9 – Goethe und Schiller
Der folgende Morgen kam zu rasch nach einer Nacht voller Bilder, die Erik quälten und gleichzeitig viel zu gut waren, um sie zu ignorieren. Seufzend schloss er erneut die Augen und versuchte zurückzudrängen, was von den Träumen weiterhin in seinem Bewusstsein zu hängen schien.
Als ihm das nicht gelang, sprang Erik schließlich auf und verschwand klammheimlich erneut im Bad. Glücklicherweise war seine Mutter noch nicht von der Arbeit zurück – und würde auch erst hier auftauchen, wenn er längst in der Schule war. Kaum dass Erik frisch geduscht und angezogen in die Küche stapfte, warf er einen Blick auf ihren Dienstplan, der wie immer am Kühlschrank prangte.
Bis Mittwoch war sie auf Nachtschicht und dann hatte sie zwei Tage frei. Also noch ein Abend an dem er ausgehen und gegebenenfalls über Nacht wegbleiben konnte, ohne dass sie es merkte. Allerdings hatte Herr Ceylan am Vortag schon nicht viel zu tun gehabt und das würde sich laut dessen Aussage auch heute nicht ändern. Vor Donnerstag, wenn die neue Lieferung eintraf, würde er Erik kaum brauchen.
„Mist!“, murmelte er gedankenverloren und setzt erst einmal Kaffee auf.
Ohne frisches Geld von Herrn Ceylan konnte Erik einen weiteren Ausflug ins Rush-Inn vermutlich vergessen. Und ganz sicher würde er seine Mutter nicht danach fragen. Zum einen fühlte er sich mies dabei, ihr überhaupt Geld für sein Privatvergnügen abzunehmen, zum anderen würde sie garantiert fragen, wozu er es brauchte. Da Erik seine Mutter nicht mehr als notwendig anlügen wollte, bliebe in diesem Fall nur die Wahrheit. Und die war sicher keine Option.
Zumindest hatte Erik das Gefühl, dass sie auf: ‚Um in eine Bar zu gehen und mir jemanden zu suchen, mit dem ich ficken kann, damit ich nicht ständig daran denke, meinen Lehrer zu rammeln‘, nicht so wirklich positiv reagieren würde.
Was Erik zurück zum ersten Gedanken brachte: „Mist.“
Auch der Kaffee schaffte es nicht, die Abgeschlagenheit der letzten Nacht gänzlich zu beseitigen. Wenigstens schien die frische Morgenluft ihn etwas aus der Lethargie reißen zu können. Zumindest beschleunigten sich Eriks Schritte immer weiter, je näher er dem Schulgebäude kam. Vielleicht lag es aber auch schlicht daran, dass er mal wieder ohne Jacke aus dem Haus gegangen war und sich entsprechend in der unerwarteten Kälte den Arsch abfror.
So oder so kam Erik ein paar Minuten zu früh und stand einen Moment unentschlossen vor dem Eingang zur Schule. Dummerweise war es ihm schlicht zu kalt, um weiter hier draußen rumzustehen, also trat Erik ein und wanderte zuerst zu der großen Tafel mit den Stundenplänen der Oberstufe. Vielleicht war ja ein Wunder passiert und sein Aufsatz hatte Berger einen Herzinfarkt verpasst. Dann würde Deutsch ja womöglich ausfallen.
Leider hatte er nicht so viel Glück und deshalb betrat er kurz darauf mit klopfendem Herzen das Klassenzimmer. Erste Stunde: Deutsch.
Berger war glücklicherweise nicht da und auch Sandro glänzte derartig früh natürlich mit Abwesenheit. Für einen Augenblick kam Erik nicht umhin sich zu wünschen, dass es für den Rest des Tages so bleiben würde. Aber wie immer hatte er bei Weitem nicht so viel Glück, denn kaum hatte Erik sich auf seinen Platz gesetzt, stolzierte Berger herein – selbstbewusst wie eh und je.
Kein Zögern, kein verstohlener Blick zu Erik. Nichts!
Ein einfaches und ruhiges „Guten Morgen“, war alles, was darauf hindeutete, dass der Kerl Erik überhaupt bemerkte. Danach fing Berger wie üblich an, seinen Rucksack auszupacken und irgendwas an die Tafel zu schreiben, was Erik wie immer nicht interessierte.
„Morgen“, murmelte Erik dennoch zurück – schlichtweg, um nicht allzu unfreundlich rüberzukommen. Vielleicht würde es etwas nützen, wenn er nachher beim Direktor stand und versuchte, diesen beschissenen Aufsatz zu erklären.
‚Was ist eigentlich damit? Wieso sagte der Kerl gar nichts dazu?‘
Im Moment waren sie allein. Das wäre für Berger die Gelegenheit gewesen, die Sache anzusprechen. Der schien sich allerdings wie sonst zu benehmen. Weder Unruhe noch Sorge oder gar Angst. Der Mistkerl hatte den Aufsatz garantiert inzwischen gelesen, also wieso war da so überhaupt keine Reaktion? Wenigstens Wut oder Abscheu waren ja wohl zu erwarten.
So viel dazu, dass Erik dem Arschloch eine Lektion hatte verpassen wollen. Wütend funkelte er Bergers Rücken an – darum bemüht den Blick oberhalb der Gürtellinie zu belassen. Das Letzte, was Erik brauchte, war, dass die Bilder der vergangenen Nächte wieder vor ihm auftauchten. Je länger er Berger anstarrte, desto deutlicher kamen aber genau die zu ihm zurück.
Glücklicherweise tauchten recht schnell die ersten seiner Mitschüler auf, sodass Erik gezwungen war, die Augen zu senken und stattdessen auf den Block vor ihm zu sehen. Nicht einmal das schien allerdings zu helfen. Die ganze Stunde über kämpfte Erik gegen den Drang an, unruhig auf dem Stuhl hin und her zu rutschen. Trotzdem warf er immer wieder verstohlene Blicke zu Berger. Wenigstens war Sandro abwesend und konnte das nicht sehen. Der hätte bestimmt einen passenden Spruch parat gehabt.
‚Zumindest etwas‘, dachte Erik bei sich und war ausnahmsweise einmal dankbar für den winzigen Gefallen.
Erst als es zur Pause läutete, sah Berger Erik endlich an. In dem Augenblick wurde ihm plötzlich klar, dass das Arschloch ihn die ganze Stunde über keines Blickes gewürdigt hatte. Das hatte er sich nicht nur eingebildet, oder? Einen Moment lang runzelte Erik die Stirn. Normalerweise war er sicherlich nicht der zentrale Mittelpunkt von Bergers Interesse. Aber dass der ihn gar nicht ansah, war ungewohnt. Irgendwelche kühlen und leeren Blicke warf das Arschloch da vorn Erik doch sonst stets zu.
„Herr Hoffmann?“, rief Berger ihm plötzlich zu, als Erik sich anschickte, seine Sachen zusammenzusuchen und zu entkommen. „Einen Moment.“
Er zögerte und sah sich unter seinen Mitschülern um. Die beachteten Erik jedoch nicht und machten sich stattdessen auf den Weg zur nächsten Stunde.
„Ich will nicht schon wieder zu spät kommen“, versuchte Erik sich heraus zu reden. Da schien ein Grinsen an Bergers Mundwinkeln zu ziehen, bevor er sich zum Lehrertisch drehte. Aber womöglich bildete er sich das nur ein?
„Keine Sorge, dauert nicht lange“, versicherte Berger ihm kurz angebunden.
Schlagartig beschleunigte sich Eriks Herzschlag. ‚Jetzt kommt es ...‘
Immerhin wollte Berger hier mit ihm reden und nicht bei dem Direktor. Wobei noch offen war, ob das tatsächlich so bleiben würde. Da Erik wohl für diesen Umstand dankbar sein sollte, schwieg er und wartete, wie Berger es ihm gesagt hatte.
Kaum war der Letzte der übrigen Schüler aus dem Klassenzimmer verschwunden, fing Berger an, im Rucksack zu kramen. Er sagte allerdings kein Wort. Mit jeder verstreichenden Minute schlug Eriks Herz kräftiger in der Brust. Unruhig zappte er hin und her. Wieso sagte der Kerl nichts? Weshalb waren sie noch nicht im Büro des Direktors? War der Termin mit dem Schulpsychologen schon gemacht?
Sonderlich eingeschüchtert, wütend oder ängstlich, wirkte Berger nicht gerade. Wenn überhaupt, dann war der Mistkerl abgeklärt wie eh und je. Ein Eisblock zeigte mehr Emotionen als dieses Arschloch.
‚Weil du Menschen ihre Gefühle so gut ansehen kannst, um das zu beurteilen.‘
Erik zuckte zusammen. Was, wenn er sich dahingehend tatsächlich irrte? Stirnrunzelnd sah er zu Berger. Nein, das war keine Einbildung. Der Kerl zeigte keinerlei Emotionen, war eiskalt und abweisend.
Das machte die ganze Situation nur umso schlimmer. Erik hatte diesem Mistkerl von Lehrer eine Lektion erteilen wollen. Obwohl Erik im Augenblick nicht mehr so sicher war, wie die hatte lauten sollen.
Garantiert hatte Erik Berger mit dem verdammten Aufsatz nicht vorgeführt, wie er sich fühlte, denn das würde ja heißen, dass er Gefallen an diesem Arschloch fand. Und das war ganz sicher nicht der Fall! Er hatte Berger nur zeigen wollen, wie es war, wenn man sich permanent unterlegen fühlte, anderen hilflos ausgeliefert war.
Eriks Blick wanderte über den ihm zugewandten Rücken. Es wäre so simpel. Genau wie in dem beschissenen Aufsatz. Nur ein paar Schritte, ein Griff und Berger läge auf dem Lehrertisch. Selbst wenn Erik den Mistkerl dann nicht anrührte, würde der wissen, dass er diesen Scheiß vielleicht nicht umsetzen wollte, es aber jederzeit könnte. Womöglich würde das reichen, um Berger davon zu überzeugen, dass er gefälligst nicht weiter auf Sandros Seite zu stehen hatte. Eriks Herzschlag beschleunigte sich erneut. Dieser verfluchte Hintern wackelte schon wieder vor ihm rum, als würde er förmlich darum betteln, dass man ihn sich nahm.
‚Hör auf mit dem Scheiß!‘, ermahnte Erik sich selbst verzweifelt.
Es war totaler Quatsch, dass ausgerechnet Berger wert drauf legte von ihm – oder irgendjemand anderem – genagelt zu werden. Gewisse Regionen von Eriks Körpers schienen dem weniger zuzustimmen.
‚Was kramt der Scheißkerl denn so ewig rum?!‘
„Ich muss dann endlich zur nächsten Stunde!“, presste Erik heraus und versuchte die Stimme, möglichst genauso kalt und abweisend zu halten, wie Berger immer auf ihn wirkte. Er würde sich für diesen Aufsatz nicht entschuldigen und wenn der Mistkerl ihn deshalb beim Direktor verpfeifen wollte, dann sollte er das halt tun! Sandro schikanierte ihn schon seit Wochen und Berger sah genau wie alle anderen nur zu. Vielleicht würde sich etwas ändern, wenn Erik damit beim Direktor endlich mit der Sprache rausrückte.
‚Ja, klar.‘, höhnte es in seinem Kopf. ‚Geh zum Direx und jammere rum, dass der böse Sandro dich mit Papierkugeln beschmeißt. Und der blöde Berger dir verfluchte Hausaufgaben aufgibt, weil du dein Maul nicht halten kannst.’
Beleidigt verschränkte Erik die Arme vor der Brust. Genau deshalb war er bisher ja nicht dort angetreten. Wie sah das denn aus? Er war doch keine fünf Jahre alt und rannte zur Erzieherin, um die anderen Kinder zu verpetzen. Seine Probleme löste Erik seit jeher alleine. Er kam klar – ohne, dass ihm jemand ständig den Hintern puderte.
„Einen Moment“, antwortete Berger gelassen und schien endlich zu finden, was er gesucht hatte.
Wortlos und mit weiterhin ausdruckslosem Gesicht reichte er Erik die Zettel der Strafarbeit. Dessen Herz schlug ihm inzwischen bis zum Hals, als er sich bemühte, sich das Zittern nicht anmerken zu lassen, während er danach griff.
Erik wagte es zunächst nicht, einen Blick darauf zu werfen. Zu groß war die Angst, dass die Worte sofort wieder Gestalt vor seinem inneren Auge annehmen würden. Das konnte er nun wirklich nicht gebrauchen! Erik wartete darauf, dass Berger etwas dazu sagte, doch der drehte sich schweigend um und fing langsam an, seine Sachen in den Rucksack zu packen. Mit einem Stirnrunzeln starrte Erik erneut auf diesen Rücken, der in einem so verlockend schwankenden Hintern endete.
‚Wo bleibt der Anschiss? Die Abscheu? Der Ausraster? Irgendwas, verdammt noch mal?!‘
Unsicher sah Erik nun doch auf seine Arbeit und sah oben auf dem ersten Blatt in der Ecke eine fette rote Acht prangen. „Eine Drei?!“, entfuhr es Erik entsetzt und deutlich lauter als ihm angesichts der weiterhin offenen Klassenzimmertür lieb war.
‚Was zum Geier ...?!‘
Berger drehte sich nicht einmal um, als er antwortete: „Na ja, was haben Sie denn erwartet?“
Wut? Entsetzen? Scham? Ein Termin beim Schulpsychologen?
Erik rechnete mit einigem an Reaktionen für diesen Aufsatz. Eine Drei zählte da allerdings nicht dazu. Das konnte er Berger aber schlecht ins Gesicht knallen. Mit zittrigen Händen stand Erik weiterhin da und starrte auf die beschissenen acht Punkte, die er für diese Strafarbeit bekommen hatte. Unsicher und mit heftig schlagendem Herzen, sah er zu dem Arschloch, das ihn scheinbar verhöhnen wollte.
Der schloss mit einem kräftigen Ruck gerade den Rucksack und drehte sich mit anhaltend ausdruckslosem Gesicht zu Erik um. Der zwang sich, dem Arschloch in die Augen zu sehen. Wenigstens die mussten doch irgendeine Reaktion zeigen. Kaum trafen sich ihre Blicke, zuckte Erik jedoch innerlich zusammen und wäre am liebsten einen Schritt zurückgegangen. Eine solche Genugtuung wollte er Berger allerdings nicht gönnen.
Trotzdem jagten ihm die geradezu gefährlich blitzenden Augen einen Schauer über den Rücken. Ein kurzes Grinsen schien erneut an Bergers Lippen zu ziehen. Aber es war ein weiteres Mal so schnell verschwunden, dass Erik sich nicht sicher war, ob er es sich nur eingebildet oder es tatsächlich gesehen hatte. Langsam trat Berger einen Schritt auf ihn zu, bis sie keinen halben Meter mehr voneinander entfernt standen. Sie waren sich so nah, dass Erik das verdammte Aftershave von dem Kerl riechen konnte. Und scheiße noch eins, wenn ihm das nicht zusätzlich die Sinne vernebelte!
Erik konnte sich gerade nicht einmal ansatzweise entscheiden, auf welchen Teil seiner selbst er hören sollte. Auf den Verstand, der die Flucht ergreifen wollte. Die Emotionen, nach denen er am liebsten im Boden versunken wäre. Oder doch auf den Körper, respektive den Schwanz, der bei dem Gedanken, was in dem Aufsatz stand, schon wieder anfing, vor Vorfreude zu zucken.
„Die Sauklaue war am Ende kaum noch lesbar“, tönte Berger gelassen. „Aber ich war großzügig und habe lediglich die Rechtschreibfehler bewertet, die auch als solche zu erkennen waren.“
Erik schluckte. Der Arsch hatte seinen Aufsatz gelesen und war scheinbar nicht im Mindesten schockiert. Im Gegenteil. Da war schon wieder ein verfluchtes Grinsen, das an Bergers Mundwinkeln zu ziehen schien. Diesmal bildete Erik sich das ganz sicher nicht ein!
„Über die Grammatik brauchen wir, glaube ich, nicht wirklich reden, oder Erik? Goethe und Schiller würden sich im Grab umdrehen. Wir wissen damit wohl beide, dass aus Ihnen so vermutlich kein Schriftsteller werden wird.“
Unfähig zu antworten starrte Erik lediglich in die viel zu grünen Augen, die ihn weiterhin herausfordernd ansahen. Alles in ihm drängte, sich abzuwenden. Erik hasste es, Menschen in die Augen zu sehen, doch dieses beschissene Grün hielt seinen Blick fest, als wollte es ihn an Ort und Stelle fesseln.
Da war nicht einmal der Ansatz von Scham. Aber auch wenn es zur Abwechslung nicht Kälte und Emotionslosigkeit waren, die ihm entgegenschlugen, war sich Erik nicht sicher, ob ihm das hier wirklich besser gefiel. Anstatt Berger mit diesem verdammten Aufsatz zu beschämen und zu erniedrigen, war er es, der sich hier gerade in Grund und Boden schämte.
„Sie sollten ernsthaft über Ihre Einstellung nachdenken, Herr Hofmann“, meinte Berger beiläufig und endlich schafft Erik es, den Blick von diesem verdammten Grün abzuwenden.
Dummerweise landete er stattdessen auf Bergers Lippen und mit einem Mal waren da andere Bilder. Eriks Atem wurde schneller, als er darum kämpfte, die Fantasien zurückzudrängen.
„Sie sind offiziell erwachsen. Es wird Zeit, dass Sie anfangen, sich entsprechend zu benehmen, Erik.“
Wütend und gedemütigt senkte er den Kopf, während sich eine Faust um die Blätter der Strafarbeit schloss. Berger starrte Erik vermutlich noch einen Moment lang an, bevor er sich abwandte und ihn allein im Klassenzimmer zurückließ. Unfähig sich zu bewegen, stand Erik wie zur Salzsäule erstarrt da und versuchte zu verstehen, wo er in seinem Plan einen Fehler gemacht hatte.
Berger hätte schockiert sein müssen. Erniedrigt. Er hätte sich so fühlen sollen, als wäre Erik tatsächlich über ihn hergefallen. Aber da war nichts. Das Arschloch hatte ihn förmlich abgekanzelt wie einen Grundschüler, der eine lausige Hausarbeit zum Thema ‚Marienkäfer im Frühling‘ geschrieben hatte.
Er hatte versagt. Sang- und klanglos. Das einzig Gute, an der Sache war, dass Berger es scheinbar nicht ernst genug genommen hatte, um damit zum Direktor oder zum Schulpsychologen zu rennen.
In diesem Moment läutete die Schulglocke zur nächsten Stunde. Erik stöhnte auf. Auch noch zu spät! Wenigstens konnte der Tag jetzt nicht mehr schlimmer werden.
✑
Um genau zu sein, schaffte er es durch den Rest des Tages ohne größere Vorkommnisse oder Peinlichkeiten. Das hatte er allerdings hauptsächlich der Tatsache zu verdanken, dass Sandro nicht da war. Die übrige Affenbande verhielt sich ohne ihren König ruhig wie alle anderen und ignorierte ihn. Und so ‚genoss‘ Erik geradezu die Ruhe der weiteren Stunden an diesem Dienstag, bevor er sich auf den Heimweg machte.
Kaum war er zu Hause, warf Erik den Rucksack in die Ecke und ließ sich auf das Bett fallen. Er seufzte und versuchte, die durch Sandros Abwesenheit aufgekommene gute Laune, beizubehalten. Doch mit jeder verstreichenden Minute sank diese weiter ab.
‚Scheiß Berger!‘, fluchte Erik innerlich.
Der Kerl hatte ihn behandelt wie ein Kleinkind. Kein Wort hatte das Arschloch darüber verloren, was wirklich in seinem Aufsatz stand. Grammatik und Rechtschreibung? Als ob das jemanden interessiert. Dabei war der Mistkerl nicht mal rot geworden!
„Immerhin kein Schulverweis“, murmelte Erik leise.
Allerdings tröstete das nicht wirklich über die Niederlage hinweg. Ja, er sollte froh darüber sein, scheinbar glimpflich aus der Geschichte herauszukommen. Aber dem war nicht so. Um ehrlich zu sein, wäre es vielleicht sogar besser gewesen, wenn dieses Arschloch Erik beim Direktor verpfiffen hätte.
Denn dann würde Berger wenigstens irgendeine echte Reaktion auf das zeigen, was Erik ihm unüberlegt vor den Latz geknallt hatte. Stattdessen hatte es den Mistkerl scheinbar völlig kaltgelassen.
‚Schlimmer!‘, warf eine trotzige Stimme in Eriks Kopf ein. ‚Der Arsch hat sich darüber lustig gemacht.‘
Es war nur ein Spiel für diesen Mistkerl. Ein fieses, kleines Machtspiel, in dem Berger Erik quälte, genau wie Sandro. Nur war der Arsch von Lehrer darin deutlich besser, geübter. Wie zum Geier sollte Erik dem Kerl beikommen, wenn nicht einmal dieser kranke Mist aus seiner Strafarbeit Berger aus der Fassung bringen konnte?
‚Taten, statt Worte‘, dröhnte es erneut in Eriks Kopf, aber er verscheuchte den Gedanken hastig wieder.
Das war absurd! Erik würde sich ganz sicher nicht an jemandem vergreifen. Weder an Berger noch an einem anderen Menschen. Es war doch krank, da überhaupt drüber nachzudenken!
Trotzdem schob sich schon wieder das Bild dieses kleinen Knackarschs mit dem geraden Rücken und den schwarzen Haaren vor Eriks inneres Auge. Wie der Mistkerl vor der Tafel stand und mit dem Hintern wackelte, während er irgendeinen dämlichen Sermon anschrieb. Das Bild brannte sich förmlich in Eriks Retina ein. Schon beschleunigte sich sein Atem. Das Ziehen im Schritt wurde ebenfalls stärker.
Glücklicherweise riss ihn genau in dem Moment das Piepsen des Handys aus der Fantasie. Hastig sprang Erik auf und kramte in der Hosentasche nach dem Telefon. ‚Nachricht von Thomas G.‘ prangte dort und für einen Augenblick runzelte Erik die Stirn.
‚Wer zum Geier ist das?‘
Erst nach gut einer halben Minute dämmerte es Erik, dass es sich um seinen One-Night-Stand von Sonntag Nacht handeln dürfte. Zumindest war das einzige Thomas – oder Tom – dem Erik sein Telefon jemals in die Hand gedrückt hatte, damit er seine Nummer verewigen konnte.
Rasch entsperrte Erik das Handy und öffnete die Messengerapp. 『Lust auf ein Bier heute Abend?』, sprang ihm ohne Begrüßung entgegen.
Einen Moment überlegte Erik. Das klang verlockend, aber wie er bereits bemerkt hatte, fehlte ihm das nötige Kleingeld – und er würde es heute nicht verdienen können.
『Kein Geld :(』, schrieb Erik deshalb resignierend zurück. Denn im Grunde klang die Art von Abwechslung, die Tom zu bieten hatte, gerade ausgesprochen verlockend.
『Bock auf Sex? Bier hab ich zu Hause. 』
„Fuck“, keuchte Erik, als die Worte es bis in sein Bewusstsein geschafft hatten.
War das so einfach? Herumfragen, wer Bock auf Sex hatte, und irgendjemand würde sich schon finden?
‚Natürlich hat immer einer Interesse am Vögeln‘, zuckte es Erik durch den Kopf, während er bereits den Finger über dem Smiley mit dem Daumen hoch schweben hatte.
Vielleicht war es auch der vor Vorfreude bereits zuckender Schwanz, der sich da mal wieder reichlich vulgär einmischte. So ganz sicher war Erik sich da nicht. Letztendlich machte es aber keinen Unterschied, denn der verzweifelte und durch die Bilder von eben zu sehr angestachelte Teil von ihm, senkte den Finger, um zuzusagen.
Rasch tippte Erik noch ein 『Wann?』, hinterher.
『Ich bin bis 19 Uhr auf dem Campus. Acht?』
Im Flur hörte Erik seine Mutter, wie sie sich in der Küche gerade etwas zu Essen machte. Selbst wenn er den Fahrtweg mit einrechnete, war acht Uhr spät genug, damit sie bei seinem Aufbruch bereits unterwegs auf Arbeit war. Also würde seine Mutter nicht merken, dass Erik schon wieder wegging. Und weil ihre Schicht erst nach Schulbeginn endete, wäre es auch kein Problem, sollte er eine weitere Nacht bei Tom verbringen.
Stirnrunzelnd sah Erik zurück auf das Handy. Von einer Übernachtung war nicht die Rede gewesen. Vielmehr hatte Tom sehr deutlich nur nach Sex gefragt. Es fühlte sich merkwürdig an, wenn Erik sich vorstellte, zu Tom in die WG zu fahren, nur um mit dem ins Bett zu steigen und anschließend wieder nach Hause zu fahren. Andererseits war es mit Dominik nicht viel anders gewesen. Bei dem hatte Erik schließlich auch so gut wie nie übernachtet. Da war Erik so gut wie immer nach dem Sex gegangen. Zugegeben war der Grund vor allem der, dass er verhindern wollte, dass seine Mutter etwas mitbekam. Weder davon, dass Erik mit jemandem ging, der fünf Jahre älter war, noch, dass dieser ein Mann war.
Für eine Sekunde zuckte schon wieder das Bild aus dem Klassenzimmer vor Eriks inneren Auge vorbei. Berger war Dominik noch mal ein paar Jahre voraus. Garantiert. Auch wenn der Typ kaum älter aussah, als Erik war.
„Scheiß drauf!“, fluchte er flüsternd, weil das Arschloch von Lehrer es schon wieder in seine Gedanken geschafft hatte. Wenn ihm ein paar Stunden mit Tom die Filmshow von dem Berger ersparten, dann sollte es Erik Recht sein.
『Sehen uns um Acht.』