5 – Sorge und Erkenntnis
Kaum dass Erik zu Hause war, verkroch er sich in sein Zimmer. Den Schuhen im Flur nach zu urteilen war seine Mutter zwar inzwischen von ihrer Nachtsicht zurück, zu sehen war sie aber nirgendwo. Vermutlich war sie direkt ins Bett gefallen und schlief bereits.
Erik kam dieser Umstand sehr gelegen. Er hätte sowieso weder den Mut noch den Willen gehabt, ausgerechnet mit ihr darüber zu reden. Nein, was er brauchte, war Zeit – um sich zu überlegen, wie er aus dem Fiasko, in das er sich da reinmanövriert hatte, heil wieder rauskommen konnte. Unruhig tigerte Erik in seinem Zimmer auf und ab und ging alle Möglichkeiten durch, die ihm in den Sinn kamen, was als Nächstes passieren würde. Konnte. Musste.
‚Hättest du besser gemacht, bevor du den Scheiß Berger in die Hand gegeben hast.‘
Leider war die Wut und der Frust am Vorabend aber offenbar zu groß gewesen, um einigermaßen vernünftig zu handeln. Ändern konnte er das jetzt blöderweise nicht mehr. Der Zug war abgefahren. Zumal sich in Eriks Bewusstsein immer deutlicher abzeichnete, welche Konsequenzen diese Geschichte nach sich ziehen konnte. Würde. Namentlich wenn Berger sich nicht einfach beschämt und erniedrigt fühlte, sondern sauer wurde. Dann würde er zum Direktor rennen und mit Eriks schulischer Laufbahn wäre es kurz vor deren eigentlich erfolgreich geplantem Ende vorzeitig vorbei.
Stöhnend setzte er sich auf sein Bett und vergrub das Gesicht in den Händen. Eine hirnrissige Idee! Wenn die drei Wochen mit dem Wichser von Deutschlehrer ihm eins gezeigt hatten, dann das der Kerl verdammt wenig Geduld zeigte, so lange es um das angeblich so ‚kindische‘ Verhalten seiner Schüler ging. Nun war ein dermaßen anzüglicher Aufsatz vielleicht nicht unbedingt ‚kindisch‘ im klassischen Sinne, Bergers Nerven dürfte er dennoch mehr als herausgefordert haben.
„Scheiße ...“, murmelte Erik verzweifelt und warf sich aufs Bett, das Gesicht ins Kissen vergraben.
Nicht nur, dass er sich vermutlich eben sein restlichen Leben in schulischer und beruflicher Hinsicht endgültig versaut hatte. Er hatte zusätzlich Berger in geradezu sträflicher Art und Weise eine Vorlage dafür geliefert, dass der ihn zu Recht für einen Perversen hielt.
Ganz davon abgesehen, dass Erik diese verdammten Bilder weiterhin im Kopf hatte. Ein unterdrücktes Stöhnen entkam ihm, als sich die ersten Ausläufer von Eriks persönlichen ‚Kurzfilms‘ schon wieder vor seinem geistigen Auge abspielten. So war das nicht geplant gewesen. Er hatte Berger eine verdammte Lektion erteilen wollen! Und jetzt könnte diese Geschichte gewaltig nach hinten losgehen.
‚Weil du mal wieder nicht nachgedacht hast!‘, schimpfte die dämliche Stimme der Vernunft in Eriks Kopf, die sich verflucht noch mal ein paar Stunden zu spät meldete.
„Und jetzt?“
Im Augenblick konnte er lediglich abwarten. Am Montag hatte Erik kein Deutsch. Wenn Berger ihn bis dahin irgendwo verpfiff, würde er sich vermutlich vor der ersten Stunde bei der Schulleitung melden dürfen. Oder schlimmer, die riefen im Laufe des Wochenendes bei seiner Mutter an.
Erik stöhnte und presste sein Gesicht fester ins Kissen. ‚Verdammt! Sie wird es erfahren!‘
Die schlimmsten Ängste schienen, mit einem Mal grausame Realität zu werden. Wie hatte er so dämlich sein können?!
Dieses Mistkerl Berger würde den kranken Scheiß Eriks Mutter zu lesen geben. Die fiel garantiert endgültig vom Glauben ab. Nämlich von dem, dass ihr Sohn nicht so ein verficktes Arschloch war, wie dessen Erzeuger. Und dann würde sie ihn genauso ansehen wie Sandro und die Affenbande!
Um der immer weiter abwärts kreisenden Spirale aus finsteren Gedanken zumindest ansatzweise zu entkommen, sprang Erik irgendwann auf und kramte ein paar Sportsachen aus dem Schrank. In Jogginghose und T-Shirt stürmte er kurz darauf aus der Wohnung. Ein genaues Ziel hatte Erik nicht vor Augen, aber das war auch nicht entscheidend. In all den Jahren hatte ihm der Sport stets geholfen, den Kopf freizubekommen.
Deshalb rannte Erik einfach los. Immer der Nase nach, wie man so schön sagte. Bereits ein paar Hundert Metern weiter fing er an, die Anstrengung zu spüren. Verdammt! Wann war er eigentlich derartig aus dem Training gekommen?
‚Als du deine sportlichen Aktivitäten auf Domis Hinterteil verlagert hast.‘
Bei dem Gedanken musste Erik grinsen, während er eine Spur langsamer weiter joggte. Richtig. Vor gut einem Jahr war er aus dem Sportverein ausgetreten und nicht mehr zum Ringen gegangen. Allerdings musste er zugeben, dass sein Ex nicht der Anlass für den Austritt gewesen war. Den kannte Erik zu diesem Zeitpunkt ja nicht einmal. Der Grund für den Ausstieg war schlicht und ergreifend der Wunsch seiner Mutter gewesen, dass Erik sich für die letzten zwei Jahre der Schule nur auf diese konzentrierte.
Dass er sich stattdessen bis zu ihrer Trennung auf Domis netten kleinen Hintern fokussiert hatte, war damit vermutlich nicht gemeint gewesen. Aber daran ließ sich jetzt auch nichts mehr ändern.
Nach der eher kurzen und unruhigen Nacht zog die Anstrengung des Joggens umso härter an ihm. Doch je länger er lief, desto mehr beruhigte sich sein aufgewühlter Geist. Zwar hatte Erik weiterhin Angst, was ihn am Montag in der Schule erwarteten würde. Sie war jedoch nicht mehr derartig überwältigend, wie zuvor. Inzwischen war es eher eine düstere Vorahnung weiterer Schrecken, die auf ihn warteten.
Erst nach über einer Stunde machte Erik Pause, setzte sich auf eine Bank und starrte vor sich hin. Es war nicht so, als ob er jemals ein wirkliches Bild seiner Zukunft vor Augen gehabt hätte. Trotzdem hatte Erik nach all den Jahren Schule zumindest damit gerechnet, dass er die mit einem anständigen Abschluss verlassen würde.
Irgendwann war der Wind zu kühl auf seiner von der Anstrengung verschwitzten Haut und Erik entschied sich wieder nach Hause zurückzukehren. Um sich nicht völlig zu verausgaben, schlug er dafür ein gemäßigteres Tempo an. Damit brauchte er zwar länger, aber es war ja nicht so, als ob er für dieses Wochenende Pläne mit irgendjemandem gehabt hätte.
Als Erik schließlich wieder zu Hause ankam, war es bereits früher Nachmittag. Er fühlte sich müde und geschafft, aber deutlich besonnener. Selbst wenn Berger ihn verpfeifen würde, würde Erik zumindest versuchen, sich weiterhin herausreden, dass es ja nicht echt war, nur eine ‚Illusion‘. Namen hatte Erik schließlich nicht verwendet, also war es hoffentlich nicht denunzierend.
Seine Mutter war offenbar noch im Bett, als er in sein Zimmer stapfte. Nur um kurz darauf mit frischen Sachen unter der Dusche zu verschwinden. Kaum dass Erik erfrischt, aber noch immer müde aus dem Bad kam, knurrte sein Magen jedoch deutlich. Kein Wunder, immerhin hatte er seit gestern Abend nichts mehr gegessen.
Im Kühlschrank fand er frisches Gemüse. Einen Moment wunderte Erik sich, wann seine Mutter es geschafft hatte, das zu holen, aber womöglich war sie nach dem Dienst noch Einkaufen gewesen. Jedenfalls war es genau das Passende für Tomatensoße. Eriks Magen knurrte bei dem Gedanken an die dazu gehörenden Nudeln immer kräftiger. Kurzentschlossen holte er die Sachen heraus und kochte genug Soße, damit es ebenfalls für seine Mutter reichen würde.
Eine halbe Stunde später saß er mit einem gefüllten Teller vor dem Fernseher und zappte durch das langweilige Nachmittagsprogramm. Wie immer nichts, was ihn interessierte. Aber das Hintergrundgeräusch gaukelte ihm zumindest vor, dass er nicht allein wäre. Ein Gefühl, an das er sich im Verlauf der letzten Jahre eigentlich gewöhnt haben sollte. Selbst an den Tagen, wenn Erik faktisch nicht allein war, fühlte es sich oft genug so an.
Seine Mutter bemühte sich, das war ihm klar. Aber irgendetwas war im Laufe der Jahre verloren gegangen. Und seit der Trennung von Dominik und dem nachfolgenden Verlust seiner Freunde, war Erik auf dem sozialen Abstellgleis.
Nachdenklich schaffte er seinen Teller in die Küche und stellte ihn in die Spülmaschine. Er räumte alles zusammen, bis lediglich der Topf mit der Tomatensoße und eine Schüssel mit Nudeln, von denen Erik wie immer zu viel gekocht hatte, übrig geblieben war. Für seine Mutter würde es reichen und vielleicht war es ein kleiner positiver Lichtblick für sie, bevor ...
‚Nicht darüber nachdenken.‘, ermahnte Erik sich. Es war viel Zeit bis zum Montag und es würde rein gar nichts bringen, wenn er sich wegen dieser Geschichte sein vielleicht letztes unbeschwertes Wochenende vor der Katastrophe verderben lies.
„Was machst du denn da?“, fragte es mit einem Mal aus Richtung der Küchentür.
Erschrocken fuhr Erik herum und starrte seine Mutter einen Moment lang überrascht an. Er hatte ihre Zimmertür gar nicht gehört. „Ich ... habe Tomatensoße gemacht. Willst du etwas?“
Ihr Blick wanderte einen Augenblick zwischen ihm und dem Herd hin und her. „Ist gar nicht so schlecht geworden“, murmelte Erik, darum bemüht freundlich zu bleiben. Schließlich war seine Mutter an keinem seiner Probleme schuld.
„Danke“, meinte sie irgendwann und trat an ihm vorbei zum Herd.
Ihr Blick in den Topf förderte keinen weiteren Kommentar mehr zutage. Deshalb beschloss Erik, dass er sich besser verzog, bevor ihm irgendetwas herausrutschte, was er sicher nicht sagen wollte. Jedenfalls nicht so lange die Chance bestand, dass er trotz des Mists, den er bei Berger versucht hatte, auf der Schule bleiben konnte.
Also verkrümelte Erik sich in sein Zimmer und hob den Rucksack auf. Er hatte noch andere Hausaufgaben auf. Obwohl es womöglich am Montag keinen Unterschied mehr machen würde, wollte Erik wenigstens so tun, als wäre er bemüht gewesen.
Gegen siebzehn Uhr war er fertig – und hätte ohnehin keine Lust mehr gehabt. Gerade ließ er sich seufzend auf das Bett fallen, als das Handy piepste. Verwundert zog Erik es aus seiner Hosentasche und starrte auf das Display.
Herr Ceylan fragte, ob er Zeit hätte, für zwei Stunden im Laden auszuhelfen. Diesmal überlegte Erik nicht lange, sondern stimmte zu. Das Geld konnte er immer gebrauchen und die körperliche Arbeit würde seine Gedanken weiter in der Spur halten. Allerdings erinnerten Erik die müden Beine bereits beim Aufstehen daran, dass er sich am Morgen vielleicht etwas zu sehr verausgabt hatte. Trotzdem zog er sich um und war nach einer kurzen Nachricht an Herrn Ceylan auch schon zu dem unterwegs.
Tatsächlich schaffte er es, in den folgenden zwei Stunden weder an Berger noch an das drohende Unheil durch den Aufsatz zu denken. Als er den Laden von Herrn Ceylan wieder verließ, war Erik entsprechend gut gelaunt. Vergessen waren die Probleme und für einen Augenblick war alles, was ihn interessierte, wie er das eben verdiente Geld möglichst wenig sinnvoll einsetzen konnte. Ein breites Lächeln war auf seinem Gesicht zu sehen, als er nach Hause kam.
„Erik?“, fragte seine Mutter, kaum dass er die Schuhe von den Füßen gestreift hatte.
Er verdrehte die Augen und verzichtete auf eine Antwort. Wer außer ihm selbst sollte denn sonst hereinkommen? Sofern sie nicht dazu übergangen war den Schlüssel zu ihrer Wohnung wildfremden Kerlen anzudrehen, gab es im Leben seiner Mutter schließlich nur einen Mann, der hier unangekündigt auftauchen würde.
Mit genervten Blick sah sie ihm kurz darauf aus der Tür zum Wohnzimmer zu, wie er die Jacke an die Garderobe hing: „Wo warst du?“
„Bei Herrn Ceylan. Arbeiten.“
Wieder Schweigen und erneut hatte Erik keinerlei Bedürfnis, ihr mehr zu erzählen als notwendig. Vielleicht wäre es ein guter Augenblick gewesen, um diesen Graben, der sich in den vergangenen Jahren zwischen ihnen gebildet hatte zuzuschütten und aufeinander zuzugeben. Aber wenn dem so war, dann konnte Erik sich nicht dazu durchringen. Nicht heute. Sie würde ihn sowieso nicht verstehen.
„Gehst du nachher noch weg?“
Erik stockte auf dem Weg zu seinem Zimmer und sah nun doch zu seiner Mutter. Ausgehen? Schon wieder? Anderseits war Samstag und er hatte frisch verdientes Geld in der Tasche. Warum eigentlich nicht?
„Ja“, antwortete Erik deshalb und wandte sich erneut ab.
„Eine Kollegin ist krank geworden. Ich geh nachher zur Nachtschicht.“
War heute nicht ihr freier Tag? Für einen Moment stockte Erik. Ein Ziehen breitete sich in seinem Magen aus und schaffte es, zumindest für einen Augenblick, das wütende Brodeln zu verdrängen. Seit Jahren arbeitete seine Mutter sich krumm, um ihn und ihr gemeinsames Leben zu finanzieren. Damit Erik Abitur machen konnte. Und er war so dämlich, das alles aus einer Laune heraus aufs Spiel zu setzen.
„Komm nicht so spät nach Hause, Erik. Okay?“
Sein Blick wurde dunkler, als er weiterhin von ihr weg in Richtung seines Zimmers starrte. Als ob er noch immer ein dummes Kind wäre, das um zehn zu Hause sein musste. Erik winkte seiner Mutter über die Schulter hinweg zu, bevor er die Tür zu seinem Zimmer hinter sich schloss.
Seit Wochen, wenn nicht Monaten war Erik nicht ausgegangen und jetzt an zwei Tagen hintereinander? Ja, vielleicht war es genau das, was er brauchte. Weggehen, Leute treffen. Auf andere Gedanken kommen – wortwörtlich. Ein kurzes Grinsen huschte über Eriks Gesicht. Eine gewisse Art von Ablenkung könnte er im Augenblick wirklich gut gebrauchen.
Er ließ sich aufs Bett fallen und schloss für einen Moment die Augen. Zwar fühlte Erik sich müde und erschöpft, Schlaf wollte sich aber nicht einstellen. Gut eine halbe Stunde döste er vor sich hin – sein Kopf zur Abwechslung einmal angenehm leer. Keine störende Angst, keine Sorge, keine Frage danach, was morgen wohl mit ihm passieren würde.
Es dauerte jedoch nicht lange, da schob sich vor die angenehme Leere ein Bild, das er letzte Nacht zu oft gesehen hatte. Hastig riss Erik die Augen auf und schwang die Beine über den Rand des Bettes. Seufzend rieb er sich die Stirn. Selbst wenn Erik die Angst vor den Folgen einigermaßen verdrängt hatte, die Bilder seines Aufsatzes blieben.
Erik zögerte nur kurz, bevor er sich frische Sachen aus dem Schrank schnappte und im Bad verschwand. Noch während er sich nach der Dusche abtrocknete, konnte Erik hören, wie seine Mutter die Wohnungstür hinter sich schloss, um sich auf den Weg zur Arbeit zu machen. Zumindest waren das die Worte, die sie ihm zum Abschied aus dem Flur zurief.
Einen Moment lang schoss Erik der merkwürdige Gedanke durch den Kopf, dass sie selbst seit Jahren nicht ausgegangen war. Hatte sie sich überhaupt je verabredet, nachdem sein alter Herr sich verpisst hatte? Erik war sich nicht sicher. Allerdings war das Sozialleben seiner Mutter nicht sonderlich weit oben auf der Liste seiner Hauptinteressen. Ganz im Gegenteil. Wenn es nach Erik ging, dann hatten Eltern grundsätzlich kein Liebesleben. Und die Tatsache, dass sie Kinder hatten, war ein Wunder, denn die dafür notwendigen Aktivitäten betrieben sie schließlich genauso wenig.
Hastig schüttelte Erik den Gedanken ab und stapfte in die Küche, um eine Kleinigkeit zu essen, bevor er sich auf den Weg machte. Vor acht, eher neun, brauchte er im Rush-Inn sowieso nicht aufschlagen. Jedenfalls nicht, falls Erik vermeiden wollte, wie der unreife Schüler zu wirken, der er leider Gottes tatsächlich war. Glücklicherweise waren noch Reste vom Mittagessen da, die er sich rasch in der Mikrowelle aufwärmte.
Mit einer Schüssel dampfender Nudeln und Soße vor sich lümmelte Erik kurz darauf mal wieder auf dem Sofa. Im Fernsehen lief das Gleiche wie immer. Also praktisch Nada. Zumindest nichts, was Erik interessiert hätte. Das spielte ja ohnehin keine Rolle mehr. Wenn er heute schon seine schulische und somit die bisher ungeplante berufliche Zukunft ruiniert hatte, dann sollte sein nicht vorhandenes eigenes soziales Leben wenigstens einen kleinen Aufwind erfahren.
Deshalb brach Erik halb neun in die gleiche Richtung auf, die er am Vorabend bereits eingeschlagen hatte. Das Wetter war im Gegensatz zum Morgen angenehm warm und passte entsprechend nicht so richtig zu Eriks Stimmung.
Der Gedanke an den Aufsatz und seine Folgen wollte sich nicht gänzlich verdrängen lassen. Immer wieder redete Erik sich ein, dass der Richterspruch in dieser Sache noch nicht gefallen war. Und ob Berger sich wirklich traute den Mist zum Direktor zu bringen, stand auf einem ganz anderen Blatt.
Als Erik schließlich die dunkelgrüne Tür zum Rush-Inn durchschnitt war es nach neun Uhr und damit die perfekte Zeit, für einen Samstagabend. Entsprechend gut gefüllt war die kleine Bar auch bereits. Ein kurzer Blick in die Runde reichte für Erik, um sich zunächst für einen Platz am Tresen zu entscheiden. Von dort konnte er den Raum gut überblicken und er nahm sich nicht völlig aus dem Spiel.
Wie automatisch ließ Erik den Blick zu den Stühlen an der hinteren Wand gleiten. Auch die, obwohl halb im Dunkel verborgen, waren bereits durchgängig besetzt. Zwar waren Eriks Besuche im Rush-Inn vor seiner Trennung von Dominik ebenfalls nicht sonderlich zahlreich gewesen, die grundlegenden Spielregeln dieser Bar kannte er jedoch – so wie alle anderen, die hierher kamen.
Wer sich da hinten im Dunkel versteckte, wollte allein gelassen werden. Bisher hatte Erik da nicht viel drüber nachgedacht. Zum ersten Mal fragte er sich, ob die Typen da tatsächlich nur in Ruhe einen saufen wollte, ohne dass man sie blöd von der Seite anquatschte. Oder waren es am Ende eher die Spanner, die lieber zuschauten und sich dann zu Hause heimlich einen runterholten auf ihr Kopfkino. Bei dem Gedanken drehte Erik sich lieber hastig zum Tresen um. Man sagte nicht umsonst, dass wer im Glashaus saß, nicht mit Steinen werfen sollte. Das Haus, in dem Erik gerade saß, hatte verflucht dünne Scheiben, was das Wichsen zu bestimmten Bildern anging.
Die Aushilfe kam und Erik bestellte ein Bier. Während er wartete, ließ er den Blick ein weiteres Mal durch den Raum wandern. An den Tischen saßen mehrere Gruppen, zu denen Erik sich selbstredend nicht ungefragt dazu gesellen würde. Abgesehen davon, dass er noch nie der Typ gewesen war, der einfach so auf andere Menschen zuging, kannte er keinen von den Typen. Plötzlich stockte Erik.
‚Fast keinen‘, korrigierte er sich selbst automatisch und fügte ein geistiges Knurren hinzu. ‚Ausgerechnet der!‘
Instinktiv wich Erik ein Stück zurück und verzog sich an das Ende des Tresens um mehr Abstand zwischen sich und den Tisch zu bringen. Diese verdammte Gruppe, in der sich Dominik mit einigen anderen Männern köstlich zu amüsieren schien. Wenigstens war der Wichser, der für ihre Trennung gesorgt hatte nicht dabei. Die Gewissheit, dass aus dem Blowjob auf dem Klo am Ende womöglich was Ernstes geworden war, hätte Erik heute vermutlich den Rest gegeben.
Trotzdem machte es ihn sauer, wie gut Domi sich zu amüsieren schien, während Erik das Gefühl hatte, in immer mehr Problemen förmlich zu ertrinken. Und Schuld daran war am Ende doch genau diese kleine Ratte da drüben. Eriks Augen verengten sich, als der Riese, der neben Dominik saß, eine Pranke auf dessen schmale Schulter legte. Dass Domi auf durchtrainierte Typen stand, war Erik durchaus klar. Immerhin zählte er sich selbst nicht gerade zu den Schwächlingen. Aber dieses Anabolikamissbrauchsopfer war eine völlig andere Liga. Hätte der Kerl Domi damals auf dem Klo einen geblasen, wäre Eriks Entscheidung dem Typ eine in die Fresse zu hauen garantiert anders ausgefallen. Mit dem hätte er sich bestimmt nicht angelegt.
Nachdenklich nippte Erik an seinem Bier und versuchte, nicht zu offensichtlich zu Dominik und dessen Gruppe hinüber zu schielen. Trotz der guten Absichten gelang Erik eben das allerdings überhaupt nicht. Egal wie oft er sich ermahnte, dass er nicht hier war, um seinem Ex nach zu heulen, die Augen wanderten immer wieder zu genau dem zurück.
Dominiks Haare wirkten dadurch, dass er sie heute offen trug noch länger als zu ‚ihrer‘ Zeit. Der ganze Kerl wirkte mit einem Mal noch graziler, wobei es irgendwie zu ihm passte. Domi war stets eher der filigrane Typ gewesen. Trotzdem mochte Erik den Look nicht. Als sein Ex sich die Haare mit einer Hand über die Schulter warf verengten sich Eriks Augen. So tuntig hatte Domi vor ein paar Monaten nicht gewirkt. Langsam ließ er seinen Blick an der schlanken Gestalt entlang wandern. Die Klamotten wirkten einen Tick zu eng und Dominiks Augen sahen aus, als wäre da tatsächlich Make-up drumherum geschmiert. Mit einem Kopfschütteln wandte Erik sich ab.
‚Was zum Henker ist mit dem passiert?‘, fragte er sich und versuchte das Bild von eben mit dem abzugleichen, das er zuvor von Dominik gehabt hatte. Erfolglos.
Mit einem Mal erschien die Trennung deutlich weniger mies. Zumindest wollte Erik mit dem Mann da drüben am Tisch nicht liiert sein. Ja, die Folgen der Trennung waren scheiße, aber letztendlich war es Erik selbst gewesen, der sich bei seinen Kumpeln verquatscht hatte. Was letztendlich dazu geführt hatte, dass Arschloch Sandro sich herausgefordert fühlte, ihm in der Schule jetzt permanent auf den Sack zu gehen.
Ehrlicherweise wollte Erik sich im Augenblick aber nicht einmal vorstellen, dass er noch immer mit dem heutigen Dominik zusammen wäre. Der Typ da drüben war so gar nicht Eriks Fall. Im Spiegel hinter der Bar konnte er Domi und vor allem genauso den Hulk neben ihm erkennen. Als Dominik sich zu dem Riesen hinüber beugte und ihm förmlich auf den Schoss zu krabbeln schien, kam Erik allmählich die Galle hoch.
‚Wenn Domi für den Kerl das Hundchen spielen will, soll er halt‘, dachte er bei sich und wandte sich endgültig von dem Schauspiel ab.
„Hey, alles klar?“, fragte ihn plötzlich jemand.
Überrascht sah Erik auf. Vor ihm stand Alex. Bisher hatte er bei seinen Besuchen nur selten mit diesem Mann gesprochen. Aber natürlich wusste Erik wie so gut wie jeder hier, dass Alexander nicht nur täglich hinter der Bar stand, sondern, dass die ihm auch noch gehörte.
„Logisch“, murmelte Erik und widmete sich dann demonstrativ seinem Bier.
„Du schaust recht finster“, fuhr Alex unbeeindruckt aber mit einem kurzen Lächeln auf den Lippen fort. Erik zuckte lediglich mit den Schultern. Er war nicht der Typ, der sich über seine Probleme irgendwo ausheulen würde. Entsprechend war er im Gegensatz zu anderen Gästen nicht an einem Gespräch mit Alex interessiert. „Randalier mir nicht wieder rum, okay?“
Überrascht fuhr Erik zusammen. Konnte der Typ sich etwa noch daran erinnern? Er hatte gehofft, dass die vergangenen Monate gereicht hatten, damit der kleine ‚Vorfall‘ auf dem Klo Alex nicht mehr gegenwärtig war. Auch wenn Erik kein Hausverbot bekommen hatte, war er sicherlich nicht weit an ebendiesem vorbeigeschrammt. Eine gelbe Karte dürfte er allemal kassiert haben.
„Das ist dein Ex da drüben, oder?“, hakte Alex erneut nach.
„Ja ...“, murmelte Erik, um wenigstens genug Höflichkeit aufzubringen, damit Alexander merkte, dass er kapiert hatte, wie viel Glück er hatte, hier weiterhin ein- und ausgehen zu dürfen.
„Trauerst du ihm noch nach?“
Erneut schielte Erik durch den Spiegel zu Dominik zurück. Der ließ sich von seinem Hulk gerade die Zunge operieren. Angewidert wandte er sich ab und sah stattdessen zu Alex: „Nee. Sicher nicht.“
Ein kurzes Lachen, das Alexanders ganzes Gesicht zu erhellen schien. „Nicht das, worauf du stehst?“
„Garantiert nicht mehr“, gab Erik mit einem zurückhaltenden Lächeln zurück. „Ich bin nicht einmal sicher, ob der Kerl noch der gleiche Mann ist.“
Alex grinste und nickte, während sein Blick ebenfalls kurz zu Eriks Ex zu wandern schien. „Ja, Dominik hat sich verändert in den letzten Wochen“, bemerkte er eher beiläufig und deutete fragend in Richtung des inzwischen leeren Bierglases. Erik nickte und schob es ihm hinüber. „Du aber auch.“
„Ach ja?“
„Ja.“ Noch einmal grinste Alex, dann wandte er sich zunächst einem anderen Gast zu, der nach einem Drink fragte.
Erik runzelte die Stirn und beobachte Alex bei der Arbeit. Der Mann sah selbst gar nicht so schlecht aus. Schwer sein Alter zu schätzen. Um die dreißig war er allerdings sicher schon. Zu alt für Eriks Geschmack, aber das spitzbübische Grinsen war durchaus attraktiv.
„Sag mal, Alex ...“, setzte Erik an, als der einige Minuten später bei ihm vorbeisah. „Worauf genau stehst du eigentlich?“
Grinsend schüttelte Alexander den Kopf. „Versuch’s gar nicht erst, Kleiner. Ich bin vergeben.“
„Ach ja?“, fragte Erik zurück und konnte sich ein eigenes kurzes Grinsen nicht verkneifen.
Dass das mit dem ‚Vergeben sein‘ eine Sache war, die sich schlagartig ändern konnte, hatte Erik ja vor den Sommerferien auf die harte Tour gelernt. Alex sah ihn mit funkelnden Augen an, beugte sich vor und winkte ihn näher zu sich heran. Etwas irritiert aber lächelnd kam Erik ihm entgegen.
„Du wärst eh nicht mein Typ“, flüsterte Alex ihm in einem geradezu verschwörerischen Tonfall zu, der Erik ein eigenes Grinsen auf die Lippen trieb. Noch bevor er fragen konnte, was genau denn jetzt Alexanders Typ war, fügte der mit einem leisen Lachen hinzu: „Dafür müsste dir da unten, was abfallen und stattdessen weiter oben ein paar Brüste wachsen.“
„Ist das dein Ernst?“, fragte Erik lachend und lehnte sich wieder zurück. „Wie kommt jemand, der nicht auf Kerle steht dazu so einen Laden zu führen?“
Alex zuckte mit den Schultern und lächelte. „Schicksal.“
Genau in dem Moment rief schon wieder einer der anderen Gäste und wollte bestellen. Also zwinkerte Alex Erik kurz zu und ging danach zurück an die Arbeit. Für einige Minuten starrte er Alex verwundert hinterher, dann lächelte Erik. Na ja, der Kerl wäre ihm eh zu alt.
Alexanders Worte wollten ihm aber nicht aus dem Sinn gehen. Hatte er sich wirklich so in den letzten Wochen und Monaten verändert? Wenn ja, dann sicherlich nicht durch die Trennung von Dominik.
Falls Alex recht hatte, war es wohl die verfluchte Erkenntnis, dass die Jungen, die Erik in den letzten Jahren seine ‚Freunde‘ genannt hatte, ihn inzwischen ignorierten, ihm aus dem Weg gingen. Keiner seiner alten Kumpel sah ihn in der Schule an. Sogar Mirek, mit dem Erik immerhin so einige Kurse teilte, redete nicht mehr mit ihm.
‚Freunde würden nicht wegsehen‘, dachte Erik bei sich. ‚Sie würden dich mit Sandro und seinen Affen nicht alleine lassen.‘
Das unschöne Gefühl, das sich daraufhin in Eriks Bauch ausbreitete, drohte seine Stimmung endgültig in die Tiefe zu zerren. Selbst wenn Mirek nur die Fresse hielt, damit ihm Sandro nicht selbige polierte, war es scheiße, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Die Kerle waren nie wirklich seine Freunde gewesen. Am Ende waren sie alle nur ein paar spätpubertierende Jungs, die regelmäßig zusammen einen saufen gegangen waren. Typen, die Erik getroffen hatte, wenn er nachmittags Langeweile hatte. Einfach nur ein paar Kerle, mit denen er die letzten sechs Jahre gemeinsam die Schulbank gedrückt hatte.
‚Die waren verflucht noch mal nie deine Freunde. Sie waren nur eben keine Feinde.‘ Und jetzt, wo der ganze Scheiß mit Sandro ablief, hielten sie sich entsprechend raus – weil sie nicht selbst zum Opfer werden wollten.
„Verdammt ...“, murmelt Erik verhalten und ließ den Blick auf sein Bierglas fallen. Alex hatte in der Tat recht. Er hatte sich verändert – er war endlich aufgewacht und hatte die Wahrheit realisieren müssen. „Ich bin so was von am Arsch.“
Wieder drängte sich das Bild von Berger in Eriks Bewusstsein. Und erneut war es keines, das er so in der Schule gesehen hatte. Sondern vielmehr das, was Erik letzte Nacht aufs Papier gebracht hatte. Er nippte an seinem Bier und wischte gedankenverloren über die Wassertropfen, die außen an dem kühlen Glas kondensierten. Das Arschloch von Lehrer wollte Erik ganz sicher nicht flachlegen, aber die Vorstellung endlich mal wieder einen hübschen, festen Hintern in den Fingern zu halten war definitiv erregend. Vielleicht nicht unbedingt diesen einen konkreten Arsch. Nein, ganz sicher nicht den!
„Wer will schon seinen Lehrer vögeln?“, murmelte Erik kaum hörbar vor sich hin und wischte ein weiteres Mal über das erneut beschlagene Glas. „Ich sicher nicht.“
Noch einmal sah Erik zum Spiegel, aber Dominik und dessen Kumpel waren entweder gegangen oder an einen anderen Tisch gewechselt. Jedenfalls konnte Erik sie nicht mehr sehen. Womöglich war die Trennung echt das Beste gewesen, was ihm hatte passieren können. Wenigstens hatte er neben all den Problemen in der Schule nicht auch noch so eine Diva am Hals.