38 – Bitterkeit und Wahrheit
Langsam stieg Erik die Stufen zur Wohnung seiner Mutter nach oben. Unter normalen Umständen wäre er diesen Weg heute nicht mehr gegangen. Immerhin war es Samstag Abend. An jedem anderen Wochenende wäre Eriks Plan gewesen, dass er am Sonntagmorgen heimkam – im Idealfall erst im Laufe des Tages. Die Tatsache, dass Erik, als er sich auf den Weg in den Stadtpark gemacht hatte, nicht einmal Wechselklamotten mitgenommen hatte, kam wohl nicht von ungefähr.
Kaum war Erik in der Wohnung, hörte er aus dem Wohnzimmer leise Geräusche und ein auffälliges Flackern verriet, dass seine Mutter offenbar gerade einen Film schaute. Um sie nicht wieder zu erschrecken, rief er einen lauten Gruß, den sie mit einem kurzen „Hallo“ erwiderte.
Erik war bereits fast am Wohnzimmer vorbei auf dem Weg ins Bett, als er plötzlich innehielt.
Das Essen bei Tom war schweigend verlaufen. Noch nie hatte Pizza so sehr nach Pappe geschmeckt wie an diesem Abend. In jeder der sich zäh wie Kaugummi in die Länge ziehenden Sekunden hatte Erik sich gesagt, dass er nur sein Maul aufbekommen musste. Einfach noch einmal fragen. Direkt. Ohne um den heißen Brei herumzureden.
Trotzdem hatte er es nicht getan, denn dieser kleine trotzige Teil in ihm, der darauf bestand, dass Tom wissen müsste, warum Erik gerade diesen Samstag mit ihm verbringen wollte, war überzeugender gewesen.
Kaum dass sie fertig geworden waren, tauchten auch noch Nora, Mario und Lukas auf. Wie aufs Stichwort. Alle drei. Beinahe, als hätten sie sich verabredet. Für die Dauer eines Wimpernschlages hatte Erik überlegt, ob Tom sie womöglich per Handy darum gebeten hatte. Albern. Oder nicht?
Es hatte Erik diesmal kaum Überwindung und Überlegung gekostet, die Einladung zu einem weiteren Spieleabend abzulehnen. Auch wenn das Eriks eigentliches Ziel, dem zwischen ihnen beiden mehr Bedeutung zu geben, vielleicht tatsächlich weitergeholfen hätte. Dass Tom überhaupt versucht hatte, ihn zum Bleiben zu überreden, war ehrlich gesagt überraschend für Erik gewesen. Aber nicht einmal das, hatte ihn an diesem Abend überzeugen können.
Es tat weh. Irgendwo zwischen Brust und Bauch. Womöglich in beidem. Kein Ziehen oder Reißen, kein Stechen und trotzdem schmerzhaft. Hätte jemand Erik gefragt, was es war, er hätte es nicht erklären können. Es fühlte sich nicht an wie der sprichwörtliche Stein im Bauch, der alles nach unten zog. Nicht wie ein Speer oder ein Messer, welches man ihm in den Magen rammte.
Es war eher ein Loch. Ein tiefes, schwarzes Loch, das alles um sich herum zu verschlingen schien. Jedes Flattern oder Kribbeln, das Erik in den letzten Wochen und Monaten dort verspürt hatte. All die Vorfreude, Erwartung und vielleicht sogar Hoffnung, die da gewesen waren.
Wieso das alles ausgerechnet dazu führte, dass Erik fünf Minuten später mit einer Flasche Wasser in der Hand auf dem Sofa saß und gemeinsam mit seiner Mutter auf den Fernseher starrte, würde Erik vermutlich nie verstehen. War im Grunde aber nicht wichtig. Sie schwiegen. Trotzdem konnte er den prüfenden Seitenblick seiner Mutter auf sich förmlich körperlich spüren.
Erik stellte die Flasche auf den Couchtisch und sank tiefer in die Kissen. Die Hände unter die Oberschenkel geschoben hockte er, ansonsten teilnahmslos da. Den Blick starr auf den flimmernden Bildschirm gerichtet.
Er konnte es spüren. Was auch immer ‚es‘ war. Aber da war etwas in Erik, das kurz davor war zu zerbrechen. Nur konnte er weiterhin nicht in Worte fassen. Womöglich wollte er das ja gar nicht. Also schwieg Erik, während er auf die Mattscheibe starrte, ohne auch nur ansatzweise zu begreifen, was für Bilder darüber flimmerten.
„Erik?“, fragte seine Mutter vorsichtig. „Ist alles in Ordnung?“
Nein, war es nicht, aber er brachte die Worte nicht über die Lippen. Denn dann müssten weitere Folgen und Erik hatte keine Ahnung, wie er das sagen sollte oder wie sie reagieren würde. Er wusste nur eines. Nämlich, dass er wenigstens seine Mutter nicht verlieren wollte. Nach dem heutigen Abend war Erik mehr als klar, dass er dann endgültig allein sein würde.
„Mama?“, setzte er trotzdem irgendwann an.
Das Flimmern war schlagartig verschwunden, was Erik eine Sekunde irritierte, bis er begriff, dass seine Mutter den Fernseher abgeschaltet hatte. Vorsichtig wagte er einen Seitenblick zu ihr und stellte fest, dass sie sich herumgedreht hatte und ihn direkt anblickte.
„Uhm“, murmelte er unsicher, denn genau genommen, hatte Erik keine Ahnung, was er überhaupt sagen wollte. Genauso wenig, wie er wusste, woher seine folgende Frage kam: „Hast du ... Papa eigentlich wirklich geliebt?“
Einen Moment lang schwieg sie, dann seufzte seine Mutter verhalten. „Ja, natürlich. Sonst hätte ich ihn nicht geheiratet.“
„Wieso, hast du dich in ihn verliebt?“, fragte er weiter. „Ich meine ... Wir wissen beide, dass er nicht unbedingt ... charismatisch ist.“
Seine Mutter schnaubte. Ein kurzes Lachen, gefolgt von einem geradezu sehnsüchtig wirkendem Lächeln. Trotzdem schüttelte sie den Kopf, bevor sie antwortete: „Er war nicht immer so. Es ist keine Entschuldigung, aber ... Na ja, seine Arbeitskollegen waren wohl nicht unbedingt ein guter Umgang für ihn. Und der Alkohol hat auch nicht geholfen.“
Erik nickte langsam, schwieg aber.
Ihre Stimme war leise, nurmehr ein Flüstern, als sie sagte: „Du ... weißt, dass du mit mir über alles reden kannst, mein Junge. Oder?“
Wusste er das? Konnte er das? Noch immer war Erik sich nicht sicher, denn die Angst, den letzten Menschen zu verlieren, saß verdammt tief.
‚Musst ihr ja nicht im Detail auf die Nase binden, was für ein Scheiß in deinem Kopf alles abgeht.‘
Trotzdem konnte Erik sich nur zu einer weiteren Frage durchringen, anstatt ihre eigene zu beantworten. Eine, die im Grunde gar nichts mit ihrem bisherigen Gespräch zu tun hatte. Nur, dass Erik immer mehr das Gefühl hatte, dass sie wichtig war.
„Warum hast du mir nicht eher gesagt, dass Papa im Knast sitzt?“
Als sie diesmal nicht antwortete, drehte Erik den Kopf und sah sie an. Sie wirkte mindestens so unsicher, wie er sich fühlte. Allerdings war er sich nicht sicher warum.
„Du warst erst zwölf, ich ... wollte nicht, dass du ... das Gefühl hast, der Sohn eines ... Verbrechers ... zu sein.“
Es war nicht zu überhören, dass sie eigentlich ein anderes Wort hatte sagen wollen. Das Ziehen in Eriks Bauch wurde wieder stärker. Schon konnte er die inzwischen gefürchtete Schlinge um seinen Hals spüren. Immer deutlicher hatte Erik das Gefühl, als sollte er es dabei beruhen lassen. Allerdings hatte sie seine Frage nur zum Teil beantwortet, also hakte er ein weiteres Mal nach: „Ich bin aber schon lange keine zwölf mehr, Ma.“
Sie seufzte. „Du solltest nicht denken, dass du ...“ Seine Mutter stockte, als ihre Stimme brach.
Verwundert runzelte Erik die Stirn. Als sie sich hastig über die Augen wischte, verstärkte sich das Ziehen, wurde zu einem Brennen, das Erik förmlich aufzufressen schien. Eine Ahnung, die mit jeder verstreichenden Sekunde deutlicher wurde. Immer klarer formulierte sich damit die nächste Frage in Eriks Kopf, eine die er nicht stellen wollte, weil er die Antwort in ihrem Gesicht schon sehen konnte. Und die Bestätigung ihn nur noch mehr verletzten würde. Eine kalte Hand ergriff sein Herz und drückte immer fester zu. Erik musste es wissen. Die ganze verdammte Wahrheit, die sie ihm vorenthalten hatte.
Eriks Stimme war tonlos, als er die Worte herauspresste: „Waren sie schwul?“
Es war eine Mischung aus Keuchen und Schluchzen, was seiner Mutter entkam, bevor sie die Hand vor den Mund presste. Aber es zerriss das letzte Band, das Eriks Eingeweide zusammengehalten hatte. Sein verdammter Erzeuger war nicht nur ein Totschläger, sondern zusätzlich ein verfickter homophober Arsch. Alles, was er selbst verachtete, vereint ausgerechnet in dem Idioten, dem Erik seine eigene Existenz verdankte. Seufzend schloss Erik die Augen und ließ den Kopf auf die Rückenlehne der Couch sinken. Wie scheiße konnte dieser Abend eigentlich noch werden?
„Erik, es ist nichts falsch ...“, setzte sie mit Tränen in den Augen an – schaffte es aber nicht, den Satz zu beenden.
Auch wenn er oft genug keine Ahnung zu haben schien, was in seinen Mitmenschen vorging. Irgendwie wusste er in diesem Moment genau, was seine Mutter sagen wollte. Auch wenn es die kalte Hand um sein Herz zu lockern schien, konnte Erik hinter seinen eigenen Augen allmählich das gleiche verräterische Brennen spüren. Langsam drehte er den Kopf und sah sie erneut an.
„Du weißt es längst, oder?“, unterbrach er das Schweigen.
Ein weiteres Mal wischten sie über ihre Wangen, um die Tränen loszuwerden. Mit einem tiefen Atemzug hatte sie sich zumindest einigermaßen beruhigt, als sie ebenso leise antwortete: „Ich bin nicht blind, Erik.“
„Seit wann?“
Etwas verlegen zuckte sie mit den Schultern. Diesmal schaffte es sogar ein Lächeln auf ihre Lippen. „Du hast in fast neunzehn Jahren nie eine Freundin mit nach Hause gebracht. Nicht einmal von einem Mädchen gesprochen. Da waren nie irgendwelche ... Heftchen. Gott, Erik, ich war auch mal jung und habe Kolleginnen mit Kindern in deinem Alter. Ich ... keine Ahnung. Das erste Mal drüber nachgedacht hab ich vor vier, vielleicht fünf Jahren.“
Erik schloss die Augen und konnte das resignierende Stöhnen nicht zurückhalten. Er drehte den Kopf zurück und fuhr sich hastig mit den Händen über das Gesicht. Nicht weil dort irgendwelche Tränen stehen würden, sondern da er sich mit einem Mal so verflucht dämlich vorkam. Als würde er aus einem beschissenen Traum aufwachen, einer verdammten Illusion seiner Wirklichkeit, die nie real gewesen war.
„Erik?“
In seinem Inneren begann etwas zu jucken, verdrängte die Dunkelheit und sogar der verfluchte Schmerz schien sich nach und nach in Luft aufzulösen. Es fingt leise an, aber mit einem Mal saß Erik tatsächlich da und lachte. Laut und kräftig. Und es tat so verdammt gut, dass es diesmal deutlich hinter seinen Augen brannte. Als er sich endlich beruhigt hatte, schmerzte Eriks Brust, allerdings aus einem angenehmen Grund. So frei hatte er sich lange nicht mehr gefühlt.
Mit einem Lächeln drehte Erik den Kopf erneut nach links, bis er seine erstaunte Mutter ansehen konnte und sagte mit einem weiteren verhaltenen Grinsen: „Dann weißt du es wohl länger als ich.“
Ihr eigenes Lächeln ließ ein kurzes Flattern durch Eriks Bauch wandern und hielt damit den Schmerz weiterhin zurück. Trotzdem brauchte er die Sicherheit seiner nächsten Frage, konnte es nicht auf sich beruhen lassen.
„Ist das für dich ein Problem, Ma?“
Hastig schüttelte sie den Kopf und lächelte sanft. „Natürlich nicht, mein Junge. So lange du glücklich bist, bin ich es auch.“
„Danke, Mama“, flüsterte Erik, mit einem weiteren Lächeln.
Trotz des ganzen Mists, der heute offensichtlich über ihm zusammengebrochen war. Es fühlte sich gut an, befreiend, dass er wenigstens dieses eine Geheimnis nicht mehr würde hüten müssen. Auch wenn er sich im Moment weit davon entfernt fühlte, sich selbst als ‚glücklich‘ zu bezeichnen. Was allerdings rein gar nichts mit dieser unangenehmen Wahrheit über seinen Vater zu tun hatte.
Heute zählte nur, dass er seine Mutter nicht verlieren würde. Jedenfalls nicht wegen der Tatsache, dass Erik auf Männer stand. Aber mehr musste sie darüber nicht erfahren.
Mit einem Grinsen drehte er sich erneut zu ihr: „Du hast nächsten Samstag keinen Dienst, oder?“
Langsam schüttelte sie den Kopf.
„Ich lade dich ein, Mama.“
Sie lachte und schon konnte Erik sehen, wie sie dazu ansetzte abzulehnen. Vermutlich mit der Begründung, dass er das Geld sparen und nicht für sie ausgeben sollte. Aber diesmal wollte Erik nicht nachgeben. Tom hatte ihm bereits eine Abfuhr erteilt. Von ihr würde er sich nicht noch eine einfangen.
„Bitte“, drängte Erik also und schenkte ihr einen der Blicke, mit denen er ihr früher so ziemlich jeden Gefallen aus dem Kreuz hatte leiern können. „Komm schon. Es ist mein Geburtstag, Ma. Den will ich nicht alleine verbringen.“
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Als Erik am folgenden Montag in Biologie saß, war sein Kopf mit vielen Dingen beschäftigt, allerdings ausnahmsweise hatte diesmal nichts davon mit eben diesem Fach zu tun. Wobei Erik zugegeben selten in den Themen dachte, die seine Lehrerin ihnen vermitteln wollte.
Gelangweilt starrte er auf das Tafelbild und versuchte herauszufinden, worüber gesprochen wurde. Beim Versuch blieb es jedoch. Seit Erik sich für seine Prüfungsfächer entschieden hatte, waren die anderen lediglich ‚schmückendes Beiwerk‘. Und das nicht mehr als eine nette Formulierung für ‚sie waren ihm total egal‘.
Die Planung für den kommenden Samstag war ihm da bis eben deutlich wichtiger gewesen. So weit stand Eriks Vorhaben. Es hatte nicht wirklich Überredung gebraucht, um seine Mutter zu überzeugen, dass er den Tag mit ihr verbringen wollte. Immerhin hatte sie an der zu feiernden Angelegenheit deutlich mehr Anteil gehabt als er.
„Hört mir eigentlich noch irgendjemand von Ihnen zu oder haben Sie alle Biologie schon abgeschrieben?“, fragte mit einem Mal ihre Lehrerin seufzend.
Das halbherzig ausgesprochene Gemurmel sollte wohl aufmunternd klingen, hatte aber wenig Erfolg. Da aus diesem Kurs keiner in Biologie die Prüfung ablegen wollte, saßen sie hier mehrheitlich nur ihre Zeit ab und versuchten, die bisher erarbeiteten Noten nicht deutlich zu verschlechtern.
Eriks Blick wanderte über die anderen vor ihm, bis er auf einem Anblick hängen blieb, der ihm bisher heute noch gar nicht aufgefallen war. Mit zusammengepressten Lippen beobachtete er Ines, die sich eben zu Sandro hinüber lehnte und dem irgendwas ins Ohr flüsterte. Das offensichtliche verhaltene Lachen beider kurz darauf ließ wenig Interpretationsspielraum dafür, was das wohl gewesen sein könnte.
Vermutlich waren die beiden wie so oft zuvor schon mit einem anderen Bereich der Biologie beschäftigt, als ihre Lehrerin dort vor der Tafel. Die Tatsache, dass Sandro und Ines das aber wieder gemeinsam taten, versetzte Erik einen unschönen Stich in den Magen.
Selbst ein absoluter Volltrottel wie Sandro schaffte es, dass sich jemand für ihn interessierte und mit ihm zusammen sein wollte. Warum schien das Erik nicht zu gelingen? Seit Samstag hatte Tom sich nicht gemeldet und Freitag würde er für zwei Wochen verschwinden.
‚Vorher ruft er noch einmal an‘, zuckte es Erik durch den Kopf, den er darauf betreten senkte. Auch wenn es weiterhin Momente gab, in denen er versuchte, sich etwas anderes einzureden, wusste Erik nur zu genau, warum Tom anrufen würde.
Die Frage war also lediglich, wie Eriks eigene Antwort aussehen würde.
Wieder sah er zu Sandro und Ines hinüber. Man musste nun wirklich nicht auf Frauen stehen, um zu erkennen, dass sie hübsch war – jedenfalls in dem Sinne, der durch die Medien oft genug vermittelt wurde. Lange blonde Haare, schlank, mit ausreichend Vorbau, dass selbst ein Affe wie Sandro nicht daneben greifen konnte.
‚Die kann sich ihre Männer doch aussuchen. Was findet sie an dem Kerl?‘
Was auch immer es war, es schien überzeugend genug zu sein. Anders war nicht zu erklären, dass Ines Sandro zum wiederholten Mal eine Chance gegeben hatte, anstatt ihn endgültig abzuservieren. Als sich Ines Hand verstohlen über Sandros Bein schob, wandte Erik sich hastig ab. Den Anblick konnte er nun wirklich nicht brauchen.
‚Womöglich ist schlicht die Bettperformance gut genug‘, zuckte es Erik durch den Kopf und er selbst kurz darauf zusammen. ‚Nur Sex?‘, fragte er sich mit einem Mal und schielte erneut zu den beiden hinüber.
Ines linke Hand lag recht auffällig unauffällig unter dem Tisch. Wo sie sich genau befand, konnte Erik nicht erkennen. War allerdings angesichts von Sandros krampfhaft zusammengepressten Beinen und dem eindeutig angespannten Rücken nicht schwer zu erraten. Selbst wenn sie nicht genau da lag, war Ines definitiv nicht sonderlich weit vom Schritt des Affen entfernt.
Nachdenklich wandte Erik sich ab. Wenn seine Vermutung richtig war, dann schien dieses ‚Beziehung auf Grundlagen von Sex‘ für die beiden ja da drüben zu funktionieren. Warum also nicht für ihn?
Oder war es selbst im Rahmen einer Sexfreundschaft schon ‚zu viel‘, wenn Erik gehofft hatte, Tom würde tatsächlich an seinen Geburtstag denken und mit ihm an diesem Tag ausgehen wollen? Na gut, wahrscheinlich hatte Tom es eben vergessen und Erik hatte am Samstag schließlich nichts dazu gesagt, warum er unbedingt am Vierzehnten mit Tom ausgehen wollte. Aber immerhin hatte der vor drei Monaten groß getönt, dass es ja ‚gut zu wissen’ wäre, wann Erik Geburtstag hatte. Das sagte man doch nicht einfach nur so, oder?
Für einen Sekundenbruchteil fragte Erik sich, ob Sandro wusste, wann Ines Geburtstag hatte. Mindestens ebenso schnell schob er die Frage wieder weg. Im Grunde konnte es ihm egal sein und ganz sicher wollte er sich und Tom nicht mit dem Affen und seinem Püppchen vergleichen.
Erik zuckte zusammen. ‚Du tust es schon wieder‘, ermahnte er sich. Im gleichen Atemzug kamen ihm Bergers Worte erneut in den Sinn. Die darüber, dass er seine Einstellung gegenüber anderen überdenken sollte.
Vorsichtig schielte Erik zu Sandro und Ines. Seit er den Kerl weitestgehend ignorierte, ließ Sandro ihn ebenso in Ruhe – jedenfalls so lange gewisse freundliche Hände im Spiel waren. Womöglich hatte der Affenkönig allerdings auch nur eingesehen, dass er ohne die Hilfe seiner Kumpel gegen Erik sowieso jedes Mal den Kürzeren gezogen hatte.
‚Ein beklagenswertes Opfer, das im Anschluss von seiner holden Maid gepflegt werden muss‘, schoss es Erik mit einem Mal durch den Kopf. Angewidert schüttelte er sich. ‚Echt jetzt?‘
Glücklicherweise hatte Berger Erik mehr als einmal vor dieser Dummheit bewahrt. Bei dem Gedanken daran, dass es ausgerechnet sein Lehrer gewesen war, der Erik zu dem Beruf geraten hatte, für den er inzwischen ein Praktikum im Sommer anstrebte, ließ ein Flattern in seinem Bauch aufflammen. Eines, der guten Art. Das Erik allerdings sicher nicht in Verbindung mit einem Lehrer verspüren wollte. Und schon gar nicht wenn es diesen ganz bestimmten betraf.
‚Lehrer sind alle blöd!‘, sagte Erik sich geradezu trotzig. Als er kurz darauf die gleiche Worte auf seinem Block wiederfand, fing er hastig an, diese zu übermalen, bevor sie jemand anderes entdecken konnte.
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Eben dieser ‚Blödmann‘ betrat am nächsten Morgen, pünktlich wie immer das Klassenzimmer. Kaum, dass die Tür sich geöffnet hatte, konnte Erik spüren, wie sich sein Puls beschleunigte. Schnell senkte er den Kopf zurück auf das Buch, das er las, während er ein leises „Guten Morgen“, murmelte.
„Guten Morgen, Erik“, grüßte Berger gewohnt freundlich zurück, bevor er zum Lehrertisch ging und seine Sachen auspackte.
Dieser verfluchte Muskel in Eriks Brust hämmerte noch immer viel zu schnell. Die Wörter vor seinen Augen verschwammen. Als er zum dritten Mal anfing, den gleichen Absatz zu lesen, gab Erik auf und schloss das Buch. Vorsichtig schielte er zum Lehrertisch. Berger war mit irgendwelchen Papieren beschäftigt.
In Eriks Bauch begann etwas zu blubbern. Nicht das nette Kribbeln oder Flattern, das er immer wieder spürte. Trotzdem ähnlich – vor allem genauso drängend. Mit dem Finger fuhr Erik die Seiten des Buches entlang, ließ sie über den Daumen rollen, ohne tatsächlich eine davon aufzuschlagen. Der Druck wurde größer, suchte nach dem Überlassventil, damit er nicht platzte. Gleichzeitig kämpfte Erik darum, seinen Puls unter Kontrolle zu halten und diesem dämlichen, total albernen Drang nicht nachzugeben.
‚Jetzt stell dich nicht so an!‘
Die verfluchte Ermahnung reichte nicht. Es wollte raus. Dieser Druck musste weg. Vielleicht würde das dämliche Flattern dann ebenso verschwinden. Womöglich fand Erik so endlich zu seiner ursprünglichen Gleichgültigkeit anderen gegenüber zurück. Zu diesem Punkt, als Berger ein Arsch war und Erik an selbigem vorbeiging.
„Ich habe ein Praktikum bei der Lokalzeitung bekommen“, nuschelte Erik mit einem Mal. Sein dummes Herz schlug ihm weiterhin bis zum Hals. Dabei wusste er nicht einmal warum.
Als er zögerlich zu Berger linste, sah er gerade noch ein Lächeln von dessen Lippen verschwinden. „Wirklich? Herzlichen Glückwunsch! Das freut mich sehr für Sie. Also erwägen Sie tatsächlich den Journalismus?“
Langsam zuckte Erik mit den Schultern. „Mal sehen, wie es läuft“, antwortete er murmelnd, weiterhin unfähig aufzusehen. „Ich bin nicht sicher, ob es die richtige Entscheidung für mich ist.“
Um genau zu sein, war Erik sich nicht einmal sicher, warum er Berger überhaupt davon erzählte. Okay, das war vielleicht nicht ganz die Wahrheit. Denn immerhin war Erik sich durchaus bewusst, dass es Berger gewesen war, der ihn in diese Richtung geschubst hatte.
‚Und das auch noch wegen dem ganzen Scheiß, den du ihm das Jahr über vor den Latz geknallt hast.‘
Bei dem Gedanken zuckte Erik erneut zusammen und verzog das Gesicht. Dieser blöde Mist war in den letzten Wochen seltener in ihm aufgestiegen. Vorsichtig sah Erik wiederum zu Berger und stellte überrascht fest, dass der ihn weiterhin ansah.
‚Warum guckt der immer noch so freundlich?‘
Als sich ihre Augen trafen, zuckte ein kurzes Lächeln über Bergers Lippen. Oder war das eher ein Grinsen? Erik war sich nicht sicher. Aber die Unsicherheit vertrieb das Flattern und versetzte ihm stattdessen einen unangenehmen Schlag in den Magen.
„Es ist nicht wichtig, ob es die richtige Entscheidung ist“, meinte Berger – hielt damit Eriks Blick weiterhin auf sich. Das Brennen in seinem Inneren wurde ein weiteres Mal zu diesem unruhigen Flattern, das ebenso an ihm zu ziehen schien. Aber definitiv weniger schmerzhaft war.
„Was dann?“
Diesmal war es auf jeden Fall ein Grinsen und kein Lächeln. Allerdings sah es weder hämisch aus, noch hatte Erik das Gefühl, als wollte Berger ihn damit verhöhnen.
„Dass Sie überhaupt eine treffen.“
Bevor Erik etwas erwidern konnte, waren im Gang Schritte zu hören und kurz darauf betrat wie jeden Dienstag und Donnerstag Hanna als Nächste das Klassenzimmer. Sie nickte Erik einmal zu und lächelte dann breit in Bergers Richtung, als sie diesem einen „Guten Morgen“, wünschte.
Bei dem Anblick fing das Flattern an, immer heftiger an Erik den Magen zu verdrehen. Zumal Berger entgegen früherer Gelegenheiten kaum sichtbar lächelte, lediglich nickte und ihr ebenfalls einen ‚Guten Morgen‘ wünschte.
Damit war die Leichtigkeit endgültig aus Eriks Innerem verschwunden. Stattdessen breitete mit jedem weiteren Herzschlag der Schmerz wieder in ihm aus. Schlagartig war Erik sich sicher, dass das, was da gerade in ihm gärte, besser nicht befreit werden sollte. Etwas, was stattdessen lieber sehr, sehr tief in der Dunkelheit seiner selbst verborgen blieb. Dort, wo Erik nicht darüber nachdachte, dass er Hanna hier nicht wollte, dass sie störte und verschwinden sollte. Und wo er sicher war, dass ihm Berger scheiß egal war. Weil der Kerl schließlich nur irgendein blöder Lehrer war.
Schnell senkte Erik wieder den Blick und schlug das Buch auf. Vielleicht würde das reichen, um ihn abzulenken, damit die düsteren Gedanken nicht weiter in ihm aufstiegen. Wirklich gelingen wollte es dem Text jedoch nicht und so gab Erik irgendwann erneut auf. Inzwischen waren ohnehin fast alle anderen aus seinem Kurs da und der Unterricht würde in Kürze beginnen. Deshalb packte Erik das Buch zurück in den Rucksack und atmete tief durch.
Wieso war innerhalb eines Jahres eigentlich sein ganzes Leben derart beschissen kompliziert geworden? So viele verdammte Gefühle, mit denen Erik nichts anfangen konnte. Dunkle Gedanken, die aus seinem Kopf zu verschwinden hatten. Vor allem aber zu viele Menschen, die ihm einfach nicht mehr so egal sein konnten, wie sie es früher immer gewesen waren.