43 – Beobachtungen und Beobachter
Erst als er aus dem Hinterzimmer in den Schrankraum trat, wurde Erik bewusst, dass er an einem regulären Dienstag bisher nie im Rush-Inn gewesen war. Wie Alex versprochen hatte, war nichts von der sonst herrschenden Geschäftigkeit zu sehen. Im Gegenteil. Ein kurzer Blick durch den Raum zeigte Erik das gleiche Bild, das sich ihm beim ersten Betreten der Kneipe an diesem Abend geboten hatte.
„Keine Sau da“, murmelte Erik irritiert. Alex stand hinter der Bar und sortierte irgendwelche Zettel. Stirnrunzelnd trat Erik auf ihn zu. „Sag mal ... machst du dienstags später auf?“
Ein inzwischen vertraut gewordenes Lachen schlug ihm entgegen. „Nein, aber unter der Woche kommen die meisten erst nach acht. Frag mich nicht, wieso es heute so ruhig ist.“
„Ruhig?“
Nicht, dass er sich über die zusätzlichen Einnahmen beschweren wollte, aber warum zum Teufel hatte Alex gemeint, er würde Hilfe brauchen? Erik sah sich ein weiteres Mal um. Vielleicht hatte er ja etwas übersehen. Oder besser jemanden. Den weniger gut ausgeleuchteten Bereich hinten an der Wand prüfte Erik sogar zweimal. Aber es änderte nichts.
„Es ist niemand hier.“
Alexanders Hand landete auf Eriks Schulter. „Keine Sorge. Wird sich bald ändern.“
Genau in dem Moment öffnete sich die Tür und tatsächlich trat ein Gast herein. „Hast du offen?“, fragte dieser nach einem Blick durch den leeren Raum.
„Klar, komm rein“, rief Alex seinem Kunden zu und deutete auf Erik. „Die Nächsten sind garantiert gleich da. Sag Erik hier, was du willst, ich mach das nur noch kurz fertig.“
„Was darf es sein?“
Erik hatte es nicht geschafft, das Bier für den ersten Gast zu zapfen, als in der Tat immer mehr hereinkamen. Innerhalb von dreißig Minuten hatte Erik schließlich zwanzig Bier eingeschenkt. Entsprechend waren inzwischen diverse Gespräche rund um ihn herum in Gang gekommen.
Etwas unruhig schielte Erik zu Alex, der jedoch weiterhin mit seinen Papieren beschäftigt war. Die Zahl der Gäste konnte man bisher nicht als ‚Ansturm‘ bezeichnen, allerdings fühlte Erik sich dennoch auf dem Serviertablett.
„Ent...schuldigung?“, quietschte es von der anderen Seite des Tresen. Verwundert sah Erik hinüber und damit direkt auf eine schmale, deutlich zu jung erscheinende Gestalt. „Ein Bier“, nuschelte es aus Richtung des gesenkten Lockenkopfes.
Erik grinste in sich hinein, verkniff sich aber jeden Kommentar. Stattdessen zapfte er das bestellte Bier und kassierte.
„Schenkt ihr neuerdings an Minderjährige aus?“
Verwunderte drehte Erik den Kopf und sah sich einem groß gewachsenen Mann gegenüber, der dem Gast von eben misstrauisch hinterher sah.
„Er ist Stammgast“, murmelte Erik.
Er kannte Alexanders Regel schließlich aus persönlicher Erfahrung. Die Erinnerung daran, dass Alex ihn kurz vor seinem eigenen Achtzehnten noch hochkant rausgeschmissen hatte, brachte ein Lächeln auf Eriks Lippen. Seinen Achtzehnten hatte er sogar hier mit Domi verbracht. Der hatte sich im Gegensatz zu Tom wirklich für Erik interessiert. Zumindest eine Zeit lang. Inzwischen war Erik sich allerdings sicher, dass das zwischen Dominik und ihm auch ohne den Wichser auf dem Herrenklo gescheitert wäre.
„Einen Whiskey, mein Hübscher.“
„Was?“ Erik sah verdattert auf und erneut in das grinsende Gesicht von dem Typ, der ihn eben schon angesprochen hatte. „Whiskey. Natürlich. Was ... Bestimmtes?“
Verunsichert versuchte Erik dem stechenden Blick des Gastes auszuweichen. Die durchdringenden Augen gefielen ihm nicht. Und das Grinsen hatte auch etwas, was Erik einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Dazu kam, dass er selbst überhaupt keine Ahnung von den Sachen hatte, die sich vor der Spiegelwand in seinem Rücken aufreihten. Hilfesuchend blickte Erik zu Alex hinüber.
Der sah glücklicherweise in genau diesem Moment auf. Als hätte er Eriks stummes Flehen um Unterstützung gehört, ließ er prompt den Stift fallen und kam zu ihnen hinüber geeilt. Statt zu fragen, wie er helfen konnte, schob Alex Erik jedoch recht direkt aus dem Weg.
„Kümmere du dich um die da hinten“, murmelte Alexander und wandte sich dann dem Kunden zu. „Ronny. Das Gleiche wie immer?“
Der Gast grinste, allerdings in Eriks Richtung. „Ach. Ich probiere auch gern mal was Neues.“
Der Blick, der daraufhin an Erik hinab wanderte, ließ ein Kribbeln über seinen den Rücken laufen. Irgendwas war reichlich unheimlich an dem Kerl, aber sein mentales Arschloch schien trotzdem etwas an diesem ‚Ronny‘ zu finden. Glücklicherweise griff Alex rasch nach einer Flasche und einem Glas. Beides kam lautstark vor dem Gast auf dem Tresen auf.
„Finger weg von meinen Aushilfen“, hörte Erik Alex zischen, bevor er die bräunliche Flüssigkeit in das Glas goss.
Glücklicherweise kam prompt der nächste Gast zu Erik und lenkte ihn in der Folge erfolgreich von Alex ab. Genauso wie von dem merkwürdigen Typ mit seinem Whiskey und dem kleinen Germain mit der Quietschestimme, der sich wie immer in die hinterste Ecke der Bar verzogen hatte.
Die folgende Stunde verging ereignislos. Erik hatte ausreichend zu tun und da immer mehr Gäste hereingekommen waren, hatte auch Alex sich inzwischen auf seinen üblichen Job verlagert. Das hieß ebenso, dass Erik an diesem Abend definitiv die Ablenkung fand, die er gesucht hatte.
„Hier“, quiekte es irgendwann neben ihm und ließ ihn von dem Glas aufblicken, das er gerade abgetrocknet hatte.
„Ah, Germain“, rutschte es Erik heraus, als er sich lächelnd herumdrehte, um dem jungen Mann das Glas abzunehmen. Der zuckte zusammen und schielte hastig nach links und rechts.
„Woher ...?“
„Entschuldige“, antwortete Erik hastig. „Benny hat mir deinen Namen gesagt.“
„Ah. Er ist ... heute gar nicht ... da?“
Erik grinste und zuckte mit den Schultern. „Nein, scheinbar nicht. Tut mir leid. Hast du auf ihn gewartet?“ Schnell schüttelte Germain den Kopf. „Alex meinte, ihm hätte jemand abgesagt. Vielleicht ist er krank. Soll ich für dich nachfragen?“
Diesmal war das Kopfschütteln umso heftiger. Grinsend beobachtete Erik, wie Germain in Richtung Ausgang hastete. Für einen Augenblick fragte er sich, was Benny wohl dazu sagen würde, dass ausgerechnet dieser so schüchterne kleine Kerl sich nach ihm erkundigt hatte. Grinsend senkte Erik den Kopf, riss diesen aber sofort wieder hoch und sah zurück zum Eingang.
‚Was zum ...?!‘
Hastig drängelte er an Alex vorbei und stürmte um die Bar herum. Davor waren inzwischen aber doch einige Gäste versammelt und so dauerte es sicherlich zwei, drei Minuten bis Erik es zum Ausgang geschafft hatte. Kaum war er rausgestürmt, sah er sich eilig um.
„Verdammt!“, fluchte er, denn außer Germain war niemand mehr im Umfeld zu sehen. Der hatte ihn aber scheinbar gehört und zuckte überrascht zusammen. „Entschuldige“, meinte Erik schnell. „Sag mal ... als du rausgegangen bist, da kam doch gerade jemand rein, oder?“
Germain überlegte und zuckte dann mit den Schultern. „Ich ... achte nicht so auf ... Andere“, nuschelte er verhalten, während er sich die Locken aus der Stirn strich.
„Schwarze Haare, etwas größer als du.“
„Ah“, meinte Germain, schien sich jetzt doch zu erinnern. „Ja. Aber der hat sich direkt umgedreht und ist mit dem Großen verschwunden.“
Schmerz bohrte sich in Eriks Eingeweide. „Wo lang?“
Germain deutete hinter sich. So schnell ihn seine Beine trugen, stürmte Erik in die angegebene Richtung. An der nächsten Straßenecke war aber natürlich niemand mehr zu sehen. Fluchend schlug Erik mit der Hand gegen die Wand, bevor er wieder umdrehte.
Mit zitternden Fingern zog Erik das Handy aus der Tasche. Germain murmelte er ein kurzes „Danke“, zu, als er sich auf den Weg zurück ins Rush-Inn machte. Währenddessen flogen Eriks Finger über die virtuelle Tastatur am Handy. Die Nachricht war noch nicht abgeschickt, als er stockte.
‚Was soll das bringen?‘
„Was ist los?“, fragte Alex besorgt, kaum dass Erik wieder da war. Der zuckte zusammen und quälte sich ein Lächeln heraus.
„Nichts“, murmelte er. „Ich dachte nur ...“
Alex fragte nicht weiter nach, sah ihn lediglich kritisch an. Erik seinerseits wandte sich den Gästen zu. Die waren hier, weil sie was trinken wollten. Unter anderem. Manche suchten eben auch Gesellschaft. Oder Sex.
‚Und was davon hat Tom heute hier gesucht?‘
„Ich brauch fünf Minuten Pause“, murmelte Erik in Richtung Alex, als gerade alle versorgt zu sein schienen.
Der nickte, weiterhin schweigend. Trotzdem konnte Erik die Blicke im Rücken spüren, als er sich ins Hinterzimmer zurückzog. Mit dem Handy in der Hand saß er dort und starrte vor sich hin. War es überhaupt Tom gewesen? Sein Gesicht hatte Erik nicht gesehen, aber Haare und Statur waren recht eindeutig.
„War er es wirklich?“, wisperte Erik. Gedankenverloren drehte er das Handy zwischen den Fingern. Die Nachricht von vorhin war weiterhin nicht verschickt. Sollte er nachfragen?
‚Und wenn Tom schreibt, dass er nicht hier war?‘, fragte Erik sich.
Das ungute Gefühl im Bauch blieb, obwohl es nicht mehr so schmerzhaft war, wie zuvor. Tom stellte ein Trugbild dar. Einem, dem er hinterhergerannt war, in der Hoffnung auf etwas, das er dort nie finden würde. Aber auch dieses ‚nur Sex‘-Ding zwischen ihnen schien immer verlogener. Den vertrottelten Werther wollte Erik für Tom nicht spielen. Und was den Rest anging, brauchte er Gewissheit.
Ein kurzes Wischen, ein paar Klicks, dann hielt Erik das Telefon ans Ohr. Das Klingen schien elendig laut in dem kleinen Raum widerzuhallen. Einmal. Zweimal. Dreimal. Es klingelte acht Mal, bevor die Mailbox ranging. Und jetzt?
„Hey, Tom. Ich ... wollte nur ... fragen, ob du Zeit hast. Aber scheinbar ... bist du ... beschäftigt“, stammelte Erik.
‚Scheiße!‘ Hastig legte er auf. Erik schloss die Augen. ‚Ist Tom tatsächlich gerade mit einem anderen Mann unterwegs?‘
Krampfhaft versuchte Erik, das heftiger werdende Ziehen an den Eingeweiden zurückzudrängen. Der Gedanke, dass Tom sich in diesem Augenblick mit einem anderen Kerl vergnügte, tat mehr weh, als Erik zugeben wollte. Sie hatten immerhin eine Vereinbarung. Wenigstens auf die hätte er doch wohl vertrauen können, oder?
‚Du bist eben genauso ein Trottel wie Werther.‘
Die Tür öffnete sich und Alex steckte den Kopf herein. „Alles klar bei dir, Erik?“
Er nickte, lächelte und schob das Handy zurück in die Hosentasche. „Ist schon gut“, murmelte Erik und stand auf. Er war hier zum Arbeiten.
„Was ist passiert?“, fragte Alex jedoch weiter, als sie wieder hinter dem Tresen standen.
Erik zuckte mit den Schultern. „Hab gedacht, ich hätte jemanden gesehen.“
Schweigen, das drückender erschien, als forschende Nachfragen. Dabei konnte Erik die im Augenblick ja sowieso nicht brauchen. Denn Antworten hätte er nicht zu bieten. Jedenfalls keine, die ihm befriedigend genug erschienen. Dafür ausreichend Fragen, die Erik selbst nur zu gern stellen würde.
„Glauben Sie denn daran, dass ihre nächste Liebesbeziehung die einzig verbleibende in Ihrem Leben sein könnte, Erik?“
Er schloss die Augen und versuchte, den Gedanken an diese Deutschstunde im Januar zurückzudrängen. Eriks Magen zog sich weiter zusammen. Der Schmerz schien jedoch deutlich erträglicher zu sein. War es tatsächlich so albern und kindisch, wenn er darauf hoffte?
Bergers Stimme hatte zwar amüsiert, aber nicht hämisch geklungen. Nicht bösartig, eher ehrlich erstaunt, dass Erik in der Tat eine derartig naive Frage stellen konnte. Zumindest bildete er sich das ein. Aber was verstand er schon von Menschen?
„Alex? Kann ich dich mal etwas fragen?“, setzte Erik gut eine Stunde später zögerlich an, als sie beide hinter der Bar gerade nicht viel zu tun hatten und eher gelangweilt die Gläser polierten.
„Klar.“
Erik runzelte die Stirn. Er war sich nicht sicher, was er wissen wollte. Und irgendwie klang, die einzige Frage, die ihm in den Sinn kam reichlich lächerlich. Entsprechend schaffte er es nicht, seinen Chef anzusehen.
„Wie ... oft muss man sich verlieben, bevor ... es ...?“ Erik brach ab. Okay, jetzt wo die Frage fast raus war, klang es noch bescheuerter als in seinem Kopf. „Schon gut“, murmelte Erik hastig hinterher. „Vergiss es.“
„Bevor es hält?“, fragte Alex mit einem Lächeln nach. Erik zuckte mit den Schultern, nickte dann aber vorsichtig. „Keine Ahnung. Das kann ich dir nicht sagen, tut mir leid.“
Seufzend sah Erik sich im Gastraum um. Inzwischen schienen die meisten jemandem zum Reden gefunden zu haben. Wie viele davon würden heute im Bett landen? Nur Sex? Oder der Anfang von ‚mehr‘? Wollten die das überhaupt? Dass viele es nicht so mit Monogamie hatten, war Erik spätestens nach seiner ersten Profilsurfingrunde in diversen Datingapps klar geworden. Aber es musste doch irgendwo einen Mittelweg geben.
„Ich denke, es gibt keine Minimalzahl“, meinte Alex plötzlich. Blinzelnd sah Erik auf und zu seinem Chef hinüber „Ich hab meiner Frau einen Antrag gemacht, da waren wir noch nicht einmal so alt wie du jetzt.“
„Du bist verheiratet?“, rutschte es Erik entsetzt und mit quietschender Stimme heraus, bevor er sich bremsen konnte.
Alex lachte leise und schüttelte den Kopf. „Nein, sie lässt mich seitdem zappeln.“
„Ihr seid trotzdem noch zusammen?“
Alexander nickte, dann lachte er mit einem Mal laut. „Oh Gott, ich glaube tatsächlich, schon bald unser halbes Leben. Das klingt, als wäre ich uralt.“
Erik grinste. „Du bist alt, Alex.“
Der schubste ihn gespielt von sich weg. „Hey! Nicht so vorlaut, Junior.“
„Wenn da noch was zur dreißig fehlt, kann es nicht viel sein.“
Diesmal war es Alex, der grinste und anschließend auf einen der Gäste deutete, der sich eben auf den Weg zur Bar machte, um Nachschub zu holen. „Nicht frech werden. Sieh lieber zu, dass du arbeitest.“
Nachdem Erik das leere Glas gegen ein frisch gezapftes ausgetauscht hatte, kam er zu Alex zurück. Die Sache ließ ihm keine Ruhe, deshalb fragte Erik weiter: „Also war es bei dir die erste und einzige große Liebe?“
Ein Schulterzucken. „Die Erste vielleicht nicht.“
„Die letzte?“
Ein kurzes Lächeln zog über Alexanders Lippen. „Wer weiß schon, was passiert. Ich hoffe es. Aber in die Zukunft schauen, kann keiner.“
„Hoffen, hm?“
Alex seufzte. „Erik ... Ich mach diesen Job jetzt schon eine Weile und habe sehr viele Männer hier alleine rein und in Begleitung wieder rausgehen sehen. Einige kommen ein paar Tage später ohne ihren Begleiter zurück und manche mit. Mitunter treffen sie sich immer wieder mal. Ein paar sieht man hinterher nie wieder. Andere kommen nur noch gemeinsam her.“
Erik überlegte einen Moment, bevor er zögerlich fragte: „Meinst du damit, dass der richtige schon dabei sein wird, wenn ich nur lange genug suche?“
Ein kurzes Lächeln zuckte über Alexanders Lippen. „Ich meine, dass du erst einmal wissen musst, was denn ‚der Richtige‘ heißt. Dann aber der Nächste schon eben dieser Richtige sein kann.“
„Oder auch nicht“, gab Erik unzufrieden zurück.
„Möglich.“
„Wahrscheinlich“, murrte er resignierend.
„Nein“, fuhr Alex schnell dazwischen. Eine kräftige Hand landete auf Eriks Schulter und drückte kurz zu. „Wahrscheinlich ist, wie mir scheint nur, dass es einen Nächsten geben wird.“
Noch einmal drückte die Hand auf Eriks Schulter aufmunternd zu, dann ging Alex breit lachend auf einen weiteren Gast zu und schenkte diesem nach.
Missmutig beobachtete Erik, wie der Kerl mit zwei vollen Gläsern zurück zu einem der Tische lief und sich dort wieder seinem Date widmete. Die beiden sahen zufrieden aus und wirkten vertraut genug, dass es vermutlich nicht ihre erste Verabredung war. Allerdings waren die zwei garantiert an die dreißig. Erik war gerade erst neunzehn geworden. Würde es weitere elf Jahre dauern, bis er auch endlich da drüben saß?
‚Um was zu haben?‘, fragte Erik sich mit einem Mal selbst und war sich nicht mehr sicher, was es war, das er sich wünschte. ‚Eine Beziehung‘, war das erste, was ihm einfiel.
Nur, was das bedeuten sollte, war Erik weiterhin unklarer. Was genau gehörte da wirklich dazu? Denn Sex und die Tatsache, dass man nicht einfach mit dem nächsten besten anderen Mann ins Bett stieg, machten es ja offensichtlich nicht aus. Genauso wenig wie ein ‚ich mag dich‘, gemeinsame Kino- oder Barbesuche.
Wieder wanderte Eriks Blick hinüber zu dem Paar am Tisch, das er zuvor beobachtet hatte. Es wirkte so verflucht selbstverständlich, wie die beiden da saßen. Nicht auf diese kitschige Art und Weise, bei der Dominik Erik halb auf dem Schoss gehockt hatte. Trotzdem waren da Blicke, die verrieten, dass mehr zwischen den Zeilen gesprochen als tatsächlich artikuliert wurde.
„Dazu gehören“, murmelte Erik leise. „Sein wie man ist und so akzeptiert werden.“
Mit einem Seufzen schloss er die Augen. Dabei hatte Erik es bisher den ganzen Abend erfolgreich vermeiden können an den dummen Lehrer zu denken, der ihm diesen blöden Gedanken auch noch direkt angesehen hatte.
✑
Musik. Eines der schlimmsten Fächer überhaupt.
Abgesehen davon, dass es an sich eine Qual war, dem Rest dieses Kurses beim Singen zuzuhören, hatte Erik keinen Funken Musikalität in sich. Jedenfalls nach seinem eigenen Dafürhalten. Schlimmer machte es nur die Tatsache, dass der Rest des Kurses offensichtlich mit ebenso viel Talent in diesem Bereich gesegnet war, wie er selbst.
Also gar keinem.
Genervt ließ Erik den Kopf auf den Tisch fallen und hielt sich die Ohren zu. In Musik hatte er einen Platz in der letzten Reihe erwischt, was aber bei einem dermaßen auditiven Fach leider überhaupt keinen Vorteil brachte. Abgesehen davon, dass er sich recht gut hinter der Dreiergruppe junger Damen verstecken konnte, die vor ihm saßen und permanent die Köpfe zusammensteckten.
Wenigstens hatte Erik heute Morgen Ruhe vor Sandro und dessen Affen. Die hatten sich für einen anderen Kurs entschieden. Trotz offensichtlich gegenteiliger Argumente weigerte Erik sich, ihnen dafür ein gewisses Maß an Verstand einzuräumen. Die Alternativen zu Musik waren letztendlich auch nicht besser gewesen.
Glücklicherweise endete die Stunde irgendwann und so schlurfte Erik mit überstrapaziertem Trommelfell weiter in Richtung Sportplatz, wo er sich vermutlich gleich ein paar Muskeln zusätzlich strapazieren durfte. Dabei hatte Erik früher gern Sport gemacht. Allerdings lieber allein. Oder im Verein. Zumindest im Verlauf des letzten Jahres definitiv nicht in der Schule. Mittwoch war einfach nicht sein Tag. Das ganze Schuljahr schon nicht.
‚Nur noch zwei Wochen bis zu den Prüfungen, dann ist es endgültig vorbei‘, sagte Erik sich – nicht zum ersten Mal.
Allerdings brachte dieser Gedanke nicht mehr die Erleichterung, die ihn in den letzten Monaten begleitet hatte. Warum das so war, konnte Erik nicht sagen. Sonderlich gern ging er schließlich schon eine Weile nicht mehr zur Schule. Wobei es, seitdem Sandro ihn einigermaßen in Ruhe ließ, garantiert schlimmere Arten gab die Zeit totzuschlagen.
Als Erik sich zum Rest des Leichtathletikkurses gesellte, sahen die eher aus, als ob sie lieber in der Frühlingssonne liegen wollten, anstatt sich überhaupt bewegen. Das ließ ihr Sportlehrer sich allerdings auch so kurz vor den Abiprüfungen nicht gefallen.
Mit der üblichen schneidenden Stimme kommandierte er sie die ersten zehn Minuten durch das Aufwärmtraining. Wenigstens musste Erik sich dabei nicht mit dem Rest der müden Idioten abgeben, sondern konnte etwas abseits stehen. Diesen Sauhaufen würde er ganz sicher nicht vermissen. Genauso wenig wie das Rumgeschreie ihres Sportlehrers. Die dämlichen Ansagen, dass sie nur verweichlichte Memmen waren, die nicht einmal mehr die viertausend Meter in einer annehmbaren Zeit schaffen würden.
Und ganz sicher würde Erik nicht die Deutschstunden vermissen! Oder den Blödmann von Lehrer. Der ständig irgendwelche dummen Sprüche abgab, die sich hinterher auch noch als richtig erwiesen. Erik zumindest tage- wenn nicht wochenlang im Kopf herumspukten.
„Als ob der einem fehlen könnte“, murmelte Erik verhalten, während ihr Sportlehrer ihnen sagte, dass für den Rest der Stunde Dauerlauf anstand. Wer wahlweise die fünfunddreißig Minuten oder fünftausend Meter geschafft hatte, durfte gehen.
Nein, wenn Erik etwas garantiert nicht vermissen würde, waren das dämliche Hausaufgaben, die ihm immer wieder vor Augen führten, wie beschissen sein Leben verlief. Oder blöde Pornopoesie, bei der einem gleich die Hormone durchgingen und man mit einem peinlichen Ständer im Kurs saß, von dem besser niemand etwas mitbekam. Als ob das irgendjemand vermissen könnte.
„Bestimmt nicht!“, zischte Erik ungehalten, während sich in seinem Bauch ein Kribbeln ausbreitete.
Wer brauchte denn schon einen dämlichen Deutschlehrer, der ständig grinste, lächelte oder ihn für irgendwelchen kranken Scheiß lobte? Das war doch Mist! Alles!
Schnaubend setzte Erik sich auf der Sandbahn in Bewegung. Er sollte sich auf das Training konzentrieren. Fünftausend Meter, die schaffte er doch locker in zwanzig Minuten. Zwanzig beschissene Minuten in denen Erik ganz sicher nicht über Deutsch nachdenken wollte! Oder über diesen blöden Kerl, der den Kurs hielt! Seine Schritte beschleunigten sich.
‚Dämlicher Berger!‘
Den würde er garantiert nicht vermissen. Niemals! Das war lächerlich. Und zwar absolut. Denn der war schließlich ein verdammter Lehrer. Und nur weil Berger den ganzen kranken Mist, den Erik ihm vor die Füße knallte, stoisch ertrug, war er noch lange nicht besser. Oder überhaupt irgendwas. Außer einem verfluchten Lehrer!
„Scheiße, verdammt!“
Egal, wie schnell Erik lief, wie sehr ihm Brust und darin befindliche Lunge schmerzen, wie stark die Muskeln in seinen Beinen brannten – es änderte nichts. Dieser verfluchte Kerl war weiter in Eriks Kopf und verschwand einfach nicht. Allmählich war Erik sich nicht einmal mehr sicher, ob er den blöden Lehrer da wirklich raushaben wollte. Eine Sache ließ sich schließlich nicht leugnen: Berger war der Einzige, dem Erik diese Seite von sich zeigen konnte.
‚Der Einzige, dem du sie zeigen willst.‘ Ja. Auch das. Aber der Punkte machte es schlimmer. Nicht besser.
Keuchend brach Erik nach dreizehn Runden vor der Baracke, die sie als Umkleide benutzten zusammen. Er schaffte es gerade noch, sich auf den Rücken zu drehen und in den hellblauen Himmel zu starren.
„Hoffmann!“, peitschte die Stimme des Sportlehrers über den Platz. „Sind Sie des Wahnsinns?!“
Erik stöhnte, rührte sich allerdings keinen Zentimeter von der Stelle. Selbst wenn er gewollt hätte, seine Beine zitterten und würden ihn im Augenblick garantiert nicht tragen. Wie der Kampf seiner Lunge um Sauerstoff ausgehen würde, stand ebenso weiterhin offen. Eriks Herz fühlte sich jedenfalls an, als würde es jeden Moment den Brustkorb sprengen.
Schon hörte er es Knirschen, als rasche Schritte sich näherten. Kurz darauf stand der Sportlehrer neben ihm und starrte mit finsterem Blick zu Erik herunter. Er selbst konnte nur dümmlich zurück grinsen. Heute war Sport definitiv wie Musik – nicht wirklich zu ertragen.
„Zum Abschluss der Schulzeit noch einmal eine Bestleistung da lassen, was Hoffmann?“, meinte sein Lehrer plötzlich und grinste . „Aber wenn Sie hinterher tot umkippen, haben Sie auch nichts davon. Das nächste Mal mit etwas mehr Verstand!“
„Ent...schuldigung“, ächzte Erik und rappelte sich zumindest so weit hoch, dass er saß und nicht mehr lag. Seinen Beinen traute er noch nicht wirklich zu, ihn wieder zu tragen.
„Sie sind auch der Erste, der sich bis zum Schluss in meinem Unterricht anstrengt.“
Mehr als ein müdes Lächeln brachte Erik nicht zustande. Das schien aber dennoch zu reichen, um keinen weiteren Anschiss zu bekommen. Sein Lehrer sah zu den anderen aus dem Kurs zurück, die keuchend und wenig motiviert die Bahn entlang trabten. Für einen Moment kratzte er sich am Kopf, dann drehte er sich wieder zu Erik.
„Wie versprochen. Sie sind für heute fertig.“
„Wirklich?“ Für einen Moment war Erik sich nicht sicher, ob er dafür dankbar sein sollte. Vielleicht würden ein paar weitere Runden helfen, den Kopf endgültig freizubekommen.
Sein Sportlehrer grinste und zuckte mit den Schultern. „Ach kommen Sie. Sie sind nicht mein erster Abiturjahrgang. Sehen Sie sich die anderen doch an. Na los, verschwinden Sie, Hoffmann. Dann haben Sie zumindest Gelegenheit, vor der nächsten Stunde noch einmal zu Atem zu kommen.“
Eben der stockte Erik allerdings, als er daran dachte, was – beziehungsweise wer – ihn in der folgenden Stunde erwarten würde. Sein Sportlehrer bekam davon nichts mit. Denn der entfernte sich mit einem tiefen, bollernden Lachen, das Erik sogar noch schwerer im Magen lag.
Das frühe Ende der Sportstunde hatte für Erik den Vorteil, dass er sich nach der schweißtreibenden Runde auf dem Sportplatz in Ruhe duschen konnte, bevor er sich umzog. Auf diese Weise war Erik weniger verschwitzt und seine Gedanken waren von dem eiskalten Wasser auch erst einmal abgekühlt worden.
Zumindest fühlte Erik sich deutlich ruhiger, als er später in Richtung Hauptgebäude lief. Der Rest des Sportkurses war weiterhin auf dem Platz oder auf dem Weg zur Umkleide. Bis zur Pause waren noch einige Minuten Zeit, aber allzu lange würde er wohl nicht vor dem Klassenraum warten müssen.
„Guten Tag, Erik.“
Beinahe hätte er laut geflucht. Das konnte Erik aber gerade noch unterdrücken, während er sich im Gang des Schulhauses herumdrehte und sich selbst zu einem Lächeln zwang.
„Hallo, Herr Berger“, murmelte Erik verhalten.
„Früh dran heute.“
Um nicht antworten zu müssen, zuckte Erik lediglich mit den Schultern. Am liebsten wäre Erik davongerannt, aber das hätte reichlich dämlich ausgesehen. Zumal sie ja beide offensichtlich den gleichen Weg hatten.
Wie viel Zeit war noch bis zur Pause – und somit bis zur nächsten Stunde? Warum war der Kerl überhaupt schon da? Hatte der keine anderen Kurse, die er nerven konnte? Unruhig suchte Erik die Wände des Ganges nach einer Uhr ab, während sie schweigend nebeneinander her liefen. Dummerweise war da keine – auf dem ganzen Weg nicht, bis sie die Tür des Klassenzimmers erreichten.
„Fünf Minuten.“
„Wie bitte?“, irritiert sah Erik zu Berger der inzwischen reichlich verkrampft und unsicher wirkend an der Wand neben der Klassenzimmertür lehnte. Womit der blöde Lehrer mal wieder deutlich jünger aussah, als er war. Oder aussehen sollte.
‚Was auch immer.‘
Mit einem ungewohnt zurückhaltend Lächeln deutete Berger mit dem Daumen über die Schulter in Richtung Klassenzimmer. „Noch fünf Minuten bis zur Pause.“
Verdammt. Erwischt und gehen konnte Erik selbstverständlich immer noch nicht. Denn das würde ja aussehen, als rannte er weg. Was er natürlich nicht tun würde. Warum auch? Der Kerl war schließlich nur ein Lehrer.
‚Der immer noch total neben der Spur wirkt.‘
Dabei hatte Berger im vergangenen Schuljahr einen geradezu unerschütterlichen Eindruck auf Erik gemacht. Der Mann, der ihm hier gegenüber stand, hatte allerdings eher etwas von dem schüchternen Germain, als von seinem sonst so selbstsicheren Lehrer.
Was auch immer dazu geführt hatte, es beschleunigte Eriks Herzschlag direkt um ein paar Takte. Hatte am Ende doch irgendjemand von diesen beschissenen Aufsätzen erfahren? Und jetzt war es Berger peinlich, weil die ganze Sache ans Licht kommen würde?
‚Fuck!‘
Misstrauisch sah Erik weiterhin zu Berger. Vielleicht hatte der Kerl nur inzwischen doch Angst davor, mit Erik allein zu sein. Wäre ihm kaum zu verdenken. Die Vorstellung gefiel Erik trotzdem nicht. Ganz im Gegenteil. So blöde war Berger ja vielleicht doch nicht. Jedenfalls nicht immer. Oder?
Erik schluckte und trat an die Berger gegenüberliegende Wand, um den den größtmöglichen Abstand zwischen ihnen zu schaffen. Eriks Rucksack landete auf dem Boden, während er selbst sich mit hinter dem Rücken verschränkten Händen anlehnte. Das wirkte hoffentlich harmlos genug, damit der Blödmann da drüben sich endlich wieder entspannte.
Schweigend standen sie da. Die Zeit schien allerdings nur so dahinzuschleichen. Denn nach einer gefühlten halben Stunde hatte es weiterhin nicht zur Pause geklingelt. Zumindest wirkte Berger tatsächlich allmählich entspannter, wie Erik aus dem Augenwinkel bemerkte.
„Muss ich, da wir mit Werther noch nicht ganz durch sind, heute mit einem weiteren Ausbruch rechnen?“
‚Mistkerl!‘, dachte Erik bei sich, biss sich aber auf die Zunge, um das nicht laut zu sagen. Stattdessen murmelt er verhalten: „So lange Sandro die Klappe hält, eher nicht.“
Für einen Moment war er sich nicht sicher, ob das Lächeln auf Bergers Lippen zu einem Grinsen wurde. Letztendlich traute Erik sich nicht, allzu lange auf diesen Mund zu starren. Schließlich gab es hier im Flur keine Schulbank, unter der man gewisse Dinge verstecken konnte.
„Ich hege weiterhin die Hoffnung, dass Herr Claasen ebenso lernfähig ist, wie andere Leute.“
„Würde ich kein Geld drauf wetten.“
Erst Bergers hochgezogene Mundwinkel, zusammen mit den ebenso erhobenen Augenbrauen, machten Erik klar, dass er die letzten Worte laut ausgesprochen und nicht nur gedacht hatte.
„Entschuldigung“, murmelte er verhalten. „Sie brauchen es gar nicht sagen.“
„Was genau?“
„Das mit der Einstellung anderen gegenüber.“ Vorsichtig linste Erik jetzt doch noch einmal zu Berger, der grinste weiterhin. Und diesmal war Erik sich sicher, dass es kein Lächeln war, sondern eher ein recht verschmitztes und deutlich zu attraktives Grinsen. Schnell sah Erik zur Seite.
‚Wann sind diese blöden fünf Minuten denn endlich um?‘
„Sie haben es doch auch gelernt“, meinte Berger und stieß sich von der Wand ab.
Für eine Sekunde dachte Erik, der Kerl würde auf ihn zukommen. Da war dieses verdammte Grinsen auf den Lippen, von dem Erik sich nicht sicher war, ob er es Berger aus dem Gesicht schlagen oder wegküssen wollte. Wobei Letzteres zwar verboten verlockend klang, allerdings garantiert eine saudämliche Idee war. Ganz unabhängig davon, dass Berger sein verfluchter Lehrer war.
Glücklicherweise klingelte es in diesem Moment und natürlich hatte Berger in Wirklichkeit keinen einzigen Schritt auf Erik zugemacht. Stattdessen stand er neben der Klassenzimmertür, durch die wenige Sekunden später die ersten Schüler stürmten. Zeitgleich waren weitere Schritte im Flur zu hören, die den Rest des Deutschkurses ankündigen dürften.
„Wie lange muss ich Werther denn noch ertragen?“, fragte Erik mit einem Mal. Dass sich bei dem erneuten, diesmal deutlich zaghaften Lächeln auf Bergers Lippen schon wieder irgendetwas flatternd in seinem Magen meldete, konnte er nicht verhindern.
Der Lehrer der vorherigen Klasse trat heraus und nickte Berger kurz zu, bevor auch er verschwand. Der sah zunächst seinem Kollegen nach, drehte sich anschließend aber wieder zu Erik.
Der plötzlich ernste Gesichtsausdruck gefiel Erik nicht – noch viel weniger der Gedanke, dass er selbst mit seiner blöden Frage dafür gesorgt hatte, dass das Lächeln verschwunden war.
„Das Schuljahr ist bald rum, Erik. Sonderlich lange müssen sie also ... Werther nicht mehr ertragen.“