12 – Hinweise und Anfragen
Zwei Monate war es inzwischen her, dass Erik das erste Mal versucht hatte Berger mit der Fantasie darüber, wie ein Schüler über seinen Lehrer herfiel aus der Fassung zu bringen – und kläglich damit gescheitert war. Auch spätere Versuche, Berger aus der Reserve zu locken, waren stets ohne erkennbare Reaktion seitens dieses Mistkerls geblieben. Eriks Leben hatte sich in dieser Zeit folglich nicht wesentlich verändert. Sandro hatte ein paar Tage wegen einer fetten Erkältung gefehlt gehabt, aber kaum war der Arsch zurück in der Schule, war das Spiel von vorne losgegangen.
Erik wurde geschubst, Hausaufgaben weggenommen und über dem Schulhof verteilt oder andere kindischer Blödsinn. Er regte sich auf, fauchte wie ein blödes Mädchen und stapfte danach angefressen in die nächste Stunde. Beim Schulsport zog Erik sich schon eine Weile erst dann um, wenn alle anderen Jungen aus der Umkleide verschwunden waren. Ein Arrangement, mit dem beide Seiten einverstanden waren. Allerdings bewahrte es Erik nicht davor, aufgrund genau dieser unausgesprochenen Vereinbarung regelmäßig zu spät zur nächsten Stunde zu kommen.
Und dummerweise war das in seinem Fall jeden Mittwoch: Deutsch.
‚Scheiß Berger!‘
Der Arsch hatte ihn weiterhin auf dem Kieker. Wann immer sich eine Gelegenheit ergab, bekam Erik eine Strafarbeit aufgebrummt. Und jedes Mal, wenn er dabei versuchte, irgendeine noch so kleine Reaktion aus dem Arschloch herauszuholen, schlug der Versuch fehl. Zumindest hatte Berger Erik bisher nicht wegen irgendwas beim Direktor verpetzt. Grund genug hätte er ja mit diesem ersten Aufsatz Anfang des Schuljahres bereits gehabt. Weitere waren in den letzten zwei Monaten gefolgt. Subtiler, aber garantiert für jemanden, wie Berger, der solche verfluchten Interpretationen liebte, nicht zu überlesen.
Nein, dieser Mistkerl war nicht kleinzukriegen. Schlimmer! Alles, was Erik Berger entgegen schmiss, um jenen aus der Reserve zu locken, schien an diesem Eisblock einfach abzuprallen. Inzwischen wäre Erik ja schon fast froh, wenn der Mistkerl ihn beim Direktor verpfiff oder seine Mutter anrief oder schlicht irgendetwas tat, das man als Reaktion hätte auslegen können. Aber egal, was Erik sagte, tat, schrieb, alles, was er erntete, war eine kühle, geradezu emotionslose Antwort. Und wenn er Glück hatte eine Zwei, die seinen Schnitt wenigstens einigermaßen oben hielt.
Inzwischen hatte Erik auch ein weiteres Mal an einem Samstagmorgen in der Schule antanzen dürfen, um irgendeine verdammte Gedichtinterpretation abzugeben! Scheinbar hatte Berger einen Narren an denen gefressen – oder an der Tatsache, dass Erik sie wie die Pest hasste. Jedenfalls bestanden Strafarbeiten immer häufiger aus der Interpretation von irgendwelchem Schweinkram, den dieses Arschloch als ‚Poesie‘ verkaufte. Es war geradezu erschreckend, wie viele Gedichte es zu geben schien, in denen es im Grunde nur um Sex und Verlangen ging.
Offensichtlich machte dieses Arschloch von Lehrer sich einen Witz draus, jedes Einzelne herauszusuchen und Erik vor den Latz zu knallen. Nicht zu vergessen, dass Berger im Unterricht noch immer mit seinem kleinen, ansehnlichen Hinterteil direkt vor Eriks Augen herumwackelte. Als ob er es provozieren wollte, dass der endlich seine Selbstbeherrschung fallen ließ und das, was er am Anfang des Schuljahres fantasiert hatte, doch noch in die Tat umsetzte. Wer so viel pornografischen Mist für einen Kurs hormongesteuerter Vollidioten herauskramte, hatte es nicht anders verdient.
Blöderweise traute Erik sich nicht einmal, ein weiteres Mal derartig direkt zu sein, wie in seiner ersten Strafarbeit. Davon irgendetwas in der Richtung umzusetzen war er sowieso Lichtjahre entfernt.
‚Trotzdem kannst du Trottel einfach nicht damit aufhören, ihn weiter zu reizen. Irgendwann wird dich das den Kopf kosten.‘
Erik war vollkommen klar, wie dämlich er sich aufführte, aber es gärte zu sehr, um nicht wenigstens ab und an zu provozieren. Mit jedem weiteren Aufsatz, jeder zusätzlichen Strafarbeit. Nur zu gern hätte Erik diesem Mistkerl von Lehrer endlich gezeigt, was es hieß, wenn man permanent das Gefühl hatte, nichts wert zu sein – nicht einmal diese beschissene wütende Reaktion, die Erik sich von Berger erhoffte, hatte er sich offenbar verdient. Egal, was er schrieb, es reichte nicht, um dieser undurchdringlichen Rüstung auch nur den kleinsten Kratzer zu verpassen.
Behutsam hob Erik den Kopf und schielte zu dem hübschen Knackarsch, der schon wieder vor der Tafel herumscharwenzelte, als würde er förmlich danach schreien, dass sich jemand seiner annahm. Mit einem unterdrückten Stöhnen versuchte Erik, die Augen zurück auf die Karos in seinem Block zu richten, aber die Versuchung war so verdammt groß.
‚Jedes verfluchte Mal!‘
Also kniff Erik die Augen zusammen und zwang sich, das Bild in seinem Kopf zu einem inzwischen vertrauteren Anblick wandelte. Tom, wie der stöhnend und keuchend auf ihm saß. Erik biss sich auf die Lippe, um das aufsteigende eigene Stöhnen zu unterdrücken. Blöde Idee, ausgerechnet an Sex mit Tom zu denken, um damit dem Ständer entgegenwirken zu wollen, den Berger regelmäßig bei Erik auslöste.
Aber nach zwei Monaten war Tom der einzige Lichtblick in Eriks zunehmend unerträglicher werdenden Alltag. Mindestens einmal die Woche trafen sie sich in Toms WG. An den Tagen, an denen Eriks Mutter zur Nachtschicht war, hatte er sogar das eine oder andere Mal dort übernachtet.
Es erschien perfekt. Erik fuhr zu Tom, sie hatten Sex und er ging wieder. Keine dämlichen Fragen, kein Rumgesülze, kein Aufwand. Einer von ihnen hatte Bock auf Sex und griff zum Handy. Das reichte im Grunde bereits. Denn wenn Erik ehrlich war, hatte er immer Lust auf Sex. Und glücklicherweise schien es Tom da nicht anders zu gehen.
‚Heute wäre ein guter Tag, um ihn anzurufen‘, dachte Erik bei sich, als seine Augen ein weiteres Mal Richtung Berger wanderten.
Der stand inzwischen dem Kurs zugewandt, was allerdings wenig bis gar nichts an der Höhe von Eriks Blick änderte. Der Drang danach, sich wenigstens den Schritt einigermaßen zurechtzurücken, wurde im gleichen Maße größer, wie sich Eriks Kopf von jedem vernünftigen Gedanken zu leeren schien.
‚Definitiv ein guter Tag, um Tom anzurufen ...‘
Es dauerte weitere zwölfeinhalb Minuten, bis die Schulglocke endlich läutete und Erik damit seiner versauten Fantasien entriss. Wenigstens hielten ihn diese blöden Strafarbeiten auf einer erstaunlich guten Zwei in Deutsch. Berger war zwar definitiv ein Arschloch, bewertete Eriks Arbeiten aber zumindest fair. Wenigstens erweckte es den Anschein. Sah man von der lächerlichen und unverschämten drei ab, die Erik für seinen versauten Erguss zum Thema ‚Illusion‘ kassiert hatte. Trotzdem konnte Erik sich objektiv betrachtet über seinen Notenschnitt gerade nicht wirklich beschweren.
Auf die anderen Fächer traf das leider nicht zu. Seufzend packte Erik die Sachen zusammen. Ausnahmsweise war Deutsch an diesem Tag problemlos verlaufen. Hausaufgaben hatten sie bisher ebenfalls in keinem Fach aufbekommen. Dazu kam, dass Eriks Mutter bis morgen auf Nachtschicht war. Sie würde es entsprechend nicht merken, falls er länger wegblieb. Alles in allem sprach nichts dagegen, sich den Abend über mit Tom zu vergnügen.
‚Als ob das jemals reicht, um das Arschloch da drüben völlig aus deinen kranken Gedanken zu bekommen.‘
„Erik?“, sprach genau der ihn in diesem Moment an.
Erschrocken zuckte er zusammen und sah auf. War irgendwas passiert? Hatte er etwas nicht mitbekommen? Nein, die Stunde war erstaunlich ruhig verlaufen. Sandro hatte zur Abwechslung keinen Scheiß mit ihm veranstaltet, Hausaufgaben hatte Erik auch nicht vergessen. Was zum Geier wollte der Mistkerl jetzt schon wieder?!
„Sie sind in letzter Zeit ausgesprochen teilnahmslos in meinem Unterricht“, bemerkte Berger mit dem üblichen kritischen Blick.
Erik verkniff sich einen patzigen Kommentar und zuckte lediglich mit den Schultern. Er beteiligte sich seiner Meinung nach schon genug an der Abendunterhaltung dieses Mistkerls. Jedenfalls an den Tagen, an denen er ihn mit irgendwelchen Strafarbeiten versorgte. Besser gesagt, hoffte Erik weiterhin, dass er Berger seine Abende damit zumindest ansatzweise versaute.
„Sie sollten den Deutschunterricht nicht als derartig belanglos beurteilen. Wer weiß, was Sie später damit noch alles anfangen können.“
„Mit Gedichtinterpretation?“, rutschte es Erik dann doch mit einem kurzen, freudlosen Lachen heraus.
Berger lächelte und für einen Augenblick fühlte er selbst dabei einen Stich im Magen. „Der richtige Umgang und eine korrekte Interpretation der Worte anderer, kann Ihnen vieles ermöglichen, was ansonsten unmöglich erscheint. Unterschätzen Sie das nicht, Erik.“
Damit drehte Berger sich um und ließ ihn verdutzt im Klassenzimmer zurück. Wären in diesem Augenblick nicht die ersten Jungen und Mädchen der nachfolgenden Klasse hereingestürmt, hätte Erik vermutlich noch zum Beginn der nächsten Stunde dort gestanden, so verdutzt war er. Stattdessen hastete er mit heftig klopfendem Herzen den Schulflur entlang.
‚Was zum Geier war das?‘, fragte Erik sich, entsetzt über seine eigene Reaktion. ‚Hat dieses Arschloch dich eben ernsthaft angelächelt?‘
Quatsch! Das wäre nun wirklich das erste Mal, dass Berger überhaupt irgendeine Gefühlsregung Erik gegenüber zeigte. Und ganz sicher würde das kein verficktes Lächeln sein! Erik wollte nicht, dass der Typ ihn anlächelte! Der Mistkerl sollte winseln, wütend sein, beschämt, notgeil. Keuchen, Stöhnen, ein Schrei der Ekstase, damit würde Erik klarkommen. Es gab gefühlte hundert Emotionen, die er gern auf dem Gesicht dieses verfluchten Arschlochs sehen wollte.
‚Aber ganz sicher kein so verschissen ehrliches Lächeln!‘
✑
Erik schaffte es gerade noch pünktlich zur nächsten Stunde. Mathe, eines seiner Lieblingsfächer, auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, was er mit Integralrechnung und Stochastik irgendwann im späteren Leben anfangen sollte. Aber Mathe war starr, fest, es gab keinen Interpretationsspielraum. Entweder die Lösung am Ende war richtig – oder eben nicht. Und genau das mochte Erik an dem Fach. Es war nicht subjektiv – so wie Deutsch. Wenn Berger Eriks Ansicht nicht passt, konnte er ihn schlecht bewerten.
‚Tut er aber nicht‘, schoss es Erik sofort durch den Kopf.
Am liebsten hätte er sich selbst für den Gedanken geohrfeigt. Trotzdem ließ es sich nicht leugnen. Berger ließ Erik immer wieder irgendwelchen Scheiß als Aufgaben erledigen, bewertet hatte der Blödmann die Sachen aber stets erstaunlich fair.
„Ist trotzdem ein Arschloch“, murmelte Erik trotzig, während er seinen Block herausholte.
Glücklicherweise hatte er vorerst keine Zeit mehr, über Berger nachzudenken, da Herr Darian jetzt, kurz vor dem Stundenklingeln, doch noch endlich auftauchte. Im Gegensatz zu Berger war Herr Darian ein echt netter Kerl und mit seinen rund fünfunddreißig Jahren reichlich erfahren darin, wie man mit durchgeknallten Abiturienten umgehen musste.
Außerdem war Herr Darian offiziell ihr Stammkursleiter. Wirklich viel hieß das in Eriks Augen nicht. Im Gegensatz zu den Klassenverbänden der Unterstufe war das hier doch eher eine pro forma Angelegenheit. Jedenfalls, wenn es nach Erik ging. Sah man von Mathe und Deutsch ab, verteilten sie sich die übrige Zeit des Tages über diverse Kurse. Unglücklicherweise teilte Erik so gut wie alle von denen mit dem Affenkönig Sandro und dessen Lakaien. Dummer hatte dieses letzte Jahr wirklich nicht laufen können.
„Guten Morgen, meine Damen und Herren“, begrüßte derweil Herr Darian sie gut gelaunt.
Seit dessen Frau schwanger war, war der Kerl mit jedem Tag besser drauf gewesen. Erik konnte sich beim besten Willen nicht erklären, was daran toll war, wenn die eigene Ehefrau aufging wie ein Hefekloß. Ganz davon abgesehen, dass die Vorstellung, wie in ihr ein Parasit heranreifte, der irgendwann herausbrechen würde, wie eins dieser Viecher in Alien, Erik Übelkeit bescherte. Okay, vielleicht nicht ganz wie in Alien. So schlecht waren Eriks Biologienoten nun auch wieder nicht, dass er das nicht gewusst hätte. Aber in seiner Vorstellung lag da rein prinzipiell nicht viel dazwischen.
„Bevor wir zum eigentlichen Unterrichtsthema kommen, habe ich etwas anderes mit Ihnen zu besprechen“, fuhr Herr Darian derweil fort. Sofort entstand wildes Tuscheln im Raum, von dem sich ihr Lehrer aber nicht im Geringsten ablenken ließ. „Es wird Zeit für die Planung Ihrer Abschlussfahrt.“
Eriks Schädel schlug schmerzhaft auf dem Tisch auf, während um ihn herum Jubel ausbrach. Den Scheiß brauchte er nicht auch noch. Auf keinen Fall würde Erik da mitfahren! Eine Woche auf dem Servierteller vor Sandro und den übrigen anderen Spackos?
‚Ganz sicher nicht!‘
Also schaltete Erik innerlich ab, während um ihn herum die wildesten Ziele in den Raum geworfen worden. Von L.A. bis Warnemünde war gefühlt alles dabei und jedes einzelne Reiseziel Erik gleich egal. Er würde ja sowieso keinen Spaß an der beschissenen Fahrt haben. Also warum das Geld rausschmeißen? Dann lieber eine Woche schulfrei. Da nach Plan Ihre Abschlussfahrt noch vor den Prüfungen stattfinden sollte, könnte Erik die Zeit zur Vorbereitung nutzen.
Plötzlich unterbrach Herrn Darians laute Stimme Eriks Gedankengänge: „Sie hatten sich ja entschieden, die Klassenfahrt nicht wie einige der anderen Kurse im Herbst zu machen, sondern erst kurz vor den Prüfungen. Wie sie wissen, kann ich deshalb leider dieses Jahr nicht mitfahren. Da meine Frau schwanger ist, möchte ich sie auch nach der Geburt nicht gleich mit dem Kind allein lassen.“
„Gehen Sie etwa mitten im Jahr in Elternzeit?“, unterbrach Hanna, eines der eher ruhigen Mädchen.
Herr Darian lachte und winkte ab. „Nein, nicht sofort. Die Kurse des Abschlussjahrgangs werde ich bis zu den Prüfungen betreuen. Trotzdem möchte ich natürlich im März keine Woche Kursfahrt mehr einplanen, wie Sie sicherlich verstehen.“
„Die Fahrt fällt jetzt aber nicht deshalb aus, oder?!“
„Das geht doch nicht!“
„Wir hätten die blöde Fahrt im Oktober machen sollen. Der Mathe-2 Kurs war in Kroatien und die hatten so geiles Wetter.“
„Wer wollte denn unbedingt im März fahren?!“
Erik grinste vor sich hin, während der Rest des Kurses sich in ihrer Wut immer weiter nach oben schaukelte. Ein Teil von ihm kam nicht umhin, die Absage der Fahrt zu begrüßen. Während ein anderer ihn gleichzeitig anfuhr, dass er ein garstiger Arsch war, wenn er den Übrigen im Kurs nicht einmal ihre blöde Fahrt gönnen konnte.
„Jetzt beruhigen Sie sich doch!“, rief Herr Darian beständig dazwischen. Es dauerte aber garantiert zehn weitere Minuten, bis tatsächlich wieder so etwas wie Ruhe in den Kurs einkehrte. „Wir haben das Problem im Kollegium besprochen und es hat sich eine Lösung gefunden.“
Die Erleichterung, die den Kurs ergriff, war geradezu greifbar – auch wenn Erik selbst sie nicht wirklich spüren konnte.
„Herr Berger ist zwar in seinem ersten Jahr hier an der Schule, aber er hat sich bereiterklärt, Sie an meiner statt zu begleiten.“
Erneut war Jubel zu hören, auch wenn er aus Rücksicht auf ihren Kursleiter etwas verhaltener ausfiel als zuvor. Erik hingegen schreckte nach oben. Ihr Herr Berger? Der verfluchte Eisblock, dem Erik nur zu gern endlich mal eine Reaktion entlockt hätte?
„Sie können sich wirklich glücklich schätzen, dass sich Herr Berger bereit erklärt hat, die Fahrt für mich zu übernehmen.“
Erik verkniff sich ein schnaubendes Lachen. Lieber hätte er sich einen Eispickel ins Bein gerammt, als sich über diese Neuigkeit zu freuen.
„Ich bin sicher, dass Sie eine sehr schöne Fahrt haben werden“, fuhr Herr Darian unbeirrt fort. „Bedenken Sie trotzdem, bei der Wahl ihres Reiseziels, dass Sie sich hinterher auch noch an die Fahrt erinnern wollen.“
„Malle ist immer eine Reise wert!“, rief Sandro lachend von hinten.
„Du willst doch nur saufen“, warf eine andere Stimme giftig ein.
„Wohl eher ein paar Frauen klarmachen.“
Und so ging es weiter. Erik senkte erneut genervt den Kopf. Es war nun wirklich nicht schwer, sich vorzustellen, wie sich zumindest einige Herren aus seinem Kurs die Abschlussfahrt vorstellten. Definitiv keine Bilder, die Erik sehen wollte. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass Hanna am Tisch neben ihm, recht beschämt und mit deutlich roterer Gesichtsfarbe nach unten sah.
‚Meine Güte, was für ein Haufen von Idioten!‘
Das Theater, wohin sie fahren könnten, ging derweil unvermindert weiter. Für Eriks Geschmack waren sich dabei alle verflucht noch einmal viel zu schnell einig, dass es irgendwo hingehen musste, wo es warm war. Vorzugsweise mit Strand. Dass sie an dem im März vielleicht nicht sonderlich viel Freude haben würden, schien keinen von denen zu interessieren.
Trotzdem war mit dieser sehr eindeutigen Präferenz seiner Mitschüler, auch der letzte Zweifel beseitigt. Ganz sicher würde Erik nicht auf diese beschissene Fahrt begeben. Den Anblick seiner Mitschülerinnen in viel zu knappen Bikinis, wie sie versuchen die Aufmerksamkeit der umherstehenden hormongesteuerten Jungen auf sich zu lenken, brauchte er nun wirklich nicht.
‚Bergers Hintern in netten, engen Badeshorts wäre aber durchaus ein Hingucker.‘
Oh ja. Garantiert. Und Erik kurz darauf der Lacher des Abschlussjahrganges, weil sich ein Ständer in der Badehose nun einmal verflucht schlecht verstecken ließ. Nein, auf die Peinlichkeit konnte er verzichten. Selbst wenn es nach der Fahrt kaum noch Unterricht sein würde, hatte Erik nicht vor, Sandro mehr Munition als nötig zu liefern.
Außerdem würde sich doch sowieso niemand dafür interessieren, ob er mitfuhr oder nicht. Vermutlich wären sie alle froh, wenn Erik daheimblieb. Sandros Sticheleien waren zwar weniger geworden, aber selbst der hatte im Urlaub garantiert anderes zu tun, als sich mit ihm zu beschäftigen.
Verstohlen warf Erik einen kurzen Blick über seine linke Schulter. Zwei Reihen weiter hinten saß Sandro – seit ein paar Wochen saß Ines neben ihm. Vermutlich hatte sie es endlich geschafft, von dem Kerl flachgelegt zu werden. Ihre Angebote dafür waren selbst für Erik mehr als offensichtlich gewesen. Nicht schwer, sich auszumalen, was die beiden während eines Strandurlaubs – wo auch immer – treiben würden.
Je länger Erik darüber nachdachte, desto weniger verlockend klang jedoch die Vorstellung, daheimzubleiben, während sich der Rest seines Kurses amüsierte. Es war immerhin die Abschlussfahrt. Erik hatte diese ganzen Jahre durchgezogen und bisher sogar sein beschissenes letztes Schuljahr einigermaßen überstanden. Es klang irgendwie nicht fair, wenn er dieses eine, unwiederbringliche Ereignis dann einfach verpasste.
‚Sei nicht albern!‘, ermahnte Erik sich selbst. ‚Eine volle Woche schulfrei. Sofern man die Wochenenden davor und danach mitzählte, könnten sie auf satte neun Tage Urlaub verlängern.‘
Mal davon abgesehen, war so eine Fahrt garantiert nicht billig, egal wohin es am Ende gehen würde. Eriks Mutter arbeitete sowieso schon hart genug, um ihr Leben mit ihrem mageren Gehalt zu finanzieren. Und die Kohle, die Erik bei Herrn Ceylan verdiente wanderte im Moment hauptsächlich in Alexanders Kneipe. Nämlich dann, wenn er sich dort auf ein Bier mit Tom traf.
‚Scheiße nein, die Kohle schmeißt du nicht für einen beschissenen Urlaub raus, der garantiert keiner wird‘, ermahnte Erik sich erneut und starrte auf den Block vor ihm. Hoffentlich war das Thema bald erledigt, sodass sie zum normalen Unterricht zurückkehren konnten.
Stattdessen hatte sich das Gespräch um Erik herum allerdings geradezu rasendschnell verselbstständigt. An Mathe war augenscheinlich heute nicht mehr zu denken. Alle gutherzigen Versuche Herrn Darians, zum eigentlichen Unterrichtsstoff zurückzukehren, versiegten im Ansturm der zu erwartenden Abschlussfahrt. Da man Erik sowieso nicht fragte, ignorierte er die Bemerkungen und Vorschläge seiner Mitschüler. Stattdessen klammerte er sich geistig an den Vorsatz, dass er garantiert nicht mitfahren würde – und es ihm deshalb vollkommen schnurz war, wohin es ging.
Es war kurz vor Stundenende, als Herr Darian irgendwann seufzend aufgab, die Diskussion irgendwie leiten zu wollen. „Überlegen Sie sich bis nächste Woche als Kurs maximal fünf mögliche Ziele, über die wir dann noch einmal gemeinsam reden.“
Da es glücklicherweise die letzte Stunde dieses Tages war, stürmten alle anderen mit dem ersten Ton der Schulglocke bereits aus dem Raum. Erik seufzte innerlich und packte seine Sachen zurück in den Rucksack. Mathe wäre ihm heute definitiv lieber gewesen als solche Diskussionen. Wenigstens beachtete ihn um diese Zeit nach dem Unterricht niemand mehr. Alle hatten es viel zu eilig hier raus zu kommen, als dass sie daran denken würden, sich mit ihm zu beschäftigen.
„Erik“, sprach ihn plötzlich Herr Darian an. „Sie haben sich gar nicht beteiligt an der Diskussion.“
Er schwieg und zuckte lediglich mit den Schultern. Was sollte er darauf antworten? Es leugnen? Wozu?
„Was würden Sie denn vorschlagen?“, hakte Herr Darian jedoch nach.
Wieder schwieg Erik. ‚Ist doch egal, wohin sie fahren, du bist eh nicht dabei‘, versuchte er sich einzureden. Aber je öfter er sich das sagte, desto schmerzhafter zogen ihm die Worte an seinen Eingeweiden.
„Ist mir egal“, presste Erik trotzdem heraus, als Herr Darian weiterhin auf eine Antwort wartete. Er schulterte seinen Rucksack, sah aber nicht auf. „Geht mich nichts an, wohin die anderen fahren.“
„Wollen Sie nicht mitfahren?“ Erik zuckte erneut mit den Schultern. „Wenn es ums Geld geht. Es gibt ein Förderp...“
„Nein“, entgegnete Erik schnell. Was seine Mutter von Almosen hielt, wusste er nur sehr genau. Sie würde sich lieber den Rücken krummarbeiten, als von ‚Fremden‘ Geld anzunehmen. „Es reicht, wenn ich diese Idioten in der Schule sehe.“
Damit stapfte Erik davon. Hinter sich hörte er Herrn Darian nach ihm rufen, aber Erik ignorierte ihn. Der Kerl war nett und er kannte ihn schon so lange, dass es Erik oft genug absolut hirnrissig vorkam, dass man sie, seit der Oberstufe siezte. Aber ganz sicher würde er sich nicht lächerlich machen und wie ein Kleinkind petzen gehen. Es interessierte am Ende doch eh niemanden. Hatte es bisher ja auch nicht.
Wobei Erik zugeben musste, dass Sandro seinen Scheiß normalerweise nicht im Unterricht abzog. Nein, dafür waren die Pausen reserviert. Speziell die vor Bergers Stunden, denn der mischte sich nicht ein, überließ jede Form von Konfliktlösung seinen Schülern. Wobei die einzigen echten Konflikte, die es in ihrem Kurs zu geben schien, sich ja offensichtlich stets um Eriks eigene Person drehten.
‚Sei froh, wenn du diese dämliche Fahrt nicht mitmachst‘, sagte er sich erneut. Doch wieder war da dieses flaue Gefühl im Magen. Als ob ein Stein dort quer liegen und Eriks Eingeweide nach unten ziehen würde.
Immer wieder sagte er sich, dass es egal war. Dass er die neun Tage lieber für die Prüfungsvorbereitung nutzen konnte, während der Rest seines Kurses irgendwo am Stand lag und die Sonne genoss.
‚Du gehst doch eh nicht ins Wasser‘, versuchte Erik weiter mit sich zu argumentieren. ‚Also was schert es dich, wenn die am Strand rumliegen?‘
Er konnte selbst nicht sagen, was ihn daran störte. Vielleicht war es die Tatsache, dass Erik sich nach all den Jahren des Lernens diese Fahrt schließlich ebenso verdient hatte. Er hatte genauso gelernt und stand wie der Rest der Klasse nur ein paar Monate vor den Prüfungen. Hatte er sich nicht ebenso diesen geradezu traditionellen Schlusspunkt in der Schulkarriere verdient?
„Das ist nicht fair“, murmelte Erik kaum hörbar, während er sich auf den Weg nach Hause machte.
Er schüttelte den Kopf und versuchte, seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. In dem Moment piepste Eriks Handy und er zog es etwas erstaunt heraus.
Eine Nachricht von Tom leuchte ihm in der Messengerapp entgegen: 『Hast Du Lust auf Kino?』
‚Kino?‘, verwundert runzelte Erik die Stirn, dann zuckte er mit den Schultern. ‚Warum eigentlich nicht? Vielleicht würde ihn das von diesem Mist mit der Klassenfahrt ablenken.‘
『Welcher Film?』, fragte er trotzdem zunächst nach.
Bisher hatten sie sich nie die Zeit genommen, irgendwas zu schauen. Weder im Kino noch im Fernsehen. Toms Filmgeschmack war Erik vollkommen unbekannt. An irgendwelche Liebesschnulzen, wie er sie mit Dominik hatte schauen müssen, war Erik heute definitiv nicht interessiert.
『Such du aus.』
Wieder runzelte Erik die Stirn, aber die Ablenkung schien umso willkommener. Und wie er Tom kannte, würde der danach ganz sicher nicht alleine nach Hause gehen wollen. Ein kurzes Grinsen huschte über Eriks Lippen. Er öffnete den Browser und suchte das Kinoprogramm heraus. Schließlich fand er einen Film und schickte Tom Titel, Uhrzeit und Adresse als Rückfrage.
『Alles klar. Wir sehen uns im Kino!』, kam von dem sofort als Antwort zurück.
„Hm“, murrte Erik noch immer etwas verwundert, dass Tom irgendwo anders hin wollte als ins Rush-Inn oder direkt in die WG. Wirklich drüber nachdenken wollte Erik aber auch nicht. Also beschleunigte er die Schritte um endlich nach Hause zu kommen und die paar Hausaufgaben für morgen zu erledigen. Für den Abend hatte er schließlich schon etwas vor.