten Bieres alleine. Genau wie die übrigen Gestalten in dem Laden. Diese eine, die er so ausgesprochen interessant gefunden hatte, war ja längst verschwunden. In Begleitung. Was sich weiterhin deutlich beschissener anfühlte, als es sollte. Durfte.
„Was auch immer“, murmelte er leise und trank endlich das Bier aus.
Kurz darauf trat er aus der Bar in die zu warme Sommernacht hinaus. Laut Handy war es gerade einmal elf. Eigentlich hätte er noch bleiben können. Aber die Lust war ihm vergangen – wie so oft in letzter Zeit. Dabei konnte es doch nun echt nicht so schwer sein, sich jemanden für eine Nacht auszusuchen. Hatte er schließlich schon einmal geschafft. Auch wenn es am Ende mehr als eine geworden waren.
Missmutig stapfte er nach Hause. Dort angekommen war er für einen Moment versucht, unauffällig in sein Zimmer zu schleichen, um jedem weiteren Gespräch aus dem Weg zu gehen. Aber den Abend, ohne Gesellschaft ausklingen zu lassen, klang heute noch beschissener als sonst.
Also holte er sich aus dem Kühlschrank in der Küche ein Bier und stand kurz darauf in einem Zimmer, das definitiv nicht sein eigenes war.
„Jo“, grunzte es nach einem prüfenden Seitenblick mit einem fetten Grinsen aus Richtung des Bettes. Groß, kräftig und ihm selbst ein paar Jahre voraus hockte die Grinsebacke, mit dem Rücken an die Wand gelehnt und zockte wie ein Teenager irgendein dämliches Ballerspiel.
Schweigend trat er heran und schob sich neben den Mann ans Kopfende des Bettes. Der ließ sich nicht stören, spielte einfach weiter, als wäre da nicht eben jemand zu ihm ins Bett gestiegen. Andere Leute hätte es vielleicht gestört, dass der Kerl nicht einmal sein Spiel unterbrach. Aber ihn selbst störte es nicht – schien im Moment eher zu helfen. Zumindest lenkte der Scharfschütze auf dem Bildschirm die eigenen Gedanken in eine Richtung, welche deutlich weniger emotional belastet war, als der Anblick in Alexanders Bar es gewesen war.
„Kann ich dich mal was fragen, Mario?“, unterbrach er nach ein paar Minuten blutigem Gemetzel zögerlich das Schweigen.
„Klar.“
„Wie machst du das?“
Das Spiel pausierte und sein Mitbewohner drehte mit hochgezogenen Augenbrauen den Kopf zu ihm. „Was genau, Tommy? Ist ziemlich easy das Spiel.“
Die Bierflasche war kühl zwischen den Fingern, als er sie hin und her drehte. Während er versuchte, die Worte in seinem Hirn einigermaßen zu sortieren, setzte er leise erneut an: „Dass dir die Leute, mit denen du schläfst, scheißegal sind.“
Ein kurzes humorloses Auflachen, dann landete der Controller in Toms Schoß und die Flasche dafür in Marios Hand. „Die sind mir nicht ‚scheißegal‘, wie Eure Hoheit es mal wieder so wenig gepflegt ausdrückt“, antworte der Blödmann nach einem Schluck. „Okay, es ist mir zugegeben reichlich egal, ob es Männlein oder Weiblein ist, das sich da zu mir ins Bett schleicht.“
„Aber ... du hast trotzdem keine Beziehungen“, murmelte Tom mit einem Stirnrunzeln. Zumindest nahm er das an. Wirklich darüber gesprochen hatten sie nie.
„Prinzesschen ... Ich bin ein ungehobelter Trampel, der ungefähr so viel von Gefühlen versteht, wie du vom Kochen. Keine Beziehung zu haben, ist für mich seit jeher der Normalzustand. Wer sich jemanden wie mich ernsthaft dauerhaft antut, hat sie nicht mehr alle.“
„Ich will das nicht mehr“, krächzte Tom leise.
Seufzend hob Mario den Arm und wuschelte ihm durch die Haare. „Wie lange wart ihr zusammen?“
Tom schwieg, wollte die Frage in keiner Weise beantworten. Aber Mario ließ nicht locker.
„Komm schon. Wir wissen alle, dass du das mit deinem Junior in gewisser Hinsicht absichtlich in den Sand gesetzt hast, nachdem es anfing, ernst zu werden. Also? Wer und wie lange?“, fuhr Mario fort, als keine Antwort kam.
Der Arm rutschte weiter über Toms Schulter und zog ihn kurz gegen Marios deutlich massigeren Körper. Gleichzeitig zog Tom die eigenen Arme fester um seine Knie.
„Olli. Fünf Jahre.“
„Oh, Scheiße“, fluchte Mario unterdrückt und nahm einen großen Schluck aus der konfiszierten Bierflasche. „Dein Erster?“
Ein kaum merkliches Nicken, das Tom nicht einmal sich selbst eingestanden hätte.
Mario nahm einen großen Schluck, während er Tom weiterhin an sich drückte. „Ach Mensch, Prinzesschen ...“
„Du sollst mich nicht so nennen!“
Ein kurzes Lachen, dann wuschelte Mario ihm schon wieder durch die Haare. Eigentlich sollte es nerven, aber hier zu sitzen und zu reden – oder eben nicht – war besser als die Alternative. Womöglich weil Mario im Gegensatz zu allen anderen Tom keine Vorwürfe daraus machte, dass er sich nun einmal dafür entschieden hatte, sich diesen Beziehungsscheiß nicht mehr anzutun.
Tom rieb sich die Augen und schielte kurz zu der Flasche, die Mario sorgsam außerhalb seiner Reichweite hielt. Entweder der Mann war der Meinung, Tom würde heute nichts mehr vertragen oder er teilte einfach nicht gern. Bei dem Gedanken daran, wann Tom selbst diesen Spruch zum letzten Mal gebracht hatte, zog sich sein Magen zusammen.
„Was ist passiert?“, unterbrach Mario erneut die Stille.
Eigentlich wollte Tom nicht darüber reden, trotzdem hörte er sich kurz darauf antworten: „Ich hab nur hier einen Studienplatz bekommen und Olli wollte plötzlich unbedingt nach Trier.“
Aus dem Augenwinkel konnte Tom sehen, wie Mario die Stirn runzelte, als er einen weiteren Schluck nahm. Nicht mehr lange und die Flasche wäre leer.
„Dabei hatten wir vorher schon darüber gesprochen, uns zusammen eine kleine Wohnung zu suchen“, fuhr Tom grummelnd fort.
„Hm“, brummte Mario nur, ohne einen weiteren Kommentar abzugeben.
Zunächst langsam, dann immer deutlicher konnte Tom das Brodeln in seinem Bauch spüren. Der gleiche Schwelbrand, der ihn vor bald einem Jahr erfasst hatte, als Oliver ihm von der Planänderung für ihr gemeinsames Leben erzählt hatte. Oder besser gesagt von den Plänen, die den ‚gemeinsamen‘ Teil davon ein für alle Mal beendet hatten.
„Er hätte genauso gut hier studieren können. So wie es geplant war!“, rief Tom trotzig aus, während er gegen den Kloß in seinem Hals kämpfte. „Trier ist viel zu weit weg. Und als ich Olli das gesagt hab, da ... Er meinte, dass das dann wohl die Gelegenheit sei ... Dass wir auch ... andere Erfahrungen ... sammeln könnten. Er ist gegangen, nicht ich!“
„Hm“, brummte Mario erneut. „Klingt für mich, als wärt ihr beide vor etwas abgehauen.“ Ruckartig zuckte Tom zusammen. „Und was war Weihnachten?“
Ein weiteres Zucken. „Was ... meinst du?“
„Ach komm schon“, gab Mario lachend zurück. „Ich hatte nicht einmal die Schuhe aus, da hast du mich angepflaumt, warum ich die nie ins Regal stelle. Lukas hast du einen Einlauf verpasst, weil der den Kaffee mitgenommen hat und dein Erik dafür Neuen kaufen musste. Und was du Nora ins Gesicht gepfeffert hast, will ich nicht einmal aussprechen. Okay, mich nerven ihre Haare in der Dusche auch, aber das kann man ... diplomatischer ausdrücken.“
Tom schwieg. Was hätte er denn sagen sollen? Dass er an dem Wochenende ausgetickt war, hatte reichlich Gründe gehabt. Angefangen damit, dass sein Ex sich hatte verleugnen lassen, als Tom ihn über die Feiertage wenigstens kurz besuchen wollte. Dann waren da die Fragen seiner Eltern, wie es denn so lief mit dem Studium und ob er inzwischen eine neue Beziehung hatte. Als ob fünf beschissene Jahre einfach so ersetzt werden könnten mit dem nächsten Kerl. Nicht zu vergessen Luis, dem Tom das kleine Plappermaul nur mit reichlich Süßigkeiten hatte stopfen können, damit der keine dummen Kommentare über den ‚netten großen Jungen vom Weihnachtsmarkt‘ abließ.
Und als ob das alles nicht schon schlimm genug gewesen war, kam dann sogar Erik. Der sich ausgerechnet als Tom nur noch jemanden zum Abreagieren suchte, um zum Alltag zurückkehren, in den Kopf gesetzt hatte, einen auf heile Welt zu machen. Eine, in der da wirklich mehr als Sex zwischen ihnen entstehen könnte. Und das unter anderen Umständen vielleicht sogar gar nicht einmal so unrealistisch gewesen wäre. Weil Erik dummerweise eben kein kalter und abweisender Idiot war, der nur fürs Bett taugte.
„Beziehungen sind scheiße“, murmelte Tom erneut und linste bedauernd zu der inzwischen vermutlich leeren Flasche. Mit der hätte er wenigstens etwas in der Hand, an dem er herumspielen könnte.
Mario wuschelte ihm erneut durch die Haare. Allmählich fing das doch an zu nerven. Tom war schließlich kein kleines Kind, dem man den Kopf tätscheln musste, weil es ein aua hatte. Ein verflucht großes wohlgemerkt. Genau da, wo vor elf Monaten Toms Herz gewesen war. Bevor der Idiot, mit dem er zu diesem Zeitpunkt gut fünf Jahre zusammen war, es ihm rausgerissen hatte.
Anstatt zu antworten, schob sich Marios Arm jedoch Toms Rücken hinunter, bis er mit der Hand dessen Hosentasche erreichte. Ehe, Tom etwas sagen konnte, hatte Mario bereits das Handy aus der Tasche geholt und drückte auf den Knopf zum Aktivieren.
Prompt starrte ihnen beiden zwei grinsende Siebzehnjährige entgegen.
„Hübsch“, meinte Mario belustigt. „Aber wenigstens optisch so ziemlich das Gegenteil von deinem Kurzen, was?“ Hastig zerrte Tom das Telefon aus Marios Hand und presste es an seinen Bauch. „Gib mir meinen Controller.“
„Was?“
„Mein Controller“, sagte Mario erneut und deutet auf das Gerät, das weiterhin in Toms Schoß lag. Unsicher griff er danach und reichte das Ding hinüber. „Danke. Und jetzt verzieh dich.“
„Was?“, keuchte Tom erneut, nicht sicher, was das heißen sollte. Mario war zwar mitunter echt ein Trampel, aber der plötzliche Stimmungsumschwung erwischte Tom auf reichlich kaltem Fuß.
Mit dem Daumen deutete Mario auf das Handy, das Tom weiterhin an seinen Bauch hielt. „Du kannst das nicht, Kleiner. Werde erwachsen und benutz das Ding da für was Sinnvolles. Aber in deinem Zimmer. Ich steh weder auf Geheule noch darauf anderen beim Telefonsex zuzuhören. Jedenfalls so lange ich nicht mitmischen darf. Also falls du jemals Bedarf hast ... kannst dich gern melden.“
In der Sekunde, als das Wort ein weiteres Mal seinen Mund verließ, kam Tom sich reichlich dämlich vor, aber er konnte sich nicht stoppen: „Was?“
Mario sah ihn eindringlich an und deutete dann auf die Tür zu seinem Zimmer. „Es reicht, wenn ein emotionsgestörter Trottel in dieser Wohnung lebt, und das bist sicherlich nicht du. Also schleich dich und klär das mit dem Engelchen da auf deinem Handy.“
Mit einem merkwürdigen Gefühl im Bauch rappelte Tom sich auf. Die garantiert inzwischen leere Bierflasche war nirgendwo zu sehen, wahrscheinlich hatte Mario sie irgendwo auf der anderen Seite auf den Boden gestellt. Unsicher und verwirrt stand Tom einen Augenblick neben dem Bett seines Mitbewohners, der ihm jedoch nur stumm zuwinkte, damit er endlich abzog.
Also machte Tom genau das. Er drehte sich herum, schlurfte aus dem Zimmer, zog die Tür zu und verschwand kurz darauf in seinem Eigenen. Gegen die Tür gelehnt, starrte er an die Decke.
Das Flackern in Toms Bauch wurde stärker, genau wie das Brennen hinter den Augen. Für einen Moment war er sich nicht sicher, ob das gut oder schlecht war. Aber viel schlimmer als ohnehin schon, konnte Tom sich nicht fühlen. Denn dummerweise hatte der blöde Klotz auf der anderen Seite des Flurs recht. Er konnte das hier nicht.
Langsam krabbelte Tom auf das Bett. Mit dem Rücken an das Kopfteil gelehnt starrte er auf das Handy. Die beiden Jungen strahlten ihn weiterhin an. Elf Monate und Tom hatte es bis heute nicht übers Herz gebracht, wenigstens den Startbildschirm zu ändern. Das Flackern in Toms Magen wurde stärker, fing an zu brennen. Ein Feuer, das sich in seinen Eingeweiden ausbreitete und alles zu verschlingen drohte, das ihn ausmachte.
Tom hatte keine Ahnung, wie lange er auf das Bild gestarrt hatte, aber irgendwann hielt er das Handy ans Ohr und lauschte dem beständigen Piepen, das einen Klingelton anzeigen sollte. Wie oft hatte es schon geläutet? Unsicher zupfte er an seinem Hosenbein, während er weiter wartete.
Dann war sie da. Die Stimme, auf die er gehofft und auf die er seit Monaten verzichtet hatte. Aber anstatt ihn zu begrüßen, leierte sie gelangweilt einen Standardspruch für die Mailbox herunter. Trotzdem schüttete sie weiteres Öl in das Feuer, das in Tom brannte.
Kaum war der Piep ertönt, wusste Tom nicht, was er sagen sollte. Oder wollte. Sein Bauch krampfte sich zusammen, als er darum kämpfte, seine Stimme zu finden. Aber da war nichts und ehe Tom es schaffte, etwas herauszupressen, war die Verbindung schon unterbrochen.
Betreten ließ er den Kopf sinken. Es hatte so einfach angemutet. Vor elf Monaten. Jemanden finden, um sich abzulenken. Ein Kumpel. Etwas Spaß. Sex. Keine wirklichen Gefühle. Erik schien alle Kriterien zu erfüllen. Es war perfekt gewesen. Und vermutlich in jeder Hinsicht die ‚neue Erfahrung‘, von der Olli gesprochen hatte. Tom hatte Erik nicht einmal selbst ansprechen müssen. Nur diesen blöden Spruch raushauen und der Kerl war mitgekommen.
Tom hatte das Herz bis zum Hals geschlagen, aber Eriks kalte und gelassene Art hatte geholfen. Zusammen mit der gehörigen Portion Wut, die Tom zu dem Zeitpunkt noch wegen Olli im Bauch gehabt hatte. Keine Fragen oder Gefühle. Reine körperliche Befriedigung. Und irgendwann ein paar gemeinsam verbrachte Stunden, damit es sich nicht ganz so arg danach anfühlte, als wäre das zwischen ihnen Sex auf Bestellung.
Aber irgendwo war genau das gekippt. Ausgerechnet der Typ, der am Anfang so kühl und abweisend gewirkt hatte, fing mit einem Mal an, Tom in eine Ecke zu drängen, wo er nicht sein wollte. Damit es nicht noch einmal so endete. Er nicht wieder wie ein gebrochenes Häufchen Elend in seinem Zimmer lag und heulte. Weil irgendein Blödmann der Meinung war, dass es nicht ausreichte, sich nur einmal zu verlieben. Dass sie ebenso mit anderen Erfahrungen machen sollten.
„Hat am Ende niemandem was gebracht“, murmelte Tom kaum hörbar und schloss die Augen, damit das Brennen nicht zu weiteren Peinlichkeiten führte. Denn ob das wirklich auf ‚alle‘ in dieser Sache zutraf, wusste er ja nicht. Wollte Tom im Grunde auch nicht wissen. Fünf verdammte Jahre. Und dabei hätten es so viel mehr werden sollen.
Das Handy piepte, aber Tom ignorierte es. Es war Donnerstag. Wahrscheinlich hatte Josephine mal wieder Probleme mit ihren Aufgaben für morgen. Er hätte ihr nie seine Nummer geben sollen. Seitdem sie die hatte, klingelte sie fast täglich durch. Den wenig dezenten Hinweis darauf, dass Tom ihren Professor in ‚neuronale Netze‘ deutlich attraktiver fand als dessen Assistentin in der Übungsstunde, hatte sie entweder nicht kapiert oder schlicht ignoriert.
Nach fünf weiteren Minuten klingelte es plötzlich. Genervt hob Tom das Telefon hoch und ächzte: „Was ist los?“
Aber es kam keine Antwort. Irritiert senkte er das Handy und erstarrte, als er den Namen des Anrufers sah. Toms Puls raste, als er das Gerät wieder ans Ohr hob. Weiterhin kein Mucks und auch er selbst wusste nicht, was er sagen sollte.
Da war zu viel, das Tom aussprechen wollte, aber nicht konnte. Und noch einmal mehr, was vermutlich besser ungesagt blieb. Im Grunde gab es nur eine Sache, die Tom sicher wusste. Und vielleicht war das alles, was zählte.
„Du fehlst mir.“ Schweigen. Mit jeder weiteren Sekunde ließ es den Kloß in Toms Hals größer werden. „Ich hab’s versucht. Ehrlich. Aber ich kann das nicht, Olli.“
„Du hast doch gemeint, dass Fernbeziehungen nie funktionieren“, flüsterte es zögerlich am anderen Ende.
Tom nickte, unfähig etwas zu sagen. Ja, das hatte er gesagt. Weil er sicher gewesen war, dass Oliver bleiben würde – anstatt ans andere Ende der Republik zu ziehen wegen eines Studiums, das er genauso gut hier hätte aufnehmen können. Aber der war gegangen und hatte sich nie gemeldet.
„Warum wolltest du mich Weihnachten nicht einmal sehen?“, presste Tom um den Kloß im Hals herum heraus. „Ich wollte nur ... Hallo sagen. Ich ... hätte nicht ...“, der Schmerz war zu groß, um den Satz zu beenden.
Ein Seufzen, aber zunächst keine Antwort. Trotzdem wartete er. Und irgendwann flüsterte Oliver heiser: „Weil ich dich nicht noch einmal hätte gehen lassen können.“
Leises Lachen, eilig weggewischte Tränen und die Hoffnung, dass vielleicht doch nicht alles verloren war. Womöglich würde der Abend nicht ganz so beschissen enden, wie er begonnen hatte. Fehler konnte man schließlich immer korrigieren. Manchmal musste man dafür eben nur einsehen, dass man sie gemacht hatte.
Ende Teil 1
Vielen Dank fürs Lesen. Ich hoffe, dass es Spaß gemacht hat. Falls ja – aber auch wenn nicht – dann würde ich mich über Feedback, egal in welcher Form, sehr freuen.
Ich hatte lange überlegt, wie ich Toms Hintergrund einbauen kann, und diese Stelle hier erschien mir irgendwann ideal. Das heißt aber ebenfalls, dass seine Geschichte hier zu Ende ist. Zwar schließt das, wie bei allen Rush-Inn Charakteren ein Auftauchen woanders nicht aus, da ist bisher aber nichts Konkretes geplant ;)
Eriks Geschichte ist allerdings nicht zu Ende und deshalb folgt seine Fortsetzung in
https://belletristica.com/de/books/34360-limbus-2-sieben-tage-holle
Limbus 2 – Sieben Tage Hölle
Die Prüfungen sind geschafft und Erik hat sein Abitur endlich bestanden. Eigentlich sollte er zufrieden sein. Aber noch ist die Schule nicht endgültig für ihn vorbei. Abschlussfahrt, Zeugnisübergabe, Abiball. Die letzte Woche der Schulzeit steht bevor und im Grunde möchte Erik nur noch eines: Die Fahrt genießen und das alles endlich hinter sich lassen.
Aber offensichtlich will das Schicksal ihm nicht einmal das gönnen. Statt einer beschaulichen Woche Sonne, Strand und leicht bekleidete Franzosen, entwickelt sich der Ausflug immer mehr zum Höllentrip. Und mittendrin dieser Blödmann Berger, bei dem Erik sich einfach nicht entscheiden kann, ob er ihn lieber um die Ecke oder ins Bett bringen will.
Es würde mich freuen, wenn man sich dort wieder treffen würde.
Noch einmal vielen Dank fürs Lesen!