23 – Konfrontation und Dilemma
Erik wusste nicht, wann Tom ins Bett gekommen war. Irgendwann gegen halb sechs wachte er auf und stellte fest, dass er zwar keine Decke mehr hatte, dafür aber das inzwischen gewohnte Heizkraftwerk hinter Erik leise schnarchend arbeitete. Noch einmal schloss er die Augen und versuchte, wenigstens für ein paar Minuten ins Traumland zurückzukehren. Aber wie so oft, gelang ihm das nicht.
Außerdem störte das blöde Schnarchen.
Also stand Erik auf und schnappte sich die mitgebrachte frische Unterwäsche und das Langarmshirt. Seine dreckigen Sachen landeten dafür postwendend im Rucksack. Für eine Sekunde überlegte Erik, ob er Tom auf seine ganze eigene Art wecken sollte. Immerhin war er gestern Abend weder zu seinem Date, noch zu Sex oder sonst irgendeiner nennenswerten Form von Aufmerksamkeit gekommen.
‚Bist du ein Baby, das man bemuttern muss, oder was?‘, fauchte eine wütende Stimme in Eriks Kopf ihn an.
Leise schnaubend kramte er die Zahnbürste aus dem Rucksack. Dann wandte er sich ab und stapfte ins Bad. Eine kalte Dusche und die geradezu lebensmüden Gedanken daran, dass er diesen Morgenmuffel tatsächlich wecken und nach Sex fragen könnte, würden hoffentlich verschwinden. Gedankenverloren rieb Erik sich über den nackten Bauch. Wobei die blöde Dusche ausnahmsweise nicht nötig war. Jedenfalls wenn man von der Tatsache absah, dass Erik gestern Abend zu lange mit irgendwelchen verschwitzten Idioten in einer stickigen und zu warm geheizten Küche gehockt hatte.
Entsprechend schnell war Erik heute damit fertig sich zu waschen – und ausnahmsweise auch wirklich nur das. Ein Blick in den Spiegel sagte zwar, dass er den Rasierer vielleicht ebenso mitbringen oder das am vorherigen Nachmittag hätte erledigen können, aber dafür war es zu spät.
Als Erik schließlich aus dem Bad trat, öffnete sich gerade die Tür gegenüber. Die Peinlichkeit, wieder nur mit einem Handtuch bekleidet vor Toms Mitbewohnerin zu stehen, blieb ihm diesmal erspart.
„Hi, Erik“, tönte sie gut gelaunt und drängte sich prompt an ihm vorbei ins Bad. Offenbar hatte sie deutlich weniger Probleme mit dem frühen Aufstehen nach einer späten Nacht als Tom.
Da Erik Frauen generell, und Nora im Speziellen, nicht interessierten, murmelte er lediglich einen kurzen Gruß zurück und verschwand sofort in Toms Zimmer. Der schlief natürlich weiterhin. Wieder überlegte Erik, ob er Tom wenigstens wecken sollte, um sich zu verabschieden. Allerdings wusste er nur zu gut, dass der Kerl es nicht leiden konnte früh geweckt zu werden. Einfach zu gehen erschien Erik ebenso falsch.
Vielleicht konnten sie sich am Abend erneut treffen. Tom fuhr ja vermutlich nicht vor Freitag. Womöglich erst am Wochenende. Also hätten sie die nächsten zwei Nächte für sich.
‚Vorausgesetzt, der Kerl spielt nicht wieder lieber mit seinen Mitbewohnern irgendwelche dummen Brettspiele.‘
Der Gedanke brachte die Schlinge um Eriks Hals zurück, die ihn vergangene Nacht bereits gequält hatte. Wieder war da die Frage, welche Art von Beziehung er mit Tom führte. Wenn Erik nach dem ganzen Scheiß ging, den Berger ihnen in der letzten Deutschstunde vorgebetet hatte, war die Antwort leider verflucht klar. Da war nichts – außer Sex – und der Gewissheit, dass Erik das zunehmend beschissen fand.
‚Dann ändere es halt.‘
Dummerweise hatte Erik absolut keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Da er so oder so an diesem Morgen nichts würde erreichen können, drehte Erik sich zum Schreibtisch um. Schnell hatte er ein leeres Blatt Papier und einen Stift herausgekramt. Natürlich hätte er Tom einfach eine Nachricht aufs Handy schicken können. Aber das hier erschien Erik persönlicher. Außerdem würde das Piepen Tom womöglich wecken.
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Pünktlich zwanzig Minuten vor Unterrichtsbeginn saß Erik auf seinem Platz und kaute auf einer trockenen Semmel, die er sich zum Frühstück im Supermarkt um die Ecke geholt hatte. Etwas Anständiges vom Bäcker wäre Erik lieber gewesen. Genauso wie ein Kaffee dazu. Dummerweise hatte er sich ja entschieden, auf die Abschlussfahrt mitzufahren. Und das hieß, er musste sparen.
Donnerstag hatte Erik in der ersten Stunde Deutsch. Vielleicht war es deshalb auch der reine Trotz, der ihn dazu verleitet hatte, lieber müde hier zu sitzen, als Geld für einen Kaffee beim Bäcker rauszuschmeißen. Für Berger musste er schließlich nicht wach sein. Eriks krankes Hirn schien in diesen Stunden ja eh lieber irgendwelchen Tagträumen hinterher hängen zu wollen.
„Guten Morgen, Erik.“
Etwas irritiert sah er auf – vermutlich auch das dem Koffeeinmangel geschuldet – und bemerkte erst jetzt, dass Berger soeben zur Tür hereingekommen war. Wie jeden Morgen marschierte Eriks Lehrer direkt zum Lehrertisch und begann dort die Sachen für den heutigen Unterricht auszupacken.
„Morgen“, murmelte Erik unwillig zurück. Plötzlich zuckte kurz ein stechender Schmerz durch seinen Magen.
‚Der Mistkerl hat am Ende wirklich recht‘, raunte es durch Eriks Kopf, als ihm auffiel, dass er seinem Lehrer in der Tat schon wieder relativ unwirsch geantwortet hatte. Dabei konnte der zur Abwechslung nichts für Eriks schlechte Lauen. Jedenfalls nicht bisher. ‚Was nicht ist, wird noch werden. Oder so.‘
Der Stuhl quietschte, als Berger sich geradezu hineinfallen ließ. Überrascht zuckte Erik zusammen. Ein vorsichtiger Seitenblick zu Berger jagte ihm einen Schauer über den Rücken, bei dem Erik sich spontan nicht entscheiden konnte, ob er den gut oder schlecht fand. Die grünen Augen bohrten sich förmlich in ihn. Sofort kam der Drang in Erik auf, sich abzuwenden. Aber irgendetwas an diesem verfluchten Blick hielt Erik geradezu gefangen.
„Haben Sie eine Antwort gefunden?“, fragte Berger plötzlich und da vibrierte etwas in dessen Stimme, das in Erik einen willigen Klangkörper zu finden schien. Denn es setzte sich in ihm fort, wanderte tiefer – dorthin wo es nicht sein sollte, nicht sein durfte.
„Worauf?“
„Die Frage, welche Beziehung ihre Protagonisten führen.“
Schlagartig zog sich Eriks Magen zusammen. Immer noch diese verfluchte Frage. „Keine“, krächzte er gequält.
Ein kurzes Zucken um Bergers Mund herum ließ Eriks eigenen schlagartig staubtrocken werden. Mit einem Mal hing sein Blick nicht mehr an diesen verfluchten Augen, sondern vielmehr an den so verdammt verführerischen Lippen. Durch die sofort in ihm aufsteigenden Bilder hätte Erik beinahe nicht mitbekommen, dass Berger weitersprach.
„Haben Sie in meinem Unterricht schon wieder nicht aufgepasst?“
„Was?“, keuchte Erik, darum bemüht die Bilder zurückzudrängen, um zum eigentlichen Thema zurückkehren zu können.
„Ich bitte Sie, Erik. Wir hatten letzte Stunde bereits geklärt, dass zwei Personen, die sich kennen immer eine irgendwie geartete Beziehung führen.“ War das etwa schon wieder ein Lächeln, das an Bergers Lippen zog?!
‚Lass dir das nicht gefallen!‘, fauchte die Stimme in Eriks Kopf erbost. ‚Der Mistkerl versucht, dich zu provozieren!‘
Aber in Eriks Hirn herrschte gähnende Leere – jedenfalls was die als einigermaßen vernünftig zu bezeichnenden Gedanken anging. Sprich, abgesehen von den mehr als unangebrachten Fantasien, die wieder in ihm aufstiegen und für weitere Ablenkung sorgte. Erik brauchte eine Antwort. Und zwar bevor jemand von den anderen aus seinem Kurs auftauchte.
„Sie kennen sich nicht“, platzte es schließlich aus Erik heraus. Er konnte den Blick aber weiterhin nicht von Bergers Lippen abwenden. Dadurch entging Erik diesmal nicht, dass diese für einen Moment fest zusammengepresst worden. „Es sind Fremde, die sich nicht einmal ansatzweise füreinander interessieren. Sie kennen sich nicht, also haben sie keine Beziehung.“
Mit einer schier unbändigen geistigen Kraftanstrengung schaffte Erik es irgendwie doch, seine Augen zu Bergers wandern zu lassen. Wenn er sich nicht sicher gewesen wäre, dass er diesem Mistkerl am Arsch vorbeiging, hätte Erik glauben können, dass der Mistkerl ihn gerade wütend ansah.
Mit einem Mal war es jedoch Berger, der sich von Eriks Blick förmlich losriss und sich stattdessen den Unterlagen auf dem Lehrertisch zuwandte. „Immerhin haben Sie sich offenbar Gedanken darum gemacht“, fügt Berger mit ruhiger Stimme hinzu. Deutlich kühler, als Erik es in Anbetracht der eben noch so funkelnden Augen erwartet hätte.
Erik setzte zu einer Erwiderung an, wollte antworten, Berger erneut provozieren. Der Mistkerl hatte etwas sagen wollen, da war er sich sicher. Aber Erik brachte schon wieder keinen Ton heraus.
Irgendwann betrat Hanna das Klassenzimmer. Sie murmelte: „Einen schönen guten Morgen“ und verzog sich rasch auf ihren Platz zu Eriks Linken.
„Guten Morgen, Hanna“, antwortete Berger ruhig. Verflogen die Kälte, die kurz zuvor noch in seiner Stimme gelegen hatte. Dafür begann schlagartig die Wut in Erik zu gären.
‚Der Mistkerl macht es schon wieder‘, zischte Eriks verräterische innere Stimme. ‚Zu der blöden Hanna ist er nett und freundlich. Und zu dir?!‘
Erik schluckte und versuchte, den Gedanken beiseite zu drängen. Es konnte ihm eh egal sein, was Berger von ihm dachte. Und Erik kam dem Mistkerl, wenn er ehrlich war, ja nicht gerade freundlich entgegen. Aber mit diesem Thema wollte er sich nicht beschäftigen, denn sonst würde Erik den Blödmann am Ende womöglich kennenlernen. Und da er ganz sicher keine Beziehung irgendeiner Art zu Berger haben wollte, kam das schließlich nicht infrage.
Innerhalb der verbleibenden Minuten bis zum Pausenklingeln füllte sich der Raum schlagartig mit dem Rest des Kurses. Ines saß weiterhin bei ihrer Freundin Jenny und Sandro sah schon beim Reinkommen entsprechend frustriert aus. Das verhieß nichts Gutes. Immerhin war es Ines freundliche Hand – und vermutlich auch diverse andere Körperteile – die in den letzten Wochen dafür gesorgt hatte, dass Erik Ruhe gehabt hatte. Damit würde es aber offenkundig für die verbliebenen zwei Tage vor den Ferien vorüber sein. Zumindest, wenn man nach der Hand ging, die etwas heftiger als üblich auf Eriks Hinterkopf landete, während Sandro sich an ihm vorbei in Richtung letzte Reihe schob.
„Lass den Scheiß“, zischte Erik, weil er selbst angefressen war, dass Berger hier zu den blöden Weibern ständig nett war, während er lediglich die kalte Schulter serviert bekam. Und noch viel wütender war Erik, weil ihn das offenkundig sogar zu interessieren schien.
Eben setzte Sandro zu einer Erwiderung an, als Bergers eiskalte Stimme wie eine Peitsche durch den Raum schnellte. „Herr Claasen. Der Unterricht beginnt in Kürze. Ich würde es begrüßen, wenn Sie sitzend daran teilnehmen.“
Für einen Augenblick schien Sandro zu vergessen, wer hier mit ihm gesprochen hatte, denn ein vor Wut hochroter Kopf schnellte herum und Sandro öffnete bereits den Mund. Dann klappte der aber tonlos wieder zu und für einen Moment glaubte Erik tatsächlich, ein Zittern durch Sandros Körper laufen zu sehen. Verwirrt sah er zu Berger und zuckte ebenfalls zusammen.
‚Scheiße! Wenn Blicke töten könnten, wäre das hier gerade zu einem Blutbad geworden.‘
In dem Moment klingelte die Schulglocke. „Sandro. Setzen.“
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Die Deutschstunde verging quälend langsam. Dabei war allerdings ausnahmsweise mal nicht der Stoff schuld, den sie durchnahmen, sondern vielmehr der Kerl, der ihn vortrug. Leider nicht auf die Weise, an die Erik sich im Verlauf der letzten bald vier Monate allmählich gewöhnt hatte. Im Gegenteil. Gegen Ende der Stunde, wäre Erik fast froh gewesen, wenn sich das eine oder andere Nacktbild von Berger in seinem Geiste zeigen würde. Denn das würde diesen wütenden Ausdruck verdrängen, den Erik weiterhin vor sich sah.
Eine winzig kleine und leise Stimme in seinem Kopf flüsterte ihm stetig zu, dass Berger sauer gewesen war, weil Erik gesagt hatte, seine Charaktere würden sich nicht kennen und folglich keine Beziehung führen. Andererseits hatte Sandro sich mal wieder in typischer Affenkönigmanier aufgespielt und das hatte Berger augenscheinlich ebenso wenig gefallen.
Unsicher schielte Erik zu seinem Lehrer, der an der Tafel erneut über diesen Beziehungsmist referierte. Rollenbilder und den daraus folgenden Status von Menschen in der Gesellschaft.
Verdrossen senkte Erik den Blick. Seinen eigenen Status innerhalb dieses Kurses kannte er nur zu gut. Abgesehen davon, dass Erik von Sandro und seinen Idioten genervt war, gingen ihm die Erik allerdings genau wie der Rest dieser ‚Gesellschaft‘ meistens am Allerwertesten vorbei.
Dummerweise schien das in den letzten Wochen immer weniger auf Berger zuzutreffen. Was dazu führte, dass Erik sich den größten Teil der Stunde bisher die Frage gestellt hatte: Warum? Denn leiden konnte er den blöden Berger ganz sicher trotzdem nicht. Also sollte Erik dessen Meinung erst recht egal sein.
„Bevor Sie mir geistig morgen bereits alle im Wochenende und damit den Ferien verschwinden, habe ich hier noch etwas für Sie“, zog Bergers schneidende Stimme Erik zurück in die Gegenwart.
Kurz darauf wanderte Berger durch die Reihen und verteilte etwas, das verdächtig nach einem Stapel Arbeitsblätter aussah. Wo Erik lediglich lautlos zu seufzen wagte, hatten seine Mitschülerinnen weniger Hemmungen das laut zu machen.
„Hausaufgaben über die Ferien? Ehrlich, Herr Berger?“, jammerte es aus diversen Richtungen.
Der lächelte mitleidvoll. „Da Sie in den letzten Stunden ein für Ihr Alter geradezu erschreckend geringes Wissen über Beziehungen und Rollenbilder demonstriert haben, sollten Sie froh sein, dass es nicht mehr ist.“
Weiteres Stöhnen und Gejammer, als die ersten offensichtlich die Aufgabenblätter überflogen. Erik schwante Übles, er hielt sich aber zurück, da er bisher keinen Blick darauf hatte werfen können.
„Die Aufgabe besteht aus zwei Teilen“, erklärte Berger, ungeachtet der Tatsache, dass weiterhin nicht alle Schüler ihre Zettelstapel erhalten hatten. „Im ersten lesen Sie die Texte und beantworten Sie die Fragen bezüglich der Beziehungen zwischen den Personen. Es gibt dafür insgesamt fünf verschiedene Interviews. Welches Sie erhalten ist zufällig.“
„Kann ich den Scheiß tauschen?“, zischte Sandro in dem Moment aus der letzten Reihe und wedelte mit zwei Zetteln. „Hey Hoffmann, das ist eher was für dich.“
„Nein“, fuhr Berger mit schneidender Stimme dazwischen. Dann lächelte er plötzlich – was allerdings sogar noch furchteinflößender wirkte als der eisige Tonfall.
‚Wer zum Geier ist das?! Das ist doch nicht Berger‘, zuckte es durch Eriks Kopf.
In seiner Brust hämmerte es bereits verdächtig schnell. Allerdings nicht vor Angst. Denn der Mistkerl, der da keine zwei Meter von Erik entfernt stand, und Sandro herausfordernd mit einem hinterhältigen Grinsen ansah, ließ eher etwas in Eriks Schritt aufbegehren, was sich die ganze Stunde zurückgehalten hatte. Bisher hatte Erik lediglich Bergers Hinterteil anregend gefunden, aber so merkwürdig es für ihn selbst klang, die Art und Weise, wie der Kerl mit Sandro umsprang, machte den blöden Lehrer sogar deutlich attraktiver.
Allmählich fing Erik an, zu verstehen, was seine Mitschülerinnen an dem Kerl fanden. Denn dass die nicht auf Bergers Hintern standen, davon ging Erik einfach einmal stillschweigend aus.
Schweigend und still waren im übrigen zwei sehr gute Worte, um das zu beschreiben, was Erik im Augenblick zustande brachte. Das und der Kampf darum, das heftig schlagende Herz in seiner Brust zu beruhigen, damit es aufhörte, weiter Blut gen Süden zu pumpen. Denn das dort stetig deutlicher werdende Kribbeln war nicht hilfreich. Jedenfalls nicht in Anbetracht der Tatsache, dass die Stunde fast zu Ende war und Erik danach den Raum würde wechseln müssen.
„Die zweite Aufgabe besteht darin, dieses zusätzliche Arbeitsblatt auszufüllen.“ Dabei hielt Berger einen Zettel nach oben, auf dem augenscheinlich eine Tabelle gedruckt war. „Ich möchte, dass Sie über die Feiertage ihre Familienmitglieder, Freunde, Bekannte, kurz alle Menschen, mit denen Sie glauben, eine Beziehung zu führen, hier eintragen und ihnen ein Rollenbild zuweisen.“
Erik schluckte. Das würde eine verflucht kurze und entsprechend peinliche Liste werden. In dem Moment legte Berger auch vor Erik einen Stapel mit Zetteln ab. Ganz oben drauf lag die ominöse Tabelle, die er ausfüllen sollte. Schon beim Anblick der ersten drei Zeilen, verkrampfte sich Eriks Magen. Mutter, Vater, Geschwister. Das würde in er Tat eine verdammt kurze Liste werden.
„Das hier ist kein Wettkampf“, erklärte Berger ruhig weiter, während er dabei weiterhin neben Eriks Tisch stand.
Der war von der verfluchten Hausaufgabe zum Glück ausreichend abgelenkt, sodass die zusätzliche Nähe ihm keine Probleme zu machen schien.
„Es geht nicht darum, möglichst viele Namen auf diese Liste zu setzen.“
„Wen genau sollen wir denn dann alles eintragen?“, fragte Pavel, einer von den Strebern, viel zu interessiert.
„Das ist Ihnen überlassen. Ich möchte, dass Sie während der Ferien darüber nachdenken, welche Menschen in Ihrem Leben eine Rolle spielen – und wie sich diese zusammen mit der Person selbst auf Sie auswirkt.“ In dem Moment klingelte es endlich zur Pause. Berger lächelte ein weiteres Mal in die Runde. „Falls Sie Fragen dazu haben: Morgen ist die letzte Gelegenheit. Die Aufgaben erwarte ich pünktlich am Dienstag nach den Ferien zurück.“
Eriks Herz schlug ihm bis zum Hals. Unfähig sich zu bewegen saß er auf dem Platz, während seine Mitschüler ihre Sachen packten und den Raum verließen. Wieso tat der Mistkerl ihm das an? Diese Liste würde in Eriks Fall so verflucht kurz werden, dass er die Namen darauf an einer Hand abzählen konnte. Er würde wie der letzte Vollidiot dastehen, falls sie den Scheiß nach den Ferien womöglich auch noch vortragen mussten.
Unsicher schielte Erik zu Berger, der gerade die letzten Sachen in seinen Rucksack stopfte, um ebenfalls den Raum zu wechseln. Für einen Sekundenbruchteil fragte Erik sich, wie Bergers Liste aussehen würde. Aber sofort schob er den Gedanken beiseite und sah wieder auf den Zettel hinunter. Sicher interessierte Erik sich nicht dafür, was der Kerl nach dem Unterricht trieb – oder mit wem. Geschweige denn sonst irgendetwas über diesen Blödmann.
„Erik?“
Überrascht sah er auf: „Ja?“
„Sollten Sie nicht zur nächsten Stunde gehen?“
Hastig nickte er und steckte die verfluchten Zettel ein. Da Tom nicht da war, würde er während der Ferien ja leider genug Zeit haben, um über den Mist nachzudenken. Wut begann erneut in Eriks Bauch zu gären, weil der Mistkerl Berger die Aufgabe garantiert herausgesucht hatte, um ihn nach den Feiertagen vorzuführen. Als Erik den Rucksack schulterte und aus dem Raum stürmen wollte, hielt Bergers Stimme ihn jedoch erneut auf.
„Ihr Leben definiert sich nicht über die Anzahl der Namen, auf dieser Liste, Erik.“
Für einen Augenblick war Erik sich nicht sicher, was er darauf antworten sollte. Aber der unschöne Stein in seinem Bauch schien durch den ruhigen Tonfall in Bergers Stimme besänftigt zu werden. Und verwandelte sich stattdessen in ein kribbelndes Flattern.
„Worum geht es dann?“, presste Erik um Beherrschung bemüht heraus.
Berger trat auf ihn zu. Schon konnte Erik dieses verfluchte Aftershave riechen, das ihm in der Vergangenheit mehr als einmal die Sinne vernebelt hatte. Sein Blick zuckte über Bergers wie immer glatt rasiertes Gesicht. Versuchte krampfhaft, dem Grün auszuweichen, wie Erik es bei jedem anderen Menschen machen würde. Aber Bergers Blick schien seinen anzuziehen wie ein verfluchter Magnet.
„Sag ich Ihnen nach den Ferien.“
‚Mistkerl!‘
Erik biss sich auf die Zunge, um das nicht laut zu sagen. Dieses kurze Grinsen, das geradezu verräterisch an Bergers Lippen zog, sagte allerdings genug.
Leider brachte es nicht die Wut in Eriks Bauch zurück, sondern verstärkte stattdessen das verdammte Flattern. Bei jedem anderen hätte Erik den Drang verspürt, ihm dieses dämliche Lächeln aus dem Gesicht schlagen zu wollen. Bei Berger hingegen kam da ein grundverschiedener ‚Drang‘ zum Tragen. Einen, den Erik immer weniger leiden konnte.
Bevor er etwas sagen konnte, war Berger aus dem Raum verschwunden. Und so blieb Erik nichts weiter übrig, als verwirrt dem knackigen Po hinterherzuschauen, der sich mit leicht wiegendem Gang die Treppe in den nächsten Stock hinauf schob.
‚Au, verflucht ...‘