32 – Nachtschwärmer und Vorstellungsgespräche
Eigentlich sollte Erik inzwischen daran gewöhnt sein, dass er irgendwann in der Nacht schweißgebadet aufwachte. Heute war es trotzdem anders. Normalerweise war Erik genervt von dem schnarchenden Heizkraftwerk hinter ihm, diesmal wollte er schlicht zurück in seinen Schlaf.
Was auch immer es gewesen war, was er geträumt hatte, es hatte sich gut angefühlt. Das hier war nicht ‚schön‘. Stickige Heizungsluft, zu wenig Decke, dafür wieder einmal zu viel unerwünschter Hautkontakt.
Als Erik nach der Hose auf dem Boden angelte, um an das Handy zu kommen und die Uhrzeit zu prüfen, wäre er beinahe aus dem Bett gefallen. Leise seufzend rappelte er sich auf und zog sich bei der Gelegenheit die frische Unterhose aus dem Rucksack an. Die Sachen vom Vortag wurden in einen Plastikbeutel gestopft und ganz unten vergraben.
Dabei bemerkte Erik den Block mit der Deutschhausaufgabe. Schlagartig waren die Bilder vom Nachmittag zurück. Sofort beschleunigte sich sein Puls. Ein kurzer Seitenblick zu Tom, aber der schnarchte friedlich vor sich hin.
Mit dem Rucksack gegen die Brust gepresst, schlich sich Erik halb nackt in die Küche. Erst als er dort am Tisch saß, beruhigte sich sein aufgeregt klopfendes Herz allmählich. Wenn die Uhr an der Wand richtig ging, war es mitten in der Nacht. Kein Wunder, dass die Wohngemeinschaft zur Abwechslung absolut still und ruhig war. Offenbar schliefen Nora, Mario und Lukas genau wie Tom.
‚Solltest du auch machen‘, ermahnte ihn die Stimme der Vernunft. Zumindest hoffte Erik, dass es diese war. Wobei die ihm vermutlich eher geraten hätte, sich an diesen verdammten Tisch zu setzen und seine Hausaufgabe neu zu schreiben.
„Das wäre in der Tat ein vernünftiger Plan“, murmelte Erik vor sich hin und ließ sich auf einen der Stühle fallen.
Kurz darauf lag der Block mit der Hausaufgabe vor Erik. Er sollte den Scheiß definitiv neu schreiben. Letztendlich war es egal, was er schrieb. War ja nicht so, als würde Berger wissen, was in Eriks Kopf vorging. Namentlich, dass er keinen Plan hatte, was er mit dem beschissenen Rest dieses Lebens anfangen sollte. Oder konnte.
Bei den anderen klang das immer so einfach. Etwas machen, was einen interessierte, was einem gefiel, woran man Spaß hatte. Und wenn sich da nichts fand, zumindest irgendetwas, das einen nicht vollkommen anödete. Dummerweise traf das auf so ziemlich alles zu, was auch nur annähernd infrage kam.
Wieder dachte Erik an Toms Worte. Darüber, dass er sich mit Luis gut verstanden hatte. Das hatte Erik wirklich. Der Knirps war aber auch einfach gewesen. Vor dem hatte Erik sich nicht verstellen müssen. So waren allerdings garantiert nicht alle Kinder. Und letztendlich wäre es ohnehin egal. Sicher würde Erik nichts machen, wo jeder Arsch ihn für einen potenziellen Kinderschänder halten konnte. Mal abgesehen davon, dass er mit seinem aufbrausenden Temperament vermutlich eher nicht den ganzen Tag mit trotzigen, nervigen Kindern zu tun haben sollte.
Das brachte Erik zurück zum Gedanken vom Abend: Irgendetwas, was er studieren konnte. Und welche Richtung? Architektur und Lehramt waren die letzten Vorschläge von dem beschissenen Test beim Arbeitsamt gewesen. Während Erik Mathematik und Geometrie ja interessant fand, fühlte sich ‚Architektur‘ unwesentlich besser an als Lehramt. Jedenfalls beides nicht wie Berufe, in denen Erik die nächsten vierzig Jahre arbeiten wollte. Zumal er als Lehrer ja wieder bei den trotzigen, nervigen Kindern und dem potenziellen Kinderschänder landen würde.
‚Wenn du auf eine Eingebung wartest, bist du in Rente, bevor du weißt, was du machen willst.‘
Vielleicht. Wahrscheinlich.
„Egal“, murmelte Erik und starrte weiter auf die dämliche Hausaufgabe. Das konnte er jedenfalls nicht abgeben. „Kann doch nicht so schwer sein“, knurrte er wütend.
Erik holte einen Stift aus dem Rucksack und begann langsam zu schreiben. Es machte am Ende keinen Unterschied, was er studierte, er müsste ja nur darüber erzählen, wie er in der Uni in irgendeiner Vorlesung saß. Erik hatte keine drei Zeilen geschrieben, da hielt er wieder inne. In fünf Jahren wäre er hoffentlich mit dem Studium fertig. Das hieß, er müsste beschreiben, was er tatsächlich arbeitete.
„Fuck“, murmelte Erik und ließ den Stift fallen.
So funktionierte das nicht. Und die in letzter Zeit immer öfter eintretende Erschöpfung fing auch schon wieder an, ihn einzuholen. Das prompt hochkommende Gähnen konnte Erik kaum zurückhalten. Müde legte er den Kopf auf den Küchentisch. Vielleicht sollte er erst einmal genauer darüber nachdenken. Dann fiel ihm bestimmt etwas ein. Nur kurz die Augen schließen. Für ein paar Sekunden ausruhen.
✑
„Was machst du denn hier?“
Erschrocken zuckte Eriks Kopf nach oben. Desorientiert und für einen Moment verängstigt, sah er sich um. Es dauerte weitere wertvolle Sekunden, bis Erik kapierte, dass er am Küchentisch in Toms WG saß und dort eingeschlafen sein musste.
„Hausaufgaben?“
„Was?“, murmelte Erik und schaffte es diesmal, zu Tom zu sehen, der sich seufzend auf den Stuhl neben ihm fallen ließ und sich einen Block heranzog, offenbar um ihn zu lesen.
‚Scheiße! Ist das deiner?‘
Panisch zuckten Eriks Augen über den Tisch, nur um festzustellen, was sein Verstand längst begriffen hatte. Hastig riss er Tom den Block aus den Händen und stopfte ihn zusammen mit dem Stift in den Rucksack. Hoffentlich war Tom nicht über die ersten Worte hinausgekommen. Schnell rappelte Erik sich auf und stapfte mit seinen Sachen unter dem Arm zurück in Toms Zimmer.
„Wie spät ist es?“, fragte er um zum eigentlichen Problem zurückzukommen. Tom stand sonst nie sonderlich früh auf. Wenn der wach war, würde das heißen, Erik schaffte es garantiert nicht mehr pünktlich zur Schule.
„Halb Sieben“, antwortete Tom leise.
Erleichtert, dass er nur dreißig Minuten zu spät dran war, atmete Erik auf und zog sich die Hose über. Da er heute nicht nach Hause musste, würde er es locker bis zur ersten Stunde in die Schule schaffen.
„Dein beschissenes Handy hat mal wieder mitten in der Nacht geklingelt und mich geweckt.“
Stirnrunzelnd sah Erik zu Tom hinüber und zischte wütend: „Und du hast mich trotzdem weiter schlafen lassen, weil ...?!“
„Du warst nicht da. Dachte, du hast das Ding vergessen.“
Okay, das klang nach einer plausiblen Erklärung. Trotzdem konnte Erik nicht anders, als genervt davon zu sein, dass er sich verflucht beeilen musste, um nicht doch noch zu spät zu kommen. Entsprechend hastig zog Erik sich das Shirt über. Wenn er auf Frühstück verzichtete, sollte es zu schaffen sein.
„Ich muss los“, murmelte Erik unnötigerweise und setzte an, sich an Tom vorbei zu drängen.
Der streckte den Arm aus und versperrte Erik damit effektiv den Weg. Für eine Sekunde sah Tom aus, als wollte er etwas sagen, dann lächelte er leicht und gab ihm einen kurzen Kuss auf die Wange.
„Viel Spaß in der Schule, Honey“, rief er Erik lachend hinterher, als der, von dem merkwürdigen Verhalten irritiere, im Flur verschwand, um sich Schuhe und Jacke anzuziehen.
Als in diesem Moment Nora neugierig ihren noch immer blauen Haarschopf herausstreckte, antwortete Erik lieber nicht mehr. Alles, was ihm als Entgegnung einfiel, wäre entweder lahm, kindisch oder schlichtweg doof.
Außerdem hatte Erik keine Zeit zu verlieren. Eine Fehlstunde wollte er nicht riskieren, obwohl er sich mit achtzehn inzwischen selbst entschuldigen konnte. Deshalb lief Erik im Dauerlauf die Straße entlang in Richtung S-Bahn-Station. Den Busfahrplan von der Haltestelle vor Toms Wohnhaus hatte er im Kopf. Auf den brauchte er nicht warten.
Die frische Luft stach Erik in die Lungen, während er die Straße entlang hastete. Der Februar hatte offiziell begonnen, die Temperaturen waren dieses Jahr anhaltend frostig. Das kalte Wetter half Erik zumindest, den Kopf freizubekommen. Jedenfalls so frei, wie es unter den Umständen machbar zu sein schien.
Schnell näherte er sich der S-Bahn-Station. Schon sah Erik den Zug in der Ferne anrollen, da beschleunigte er erneut die Schritte. Keuchend und schnaubend schaffte er es die Stufen hinauf, als die Bahn anhielt und die Türen öffnete. Ein kurzer prüfender Blick zur Anzeige am Bahnsteig, um sicherzugehen, dass es auch wirklich der richtige Zug war, dann sprang Erik in den nächstbesten Wagen.
„Geschafft“, schnaubte er leise und atmete zwei, drei Mal durch, bis seine Lungen sich wieder vollständig mit Luft füllen ließen.
‚Wie war das damit, dass du mehr trainieren wolltest?‘
Zwischen Arbeit, Schule und Tom hatten sich nur wenige Gelegenheiten gefunden. Wenigstens einmal die Woche hatte Erik es zwar geschafft eine Stunde joggen zu gehen, wirklich gebracht hatte das offenbar nichts. Angewidert von seiner stetig deutlicher werdenden Faulheit diesbezüglich, verzog Erik das Gesicht und sah aus dem Fenster der Bahn.
Irgendwie hatte Tom gestern wohl doch recht gehabt. Er hatte in der Tat nicht sonderlich viele freie Abend vorzuweisen, an denn er sich mit ihm treffen konnte. Und obwohl Erik volljährig war, wollte er sich mit seiner Mutter bezüglich deren Ausgangsregeln nicht allzu offen anlegen. Sie hatte genug Probleme mit ihm – auch wenn sie von den meisten glücklicherweise nichts ahnte.
Gedankenverloren stand Erik neben der Tür und starrte auf die vorbeiziehenden Gebäude. Bis März würde er bei Alex genug verdienen, dass er vielleicht sogar fast die ganze Fahrt alleine finanzieren könnte. Dann hätte er zwar kein Taschengeld mehr, dafür fühlte es sich gut an, sagen zu können, dass er sich diese eine Sache fast komplett selbst erarbeitet hatte. Befriedigend, auf eine andere Art und Weise als sonst. Zumal Eriks Mutter ihren Anteil dann für den Anzug verwenden konnte, den sie ihm unbedingt schenken wollte.
„Abiball ...“, flüsterte Erik leise. Bis seine Mutter den erwähnt hatte, war der nicht einmal in Eriks Planung aufgetaucht. Vielleicht, weil er dafür zunächst das Abitur überhaupt bestehen musste. Allerdings sah es zugegeben in der Hinsicht nicht mehr so schlecht aus, wie Erik Anfang des Jahres geglaubt hatte. Seine Noten waren besser geworden und sogar in Deutsch stand er auf einer soliden Zwei.
‚Noch ein paar Monate.‘
Die schriftlichen Prüfungen waren für Mitte bis Ende April angesetzt, ein paar Wochen später die mündlichen. Und mit dem Juni würde am Tag der Zeugnisausgabe dann endgültig die Schulzeit enden.
Die Durchsage der nächsten Haltestelle riss Erik aus den Überlegungen. Hier musste er raus. Ein Blick auf die Uhr am Handy zeigte, dass er es pünktlich schaffen würde. Sogar für eine Kleinigkeit beim Bahnhofsbäcker war Zeit. Schnell kramte Erik in der Tasche und fand tatsächlich ein paar Euro.
„Das sollte reichen“, murmelte er und steckte die Geldstücke zurück in die Hosentasche.
✑
Erik schaffte es tatsächlich kurz vor dem Klingeln zum Unterricht. Danach war er allerdings schnell abgelenkt. Und so hatte Erik, bis er nach dem Sportunterricht das Klassenzimmer betrat und sich unter Bergers wachsamen Augen an seinen Platz setzte, die Hausaufgabe vollkommen verdrängt.
‚Verdammt!‘, zuckte es Erik jedoch geradezu schmerzhaft durch den Kopf, als er den Block auspackte und vor sich auf den Tisch legte. Nachdem er letzte Nacht augenscheinlich am Küchentisch eingeschlafen war, hatte er natürlich keine alternative Fassung dieser verdammten Zukunftsvision zustandegebracht.
Das hatte jedoch zur Folge, dass Erik hier mal wieder unruhig auf seinem Stuhl herumrutschte. Für einen Moment überlegte er ernsthaft, die Deutschstunde zu nutzen, um eine Alternativversion zu schreiben. Allerdings hatte Erik weiterhin keine Ideen dafür und die Tatsache, dass er in der ersten Reihe saß, hieß ebenso, dass Berger ihn verflucht gut im Blick hatte.
Als Erik zu ebendiesem hinüber schielte, sah der prompt direkt zu ihm zurück. Erschrocken zuckte Erik zusammen, nur um sich postwendend zurechtzuweisen, dass es keinen Grund gab, vor diesem Kerl Angst zu haben. Hatte er schließlich auch nicht. Nicht wirklich. Ganz im Gegenteil. Dieser finstere Blick, den Berger letztens Sandro zugeworfen hatte, konnte einem vermutlich das Fürchten lehren. Bei Erik hatte er eher etwas ganz anderes ausgelöst.
‚Du bist ja auch gestört‘, zischte es in Eriks Gedanken und ließ ihn unwillkürlich das Gesicht verziehen. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass seine Hand höher wanderte und die Stelle rieb, an der Berger ihn gepackt hatte, damit er sich nicht auf Sandro stürzen konnte.
„Haben Sie Erfahrungen, über die Sie berichten möchten, Erik?“
Überrascht hob er den Kopf und starrte direkt auf den zweiten Knopf oberhalb eines Hosenbundes, unter den Eriks Blick jetzt lieber nicht wandern sollte. Wieso stand der Blödmann denn bitte plötzlich direkt vor ihm?
‚Schau höher!‘, fauchte ihn sein Verstand an. Und zur Abwechselung war Erik sich sicher, dass es der eher vernunftbegabte Teil seines Hirns war. Denn das kranke Arschloch würde garantiert die umgekehrte Blickrichtung vorschlagen.
„Wie? Ich ...“, stammelte Erik unsicher. Er hatte keine Ahnung, worum es gerade ging. Das nicht sichtbare Tafelbild war ebenso hilfreich. Nämlich ‚gar nicht‘.
Berger seufzte und vermutlich schüttelte er gerade den Kopf. Aber das konnte Erik nicht sagen, denn weiter als bis zum Brustbein hatte sein Blick es bisher nicht geschafft. Da war mindestens ein Knopf zu wenig geschlossen. Was selbstredend dazu führte, dass Eriks Augen an dem neu freigelegten Stück Haut hängen geblieben waren, das sich ihm so willig offenbarte. Da war ein einzelner, winzig kleiner Leberfleck, etwa zwei Zentimeter oberhalb des letzten geschlossenen Knopfes.
‚Kann der Kerl sich nicht vernünftig anziehen?‘, verfluchte er Berger. Schließlich war Erik nicht der einzige, der hier mit versauten Gedanken im Deutschunterricht herumhing. Hanna würde dem Kerl doch mindestens ebenso gern wie Erik die Klamotten vom Leib reißen. Sofort vermischte sich das Bild vor ihm mit dem Text aus der Hausaufgabe, fügte das Detail des Leberflecks hinzu. Zusammen mit ein paar Spotlights und Soundeffekten, die gestern Nachmittag nicht da gewesen waren.
„Herr Hoffmann!“
„Hm?“
Allmählich genervt trat Berger einen Schritt zurück, sodass Eriks Blick automatisch nach oben wanderte und auf funkelnde grüne Augen und wütend zusammengepresste Lippen traf. Da bahnte sich Ärger an. Vernünftigerweise sollte Erik jetzt vermutlich Schiss bekommen. Und noch viel vernünftiger wäre, wenn er dem Unterricht zur Abwechslung folgen würde. Dummerweise fand Erik den Blick aber jetzt, wo er ihn traf ausgesprochen erregend.
‚Der kann immerhin als Reaktion gewertet werden‘, warf auch noch das innere Arschloch ein. Was die Sache nicht leichter machte.
Berger sagte jedoch nichts, sondern schüttelte den Kopf. „Wenn Sie so im Vorstellungsgespräch sitzen, können Sie sich jeden Ausbildungsplatz abschmieren“, murmelte er kurz darauf und trat ein Stück beiseite.
Erschrocken zuckte Erik zusammen. Wenigstens half es, die abschweifenden Gedanken wieder zu sammeln. Vorstellungsgespräch? Ausbildungsplatz? Wovon redete der Kerl da?
„Was ist mit Ihnen, Ines? Sie hatten gesagt, dass Sie sich bereits für eine Ausbildung beworben haben.“
Unsicher sah Erik über die Schulter und stellte fest, dass Ines erneut neben ihrer Freundin Jenny saß. Ein Blick weiter nach hinten zu Sandro zeigte ihm, dass der entsprechend angefressen aus der Wäsche schaute.
„Uhm, ja“, gab die mit einem leichten Rotschimmer auf den Wangen zurück. „Aber bisher waren keine Vorstellungsgespräche.“
Ein flaues Gefühl setzte in Eriks Magen ein. Die anderen hatten tatsächlich angefangen, ihre Zukunft nach der Schule nicht nur zu planen, sondern ernsthaft anzugehen. Und Erik wusste nicht einmal, was er machen sollte. Oder wollte. Oder auch nur konnte. Seine Zukunft war ein verfluchtes leeres Blatt. Sah man von dem Mist ab, den er für Berger notiert hatte. Aber das konnte man kaum als Zukunftsplanung betrachten.
Jedenfalls nicht, insofern er eine Zukunft als Pornoregisseur ausschloss. Eine Sekunde lang, war Eriks Hirn absolut leer, bevor er sich selbst fauchend zurechtwies, dass das ganz sicher nicht seine Berufswahl sein würde.
„Wer von Ihnen hat denn schon einmal ein Bewerbungsgespräch geführt?“, fragte Berger unterdessen weiter.
Niemand meldete sich.
„Ernsthaft?“, hakte ihr Deutschlehrer mit einem verwunderten Stirnrunzeln nach. „Nicht einmal für einen Nebenjob oder irgendetwas?“
Irritiert von der Frage sah Erik erneut über die Schulter zum Rest der Klasse, bevor er sich wieder zu Berger drehte. „Das ist doch nicht das gleiche“, antwortete er vorsichtig.
„Natürlich. Grundsätzlich, durchaus“, meinte Berger und sah Erik direkt an. „Was ist denn Ihr Ziel in einem Bewerbungsgespräch?“
Erik kratzte sich kurz am Kinn und überlegte. Wenn man es genau nahm, hatte er letztes Jahr vor Weihnachten mit Alex auch so eine Art Vorstellungsgespräch geführt. Aber das würde Erik hier kaum als Beispiel aufzeigen können.
Im Grunde gab es allerdings so oder so nur eine Antwort, die ihm einfiel: „Na, den Job zu bekommen.“
„Haben Sie ihn?“
„Klar“, gab Erik mit einem kurzen Grinsen zurück.
Das sanfte Lächeln auf Bergers Lippen gefiel Erik ausgesprochen gut – mehr als es sollte. Deshalb ermahnte er sich hastig, dass der Kerl ein Blödmann war, den er nicht leiden konnte. Nicht einmal ansatzweise.
‚Bis auf den hübschen Popo.‘ Erik kniff die Beine zusammen. Nein, er konnte Berger gar nicht leiden! Nichts an ihm!
„Und was mussten Sie tun, um ihn zu bekommen?“
‚Und zwar genau wegen solcher beschissenen Fragen!‘
Bevor Erik dazu kam zu antworten, tönte es aus der letzten Reihe: „Würde ihm ja nicht schwerfallen, irgendwelche Schwänze für zu lutschen.“
Schlagartig kochte in Erik die Wut hoch. Dieses Ziehen und Stechen im Bauch, dass sich explosionsartig ausbreitete und jede Vernunft an den Rand des Bewusstseins drängte. Ein Zittern wanderte durch Eriks Körper, als er versuchte, sich zusammenzureißen.
Noch bevor Erik herausfinden konnte, ob er genug Beherrschung aufbrauchte, um Sandro die Nase nicht blutig zu schlagen, ergoss sich Bergers Stimme über ihn wie ein Eimer mit eiskaltem Wasser: „Ich habe Ihnen schon mehrmals gesagt, dass ich diese gossensprachlichen und absolut unangemessenen Bemerkungen nicht in meinem Unterricht hören will, Herr Claasen. Wenn Sie denken, sie dürften sich über meine Regeln hinwegsetzen, können wir das gern in der Pause noch einmal klären.“
„Was?“, hauchte Erik kaum hörbar.
Sein Blick zuckte zwischen einem reichlich entnervtem Berger und einem ängstlich in sich zusammengesunkenen Sandro hin und her. Beides passte nicht ins Bild und wirkte entsprechend verstörend auf. Berger war doch das ganze Schuljahr auf Sandros Seite gewesen. Warum sonst hätte er Erik irgendwelche Strafarbeiten verpassen sollen, für die er sogar samstags in der Schule antanzen musste? Während der Affenkönig straffrei ausgegangen war für den ganzen Müll, den er abgezogen hatte.
„Sie machen in Kürze ihr Abitur, Sandro. Will man zumindest hoffen. Denken Sie nicht, dass es sinnvoller ist, meinem Unterricht zu folgen, anstatt ihn permanent zu stören?“
Das komische Flattern war schon wieder in Eriks Magen, als sein Blick ein weiteres Mal zu Berger wanderte. War das der Grund? Anfang des Schuljahres hatten Sandros Stänkereien sich auf die Pausen beschränkt. Inzwischen herrschte da weitestgehend Ruhe. Womöglich weil Erik sich dort nicht mehr ständig provozieren ließ. Berger hatte allerdings nie einen Hehl daraus gemacht, dass er sich von niemandem in seinem Unterricht ans Bein pinkeln lassen würde.
„Entschuldigung“, kam es kaum hörbar aus der letzten Reihe.
„Vielleicht können Sie mir ja sagen, worum es grundsätzlich bei jedem Vorstellungsgespräch geht, Sandro.“
„Hat Hoffmann doch schon gesagt: Den Job zu bekommen.“
Berger lächelte mitleidig: „Das hatten wir bereits festgestellt, richtig. Aber was brauchen Sie, um dieses Ziel zu erreichen?“ Die Klasse schwieg. „Ach kommen Sie! Worauf kommt es denn bitte bei einer Bewerbung am meisten an?“
„Sich zu verkaufen“, rutschte es Erik heraus, was ihm einen kurzen Fingerzeig und ein triumphierendes Lächeln seines Lehrers einbrachte. Zusammen mit einem immer stärker werdenden Flattern im Bauch, das da verflucht noch einmal weiterhin nichts zu suchen hatte.
„Sprache ist ein essenzieller Teil Ihrer Selbstdarstellung. Wie uns Herr Claasen freundlicherweise eben bewiesen hat. Die Art und Weise, wie Sie sich ausdrücken und was Sie sagen, beeinflusst massiv, wie Sie als Person von anderen wahrgenommen werden.“ Berger grinste, kein freundliches Lachen, nein ein reichlich hinterhältiges Grinsen. „Wir werden uns also in nächster Zeit damit befassen, wie Sie die deutsche Sprache gezielt verwenden können, um in den richtigen Situationen, die erwünschte Wirkung zu erreichen.“
„Wir üben Bewerbungsgespräche?“
„Ernsthaft?“
„Das ist was für Achtklässler!“
„Ich hab vor zu studieren, wozu brauch ich das?“
„Ich mach die Ausbildung in der Firma von meinem Vater.“
Berger hob die Hände und sofort verebbten die Proteste wieder. „Sich selbst ins rechte Licht setzen zu können ist nicht nur eine Frage der Jobsuche“, meinte er beschwichtigend.
„Wozu denn sonst?“, fragte Sandro und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
Berger sich das mitleidige Grinsen ebenso wenig. „Nun, möglicherweise ist ja nicht jeder mit einer derartig unwiderstehlichen Persönlichkeit gesegnet. Der eine oder andere von Ihnen muss womöglich potenzielle Beziehungskandidaten zunächst von sich überzeugen.“
Da konnte Erik sich das Grinsen nicht mehr verkneifen – erst recht, nachdem er über die Schulter in Richtung Ines geschielt hatte, die zufrieden strahlte. Ein Stück weiter hinten saß Sandro mit finsterem Gesicht, definitiv nicht glücklich über diese Entwicklung.
Wehren konnten sie sich jedoch alle nicht und so fuhr Berger mit der Stunde fort, als wäre das Thema ohnehin vorgesehen gewesen – und nicht nur ein Resultat von Sandros erneutem Fehlverhalten.
✑
„Dann sammle ich jetzt Ihre Hausaufgaben aus der letzten Stunde ein.“
Erik schreckte auf. Blinzelnd sah er sich im Klassenraum um. Die anderen Schüler stöhnten, während sie in ihren Unterlagen kramten. Erst als die Ersten irgendwelche Zettel aus Blöcken und Heftern zogen, wurde Erik bewusst, was Berger gerade gesagt hatte.
Verdammt! Die blöde Hausaufgabe hatte er in der vergangenen Stunde ausgesprochen erfolgreich verdrängt gehabt. Vielleicht hatte ein Teil von Erik auch unbewusst gehofft, dass Berger die Aufgabe über ihr neues Thema vergessen würde.
‚Als ob der Kerl jemals etwas vergaß.‘
Unsicher schielte Erik zu Berger, der an den Tischen vorbei wanderte und von jedem Schüler die Aufgabe einsammelte. Als er vor Mirek stand, läutete es zur Pause. Die Ersten waren bereits aus dem Raum hinaus, als Berger zum Schluss bei Erik ankam.
„Ihr Hausaufgabe?“, fragte Berger ruhig und hielt ihm die ausgestreckte Hand entgegen.
Eriks Finger lagen auf dem Block, in dem sich irgendwo die gestern beschriebenen Zettel befinden mussten. Wenn er den Scheiß abgab, würde Berger ihn garantiert nicht mehr so ansehen wie vorhin. Dieses triumphierende, zufriedene Lächeln, weil Erik zur Abwechslung kein Vollidiot gewesen war.
Dann wäre da nicht das merkwürdige, aber durchaus angenehme Flattern, sondern wieder das Reißen und Ziehen in seinen Eingeweiden, das drohte ihn innerlich zu zerfetzen. Egal, wie sehr Erik sich sagte, dass beides nicht dahin gehörte. Und schon gleich gar nicht wegen eines Lehrers.
„Haben Sie sie vergessen?“
Immer stärker hämmerte Eriks Herz von innen gegen den Brustkorb. Vor ein paar Monaten hätte er dem Blödmann die Zettel aufgedrängt. Einfach nur, um zu sehen, ob Berger darauf endlich eine Reaktion zeigte. Eine, auf die Erik bis heute wartete und sie, wenn er ehrlich war, manchmal sogar herbeisehnte. Allerdings war Erik sich im Augenblick nicht sicher, ob das wirklich die Reaktion wäre, die er sehen wollte.
„Erik?“
Es war total einfach. Er brauchte nur sagen, dass er sie nicht gemacht hatte und sich bis morgen irgendetwas aus den Fingern saugen. Wann war es so verflucht schwer geworden, Berger anzulügen? Seine Mutter log Erik ständig an, quasi täglich. Und sei es nur dadurch, dass er ihr nicht die volle Wahrheit sagte und ihr stattdessen vorspielte jemand zu sein, der er einfach nicht war.
Erik zuckte zusammen. Darum war es hier nie gegangen. In keiner dieser dämlichen Strafarbeiten.
Bergers Stimme war leise, ruhig, beinahe flüsternd: „Es ist okay. Geben Sie mir Ihre Hausaufgabe, Erik.“
Der Herzschlag in seiner Brust war derart heftig, dass Erik das Gefühl hat, als würde es ihn von innen heraus zerreißen. Warum er in diesem Moment den Kopf hob, hätte Erik im Nachhinein nicht sagen können. Aber in dem Augenblick, in dem er auf die viel zu freundlichen Augen traf, konnte er nicht mehr wegsehen. Und sich erst recht nicht bremsen.
Eriks Hände hatten plötzlich ein Eigenleben – abgekoppelt vom Verstand, der ihn anschrie, aufzuhören, bevor er sich das eigene Grab schaufelte. Wenn er das hier tat, würde Erik diese verfluchte Freundlichkeit für immer wegfegen. Berger brauchte diesen Scheiß bloß zum Direktor tragen und Eriks Abi war gegessen. Genauso wie seine berufliche Zukunft.
Aber dieser vernünftige Teil seines Hirns schien keinen Kontakt mehr zu den Extremitäten herstellen zu können. Als ob er lediglich ein Zuschauer wäre, sah Erik sich die Hand heben und Berger die Zettel der Hausaufgabe reichen. Während das Pochen in Eriks Brust immer heftiger wurde, weil es genau verstand, was die Vernunft nicht begreifen wollte.
In diesen verfluchten Arbeiten hatte er Berger nie etwas vorgespielt. Diese beschissenen Hausaufgaben waren die einzigen Momente, in denen Erik in den vergangenen Monaten er selbst gewesen war. Unverstellt, ungeschönt. Die reine und womöglich schlichtweg gestörte Wahrheit.
Wenn der Blödmann sich das antun wollte, sollte er. Vielleicht würde Berger ihn so endlich hassen. Denn sobald er Erik erst mit der ihm gebührenden Verachtung ansah, würde dieses beschissene Flattern verschwinden. Dann wäre die Freundlichkeit vergessen und Berger würde endlich eine Reaktion zeigen.
„Danke“, meinte der jedoch lediglich und lächelte weiter.
Dieses verfluchte ehrliche Lächeln, das Erik so verabscheute. Weil es das verdammte Flattern in seinem Bauch lostrat, was da nicht hingehörte. Jedenfalls nicht, wenn es um Berger ging.