45 – Unwissenheit und Entschluss
Erik konnte die Schritte auf dem Gang hören. In den vergangenen Monaten hatte er da nie so bewusst darauf geachtet. War zu abgelenkt gewesen, um sie wahrzunehmen. Heute nicht. Erik war sich nicht sicher warum, das so war. Aber zum ersten Mal seit Beginn des Schuljahres war es ihm mehr als bewusst.
‚Er kommt.‘
Zusammen mit der Erkenntnis, dass es Erik auffiel, trat die Tatsache in den Vordergrund, dass sich prompt ebenso sein Herzschlag beschleunigte. Kein unschön, ängstliches Klopfen, sondern vielmehr ein durchaus freudig, erwartendes Pulsieren. Eines, das aus dem Herzen heraus, durch den Bauchraum hinab bis in eine Region wanderte, wo es nicht sein sollte. Aber eben ehrlicherweise auch nie so ganz unwillkommen gewesen war.
„Guten Morgen, Erik“, wurde er kurz darauf begrüßt.
Möglichst gelangweilt sah er von dem Buch auf, das Erik vorgab zu lesen, und grüßte ebenso freundlich zurück: „Guten Morgen, Herr Berger.“
Der stockte und Erik musste sich ein Grinsen verkneifen. Das ganze verdammte Schuljahr über hatte er versucht, eine Reaktion aus diesem Eisblock von Lehrer herauszuholen. Er hatte Berger kranke Fantasien von deutlich zu übergriffigen Momenten geschickt. Erfundene Gespräche über Sex mit ihm geführt, die nie stattgefunden hatten. Genauso wenig wie ihr Thema. Bis hin zu diesem letzten ‚Machwerk‘. Demjenigen, dass Berger verleitet hatte, Erik zu sagen, dass er ein Talent zum Schreiben hätte. Nichts davon hatte diesen Kerl erschüttern können.
Und trotzdem stockte Berger heute. Nur weil Erik seinen Namen sagte. Das leichte Flattern in seinem Magen fand das interessant bis anregend. Erik war sich weiterhin nicht sicher, was er davon halten sollte. Weder von Berger noch von dem, was der bei ihm selbst auslöste. Aber jetzt, wo es nicht mehr darum ging, diesen Kerl mit Tom zu vergleichen, wollte Erik es immer öfter herausfinden.
„Sie ... scheinen heute gute Laune zu haben, Erik.“
„Mhm“, brummte dieser zustimmend. Den Kopf hielt er gesenkt, aus dem Augenwinkel lugte er trotzdem nach vorn zu seinem Lehrer.
„Konnten Sie ihre Probleme also lösen?“
Ein Lächeln huschte über Eriks Lippen. Das klang fast wie der Versuch einer Herausforderung. Aber so einfach würde er sich nicht provozieren lassen. Dafür fühlte Erik sich heute Morgen zu gut. Zu befreit.
„Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich keine Probleme habe“, entgegnete Erik gelassener als er sich in Wirklichkeit fühlte.
„Aha.“
Berger hatte derweil seine Sachen ausgepackt und setzte sich wie üblich auf den Platz hinter dem Lehrertisch. Für einen Moment schien er zu überlegen, dann zog er ebenfalls ein Buch aus dem Rucksack. Wie schon zuvor war allerdings nicht zu erkennen, was der Kerl las. Es war jedoch unbestreitbar, dass Eriks Neugier dahingehend stetig anwuchs.
Als er sein eigenes Buch zuklappte, war das Geräusch leider weder so laut noch so durchdringend, wie Erik es sich gewünscht – womöglich auch erhofft – hatte. Dummerweise ‚klangen‘ Taschenbücher nicht sonderlich dramatisch in dieser Hinsicht. Schon gar nicht wenn sie aus der Bibliothek stammten und vermutlich bereits von zehn anderen Leuten vor einem gelesen worden waren.
Er ließ sich nichts anmerken und schielte zu Berger, der mit zusammengekniffenen Lippen offensichtlich darum kämpfte nicht zu lachen. Okay, Erik kam nicht umhin zuzugeben, dass sein Verhalten reichlich komisch anmutete. Um nicht zu sagen unbeholfen.
‚Reiß dich zusammen!‘, ermahnte Erik sich. ‚Albert, nicht Werther.‘
Richtig. Er hatte nicht vor, weiterhin der dumme, von Illusionen und Wahnsinn getriebene Träumer zu sein. Nein, es war an der Zeit erwachsen zu werden. Und damit realistisch. Ein Mann, kein dummer Junge. Jemand, der wusste, was er wollte – auch wenn Erik momentan nur eine sehr vage Vorstellung davon hatte, was genau das war. Aber das würde er schon noch herausfinden.
Also zwang Erik sich, nicht in Richtung der garantiert reichlich amüsiert dreinblickenden grünen Augen oder gar zu den deutlich zu verführerischen Lippen zu sehen. Der nette Po, von dem er das ganze Jahr fantasierte, war ja glücklicherweise, womöglich auch ‚leider‘, sowieso hinter dem Lehrertisch versteckt.
„Kommt nach Werther eigentlich noch etwas anderes dran oder quälen Sie uns mit dem Zeug bis zum letzten Unterrichtstag?“, fragte Erik mit um Festigkeit bemühter Stimme, konnte den Blick zu Berger dann jedoch wieder nicht halten und sah stattdessen auf sein eigenes Buch.
Berger schwieg allerdings beharrlich. Lange genug, dass Erik irgendwann doch wieder den Kopf hob. Auch wenn er es am Ende lediglich für ein paar Sekunden schaffte, Berger tatsächlich ins Gesicht zu sehen. Dessen Grinsen wurde gerade hastig in ein falsches Lächeln umgewandelt, das dieses nette Flattern in Eriks Bauch ein weniger angenehmes Ziehen verwandelte.
‚Der Kerl macht sich garantiert gleich wieder über dich lustig!‘, versuchte etwas in seinem Inneren aufzubegehren. Aber Erik kämpfte dagegen an.
„Ich befürchte, dass uns nach Werther nicht mehr viel gemeinsame Zeit bleiben wird“, meinte Berger mit leichtem Bedauern in der Stimme. „Vor dem Schuljahresende.“
Langsam senkte Erik den Kopf. Noch vierzehn Tage bis zu den Prüfungen. Dann wäre die Schule für ihn gelaufen. Mehr oder weniger. Denn vor den Mündlichen hatten sie ja keinen weiteren Unterricht. Der Gedanke war unangenehm. Schlimmer war die kurz darauf folgende Erkenntnis, dass das nur bedingt etwas mit den Prüfungen zu tun hatte.
„Aber es freut mich, dass Sie zumindest zum Ende des Jahres Interesse an meinem Unterricht zu entwickeln scheinen.“
‚Blödmann!‘, zuckte es durch Eriks Kopf, ebenso zog aber auch ein kurzes Grinsen an seinen Mundwinkeln.
Tatsächliches Interesse am Unterrichtsstoff hatte er schließlich nicht entwickelt. Und Berger selbst hatte Eriks Aufmerksamkeit ja schon das ganze Jahr viel zu sehr auf sich gezogen. Das konnte man nun wirklich nicht leugnen. Genauso wenig wie die Tatsache, dass es sich heute nicht einmal sonderlich merkwürdig anfühlte, wenn Erik das sich selbst gegenüber zugab.
„So uninteressant war der gar nicht“, murmelte er deshalb verhalten.
„Tatsächlich?“ Berger klang ehrlich erstaunt, sodass Erik auf- und zu dem hinüberblickte.
War dem Blödmann eigentlich wirklich nicht klar, dass es allein in diesem Kurs mindestens zwei Schüler gab, die sich nur zu gern näher mit dem Lehrkörper anstatt dem Lehrstoff beschäftigten?
Ein ehrliches Schmunzeln, dann gab Erik schulterzuckend zu: „Also auf Werther hätte ich verzichten können.“
Berger schlug ebenfalls sein Buch zu und steckte es lächelnd in den Rucksack. Im nächsten Augenblick trat Mirek ein, dicht gefolgt von Hanna und zwei weiteren Jungen aus ihrem Kurs. Etwas verwundert runzelte Erik die Stirn. Ihm waren die Schritte nicht aufgefallen.
Alle drei begrüßten Berger, der ebenso freundlich zurück grüßte. Ihr Gespräch schien damit jedoch beendet zu sein. Missmutig schielte Erik nach links zu Hanna. Auch wenn sie heute nicht allein gekommen war, fühlte er sich von ihr genervter als von den anderen.
‚Weil sie Berger ständig anschmachtet‘, tönte es hämisch in seinem Kopf.
Vorsichtig riskierte Erik einen Blick zu ihrem Lehrer. Der stand auf und ging zur Tafel, um etwas anzuschreiben. Für einen Moment fragte Erik sich, ob Hanna eigentlich wirklich die gleichen Fantasien hatte wie er. Also technisch vermutlich nicht genau dieselben. Das wäre zumindest reichlich merkwürdig. Na gut, wahrscheinlich waren Hannas Vorstellungen ohnehin eher im jugendfreien Bereich angesiedelt. Jedenfalls wenn man von dem verträumten Gesichtsausdruck ausging, mit dem sie Berger auf den Hintern starrte.
Und es war definitiv dieser hübsche, wohlgeformte Po, auf den sie sah. Ohne jeden Zweifel. Auch wenn Erik keinerlei Vorstellung hatte, was die Frau damit anfangen wollte. Er selbst hätte ja die eine oder andere Idee. Oder auch eine mehr. Ausreichend Potenzial in Romanlänge, sozusagen. Bei genauerer Überlegung, definitiv genug für eine ganze Reihe.
‚Trilogie. Mindestens.‘
Und da war schon wieder das Kribbeln, das Erik in den letzten Deutschstunden so erfolgreich hatte zurückhalten können. Anbetrachts der Tatsache, dass ihm seine übliche abendliche Ablenkung nicht mehr zur Verfügung stand, sollte Erik sich das verkneifen. Zumal es absolut lächerlich war, dass er sich ernsthaft für einen Lehrer interessieren könnte.
‚Abgesehen vom Po, dem Schritt, den Augen und ...‘
Na gut, Berger war rein körperlich ausgesprochen interessant und blöderweise offenbar auch recht charmant – wenn er wollte. Vermutlich nicht gerade der Dümmste. Hilfreich – manchmal. Okay, öfters. Nicht zu vergessen diese netten Bilder, Filme und Hörspiele, die der Kerl in Erik zum Vorschein bringen konnte. Und natürlich das Lächeln, was dieses doofe Flattern in seinen Bauch brachte. Dazu die Augen, die sich in ihn bohrten. Nämlich genau jetzt.
„Alles in Ordnung mit Ihnen, Erik?“
„Klar“, antwortete er hastig und rang sich ein Lächeln ab.
„Gut, dann beginnen wir doch mit dem Unterricht. Guten Morgen, meine Damen und Herren. Es freut mich ungemein, dass wir uns auch heute noch einmal mit dem jungen Herrn Werther befassen dürfen.“
Ein Stöhnen ging durch den Kurs.
„Wir haben uns bisher nicht mit seinem Ende beschäftigt“, fuhr Berger fort und griff zu dem dünnen Heft des Werkes auf dem Lehrertisch. „Wir beginnen, als Werther Lotte die Ballade vorträgt.“
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Zugegeben, der Anfang der Stunde war nicht gerade verheißungsvoll gewesen. Allein die Tatsache, dass sie sich weiterhin mit diesem dummen Buch beschäftigen mussten, hatte Eriks Laune beinahe zu Boden gerissen. Dabei waren andere Teile gerade auf dem Weg sich aufzurichten. Trotzdem war er jetzt, gegen Ende der Stunde, eher gelangweilt, als genervt.
Vorsichtig schielte Erik in Richtung Lehrertisch. Entgegen sonstiger Gewohnheit hatte Berger es sich auf eben diesem bequem gemacht. Wohlgemerkt tatsächlich ‚auf‘ nicht ‚an‘. Was dazu führt, dass die schlanken Beine, an den Füßen verschränkt, ein gutes Stück über dem Boden baumelten.
Der Anblick war merkwürdig. Primär ungewohnt. Allerdings wirkte der ohnehin zu milchgesichtig aussehende Mann damit ein weiteres Stück jünger. Nicht zum ersten Mal fragte Erik sich, wie alt Berger wirklich war. Siebenundzwanzig? Achtundzwanzig? Womöglich sogar älter.
‚Sicher keine dreißig‘, versuchte Erik sich einzureden. Langsam glitt sein Blick die schlanken Beine empor. Auf Tischhöhe musste Erik sich zwingen, nicht anzuhalten. Über den ersten Streifen Haut, der da irgendwann unter dem Hemd hervorblitzte, kam er nicht hinaus.
„Also ... Was glauben Sie, warum Werther sich für den Freitod entscheidet?“, fragte Berger. Er legte das kaum als Buch zu bezeichnende Heft beiseite, blieb aber weiter mit leicht schwingenden Beinen auf dem Lehrertisch sitzen.
„Lotte hat ihn schon wieder abgelehnt. Ständig macht sie ihm Hoffnung und dann weist sie ihn erneut zurück. Das kann er nicht mehr ertragen“, meinte Hanna.
„Also hat sie ihn mit ihrer durchaus berechtigten Ablehnung in den Selbstmord getrieben?“, fragte Berger kühl zurück. „Sie war immerhin verheiratet und somit nicht verfügbar.“ Erik sah stirnrunzelnd zu Hanna hinüber. Die sah überrascht aus, schüttelte aber langsam den Kopf.
„Er wollte sich doch von Anfang an umbringen“, hörte Erik von weiter hinten Christines reichlich gelangweilte Stimme. „Ohne die Abweisung hätte der Trottel einen anderen dämlichen Grund gefunden.“
Berger nickte langsam, dann sah er zu Erik. „Angenommen Werther hätte bei seinem Selbstmordversuch versagt. Was würde Lotte zu ihm sagen?“
Meinte Berger etwa ihn? Etwas irritiert sah Erik nach links und rechts aber natürlich saß da wie immer niemand. Jedenfalls keiner, der im Blickfeld seines Lehrers sitzen würde.
„Äh ... weiß nicht“, murmelte Erik etwas verunsichert. „Wäre es nicht besser, sie würde sich dann erst einmal von ihm fernhalten?“
Mit einem kurzen Lächeln sprang Berger vom Tisch und trat wie gewohnt vor den Kurs. „Dann gehen wir zunächst in eine andere Richtung.“ Stöhnen aus diversen Reihen, was ihren Lehrer zu einem kurzen Grinsen veranlasste. „Angenommen, Ihr bester Freund hätte aus Liebeskummer versucht, Selbstmord zu begehen. Erfolglos. Was würden Sie ihm sagen? Hanna?“
Die rutschte kurz auf ihrem Stuhl hin und her, dann antwortete sie vorsichtig: „Dass sein Leben trotzdem weitergeht?“
„Okay. Christine?“
„Dass er ein Idiot ist, sich wegen irgendeiner blöden Kuh, die ihn nicht will, umzubringen.“
Bergers Grinsen wurde kurzzeitig breiter, er sagte jedoch nichts weiter dazu. Stattdessen setzte er seine Befragung der Klasse fort. Einen Schüler nach dem anderen rief Berger auf, kommentierte aber keine der Antworten. Was wollte er denn hören?
Erik war sich nicht sicher, was er sagen sollte. Im Grunde würde er Christine zustimmen, aber so ganz richtig, erschien ihm das nicht. Nachdenklich senkte er den Kopf. Vielleicht wäre es hilfreich, wenn Erik einen besten Freund hätte, den er sich für diese Frage vorstellen könnte. Aber da war niemand. Nicht seit letztem Sommer. Wobei Erik inzwischen klar geworden war, dass es da auch vorher nie wirklich jemanden gegeben hatte, auf den diese Bezeichnung zutraf. Am nächsten würde im Moment wohl Tom dieser Stellung kommen.
‚Der schießt sich sicherlich nicht das Hirn raus wegen irgendeines Kerls.‘
Zögerlich sah Erik zu Berger, der vor der Klasse auf und ab ging, während er den Kurs befragte. Ganz zaghaft war da ein Flattern in seinem Bauch. Verlangte danach, dass Erik eine Antwort gab, die nicht so lapidar und abweisend wirkte, wie die der Übrigen.
„Erik?“
„Hm?“
Er brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass Berger ihn aufgerufen hatte. Hastig setzte Erik sich aufrechter hin. Eine wirkliche Antwort auf die Frage hatte er nicht gefunden. Aber auch wenn Erik weiterhin meinte, dass es idiotisch war, sich wegen einer verschmähten Liebe umzubringen, sollte man das wohl seinem besten Freund nicht direkt auf die Nase binden.
„Was würden Sie ihm sagen?“
Gedankenverloren rieb Erik sich über die Brust, dann hob er den Blick und sah zu Berger, der erwartungsvoll zu ihm zurückblickte. Diese verfluchten grünen Augen, die ihn Anfang der Woche zwar nicht aus de Freitod, aber dennoch aus einem Loch zurückgeholt hatten, in das Erik drohte abzustürzen.
Und mit einem Mal war die Antwort vollkommen klar: „Dass er mit mir über alles reden kann.“
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Gedankenverloren stapfte Erik durch den Gang zur nächsten Stunde. Noch immer konnte er in seinem Bauch das Kribbeln fühlen. Diese komischen, zerplatzenden Seifenblasen, die aufstiegen, sobald Berger ihn mit diesem Lächeln ansah, das er nicht einordnen konnte.
„Hey, Erik“, rief ihm plötzlich jemand zu.
Überrascht sah er auf. Ein Mädchen, mit dem er früher in einer Klasse gewesen war, winkte ihm aufgeregt zu. So sehr er sich bemühte, er hatte keine Ahnung, wie sie hieß. Melina? Marissa? Irgendwas in der Richtung. Sie saß zusammen mit einem weiteren Mädchen, das Erik nicht kannte an einem Tisch.
„Hast du schon deine Karten?“, fragte sie ihn breit grinsend.
„Was für Karten?“, meinte Erik verwirrt und trat auf sie zu.
„Na für den Abiball.“
Nicht wirklich schlauer runzelte er die Stirn und sah auf die zwei Mädchen mit ihrer Liste hinunter. „Braucht man dafür Karten?“
Die beiden lachten und schlagartig kam sich Erik ziemlich dämlich vor. Er hatte angenommen, dass er da einfach hingehen, was trinken und wieder abhauen könnte, um den Rest des Abends in angenehmerer Gesellschaft zu verbringen. Denn um ehrlich zu sein, reizte Erik nicht wirklich etwas daran, zu der Veranstaltung zu gehen.
„Wir müssen doch wissen, wie viele Leute wir beim Essen sind“, gab eines der Mädchen lachend zurück. „Schließlich muss das auch alles bezahlt werden. Also? Wie viele Karten, willst du kaufen?“
„Ich hab kein Geld dabei“, murmelte Erik unsicher. Sollte er ernsthaft für einen Abend bezahlen, an dem er eigentlich nicht teilnehmen wollte?
„Das kannst du uns bis nächste Woche geben. Sag einfach, wie viele Karten du brauchst.“
Im Grunde hatte er nicht wirklich Lust, überhaupt da hinzugehen. Aber irgendwie gehörte das wohl zum Abschluss dazu. Seine Mutter schien ja jedenfalls weiterhin vollauf begeistert zu sein bei dem Gedanken Erik den Anzug für den blöden Abend zu kaufen. Aber Geld ausgeben und da dann die ganze Zeit alleine rumstehen? War ja nicht so, dass Erik plante in Begleitung zu kommen.
Unsicher sah er erneut zu den beiden Frauen. „Was ... Wie läuft der Abend überhaupt ab?“
Die Zwei sahen sich kurz an und lachten dann erneut. Schon wieder kam Erik sich wie ein Vollidiot vor. Offenbar hatte jeder eine Ahnung davon, nur er nicht. In den blöden Filmen, zu denen Dominik ihn gezwungen hatte, fuhren die Leute zum Abschlussball immer mit ihren Freundinnen. Das hatte Erik ja nicht vorzuweisen – nicht einmal einen Freund. Wobei Tom garantiert eh nicht mitgekommen wäre.
Da alleine rumzustehen erschien reichlich blöd. Die Filme spielten allerdings alle in den Staaten und nicht hier. Wie zum Geier lief so ein Abend denn in Deutschland ab? Warum konnten die das nicht mal in solchen Filmen zeigen? Dann würde Erik sich hier womöglich nicht derart blamieren.
„Also im Wesentlichen ist da natürlich das Essen. Vier Gänge“, fing eines der Mädchen an aufzuzählen. „Dazwischen wird es ein paar Aufführungen geben, die das Komitee organisiert.“
„Aufführungen?“ Wie bescheuert war das denn? Wollten die da rumhüpfen und wie im Kindergarten etwas vorspielen?
„Ja, zum Beispiel eine Abschlussrede und eine Diashow über die letzten Jahre“, erklärte sie mit leuchtenden Augen.
Erik musste sich beherrschen nicht genervt zu stöhnen. Verpickelte Pubertierende brauchte er nicht sehen – schon gar nicht wenn er selbst und diverse andere darunter waren, an deren Hackfressen Erik sich nur zu gut aus dieser Zeit erinnern konnte. Glücklicherweise war er dieser Peinlichkeit recht schnell entwachsen. Andere hatten da weniger Glück gehabt. Ganz sicher kein schöner Anblick.
„Die Lehrer bereiten auch etwas vor“, fuhr sie unbeeindruckt fort.
Da wurde Erik doch hellhörig. „Die Lehrer?“
„Na klar. Alle Kursleiter sind da.“
‚Berger auch?‘ Immerhin war der Kerl, nachdem Herr Darian Vater geworden war, quasi ihr Kursleiter und der Darian Ende Juli in Elternzeit und entsprechend nicht verfügbar.
„Also? Wie viele Leute bringst du mit?“
Erwartungsvolle Blickte strahlten Erik entgegen. Aber er hatte keine Ahnung, wieso die ständig von mehreren Leuten redeten. Dass man mit einem Date kam, konnte Erik ja verstehen. Aber das wäre doch nur eine zusätzliche Person.
„Kommt man da ... mit den ... Eltern?“, stammelte Erik verlegen.
„Hast du gehört. Hoffman bringt Mami als Verabredung zum Abschlussball.“
Schlagartig schoss Erik das Blut in die Wangen und die Wut in den Bauch. Erbost fuhr er herum und setzte gerade an, etwas zu erwidern, als jemand anderes ihm bereits zuvorkam.
„Lass endlich mal den Scheiß, Sandro“, zischte Ines. „Du bist manchmal so ein Proll. Los. Wir müssen zu Chemie.“
Etwas verdattert über die unerwartete Schützenhilfe stand Erik da und sah den beiden nach. Das unangenehme Brodeln in seinem Bauch blieb jedoch. Eine Verabredung würde er bis zum Abiball sicherlich nicht vorweisen können.
„Ich nehme eine“, nuschelte Erik in Richtung der beiden Mädchen.
„Bist du sicher, dass du nur eine willst?“, fragte eine von ihnen stirnrunzelnd zurück.
Erik nickte und nahm den Zettel, den sie ihm reichte. Wen sollte er da schon mitbringen? Und da am Ende tatsächlich als einziger mit seiner Mutter an der Seite dort zu stehen würde Erik ganz sicher nicht riskieren.
„So lange Karten da sind, kannst du es dir bis nächste Woche noch anders überlegen.“
„Okay ...“
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Der letzte Unterrichtstag.
Eigentlich sollte Erik sich freuen, jubeln, ausgelassen sein. So wie der ganze Rest der Idioten aus der Abschlussstufe. Sie hatten es geschafft. Na gut, nicht wirklich. Denn die Prüfungen waren schließlich erst nächste Woche. Die Schriftlichen wohlgemerkt. Bis zu den Mündlichen war deutlich mehr Zeit.
‚Rein gar nichts hast du bisher geschafft‘, dachte Erik bei sich und starrte in den strahlend blauen Himmel hinauf.
Alles, was vorbei war, war der Unterricht. Und irgendwie schaffte Erik es nicht, sich darüber sonderlich zu freuen. Jedenfalls nicht in dem Maße, wie es der Rest seiner Mitschüler weiterhin auf dem Schulhof tat. Während Erik hier abseits auf der gemauerten Brüstung einer der Rabatten saß und alleine in den Himmel starrte.
Diese Tradition des letzten Tages war dämlich. Da hätte er heute zur Abwechslung lieber Unterricht gehabt. Seufzend schloss Erik die Augen und senkte den Kopf.
‚Was finden die nur alle an dem Blödsinn?‘
Letzter Unterrichtstag der Abschlussklasse hieß an ihrer Schule, dass im Grunde kein regulärer Unterricht möglich war. In den vergangenen Jahren hatte Erik sich auf diesen Tag gefreut. Mit den anderen hatte er auf dem Schulhof gestanden und gelacht, wenn die Abiturienten ihre Lehrer zu irgendwelchen dummen Spielen zwangen.
„Erpressung trifft es eher“, grummelte Erik verhalten.
Wie sich die Lehrer das freiwillig antun konnten, verstand er heute nicht mehr. Allerdings tat die Mehrzahl der Kursleiter es mit einem Lachen ab und gaben nach. Manche stellten sich den Aufgaben, die meisten aber taten das, was man von ihnen erhoffte und zahlten einen Beitrag, der in die Abiballkasse wanderte.
Mit einem nervigen Stich in seiner Brust erinnerte Erik sich an die heutige Deutschstunde, während der das Spektakel eingeleitet wurde. Tatsächlich hatte Berger sich nicht einmal die Mühe gemacht, den Rucksack auszupacken. Entweder diese dumme Tradition gab es nicht nur an dieser Schule, oder jemand hatte ihn vorgewarnt. Jedenfalls hatte Berger es mit einem Lächeln ertragen, als kurz nach Stundenbeginn das Abiballkomitee hereingekommen und ihn ‚festgenommen‘ hatte.
„Dämliche Idioten“, murmelte Erik, als seine Erinnerung in die deutlich jüngere Vergangenheit sprang.
Wobei es schwer zu leugnen war, dass da ein Kribbeln in Eriks Bauch aufgestiegen war, als man Berger ‚gefesselt‘ zusammen mit den übrigen Kursleitern auf den Schulhof geführt hatte.
Bisher hatte Erik nicht das Gefühl gehabt, als ob er Fesselspielen etwas abgewinnen konnte. Aber Berger in gewisser Weise ‚hilflos‘ zu sehen hatte durchaus was. Allein bei der Erinnerung begann es frohlockend in Eriks Bauch zu kribbeln. Nur um kurz darauf tiefer zu wandern, wo das Kribbeln zu einem immer deutlicheren Pulsieren wurde.
Das verging Erik allerdings rasch, als seine Gedanken zu der ‚Aufgabe‘ kamen, die man Berger vorgesetzt hatte. Genauer gesagt, hatte der arme Kerl dabei nicht einmal etwas mitzureden gehabt. Und sonderlich glücklich sah Berger auch nicht aus. Was definitiv nicht dafür sprach, dass die verdammten Weiber aus dem Abiballkomitee, das vorher mit ihm abgestimmt hatten.
„Versteigert ...“, zischte Erik. Wie waren die blöden Kühe auf diese bescheuerte Idee gekommen?
Während die übrigen Kursleiter irgendetwas tun mussten, um freizukommen – oder sich eben freikauften. Hatte Berger nur dastehen und zusehen können, während um ihn herum ein Preiskampf darum entbrannte, wer ihm einen Kuss geben durfte.
‚Du bist nur sauer, weil du nicht mitbieten konntest.‘
Ja, verdammt. Na und? Aber wie hätte das denn bitte ausgesehen?! War ja nicht so, dass Erik einen blöden Lehrer abknutschen wollte. Das hieß allerdings noch lange nicht, dass es fair war, wenn die Hälfte der weiblichen Schülerschaft sich an der Aktion beteiligen durfte, ohne dass man sie schief ansah. Während Erik dumm daneben stand und abwartete. Dabei würde es ihn brennend interessieren, wie Berger reagiert hätte.
Auf den ganzen schriftlichen Mist, den Erik ihm das Schuljahr über aufgetischt hatte, war keine wirkliche Reaktion gekommen. Jedenfalls nicht in die Richtung, wie Erik sie sich vorgestellt hatte. Heute wäre vielleicht die Gelegenheit gewesen, sich die Ohrfeige abzuholen, die Erik seit Monaten verdiente.
‚Und wenn es Berger gefallen hätte?‘
Als ob. Wobei? Ein kurzes Grinsen huschte über Eriks Lippen. Wäre auf jeden Fall interessant gewesen, es herauszufinden.
Glücklicherweise hatten weder Hanna noch eine der anderen Schnepfen den Zuschlag bekommen. Ausgerechnet ihre stellvertretende Direktorin war als Siegerin in dem Bietwettstreit hervorgegangen. Nicht mehr viel und die Summe wäre dreistellig geworden. Berger war sichtlich unwohl gewesen – und das vermutlich nicht nur, weil die Siegerin an die sechzig, verheiratet und somit hoffentlich nicht Bergers Typ war. Das Grölen war jedenfalls groß, als die ältere Dame auf ihn zugetreten war. Die blanke Angst stand Berger ins Gesicht geschrieben.
‚Ob er bei dir genauso ausgesehen hätte?‘
Wieder musste Erik grinsen. Schade, dass er das nie herausfinden würde. Zumal er keine Lust hatte, sich damit unter den Damen seines Kurses weitere Feinde zu machen. Immerhin stand ihre Abschlussfahrt noch aus. Obwohl das Schuljahr in jeder Hinsicht suboptimal gelaufen war, hatte Erik vor, wenigstens die Fahrt zu genießen. Selbst wenn es ausgerechnet ans Meer ging.
„Können Sie sich von der Schule nicht losreißen?“
Überrascht öffnete Erik die Augen und drehte den Kopf zur Seite. Da stand er. Diesen undeutbaren Ausdruck im Gesicht, der Erik das halbe Schuljahr verfolgt hatte. Vor nicht einmal einer Stunde hatte das anders ausgesehen. Da hatte dem Kerl die blanke Panik in den Augen gestanden, als ihre stellvertretende Direktorin auf ihn zugetreten war.
„Da ist Lippenstift an Ihrer Wange“, entgegnete Erik mit einem Grinsen. Das sogar breiter wurde, als Berger hastig und mit definitiv genervtem Gesichtsausdruck über seine rechte Wange rieb.
„Ihre Mitschüler sind ausgesprochen sadistisch veranlagt“, murmelte Berger. Allerdings glaubte Erik, da ein Lächeln in der Stimme seines Lehrers zu hören.
„Es war ja nicht zu übersehen, wie viele von denen gern ein Stück von Ihnen abbekommen hätten.“
Kaum waren die Worte heraus, bereute Erik sie schon. Schließlich konnte Berger nichts dafür, dass man ihn da auf dem Silbertablett ausgestellt und zum Abschuss freigegeben hatte. Sah jedenfalls nicht so aus, als wäre das freiwillig gewesen.
„Entschuldigung“, murmelte Erik verhalten.
Berger zuckte mit den Schultern, ein Lächeln brachte er aber augenscheinlich nicht zustande. „Wir verrennen uns gern in Illusionen“, antwortete Berger stattdessen verhalten. „Da sie nicht real sind, können wir am Ende wohl nur davon enttäuscht werden.“
„Ich glaube, Frau Fink war mit ihrer zufrieden.“
Da musste Berger lachen. „Hat mich ja genug gekostet.“
Überrascht zuckte Erik zurück. „Sie?“
„Ah. Verdammt“, murmelte Berger verlegen. „Sagen Sie es nicht weiter. Okay?“
Allmählich dämmerte es Erik. „Sie hat in Ihrem Auftrag geboten?“, fragte er lachend und stand auf. „Das ist echt unfair, Herr Berger. Die ganzen armen jungen Damen, die sich jetzt die Augen ausheulen, weil sie Ihren Kuss nicht bekommen haben.“
Als Berger die Hände in die Hosentaschen schob und mit den Schultern zuckte, wirkte er wieder deutlich jünger, als er sein dürfte. Nicht zum ersten Mal hätte Erik sich einreden können, dass der Kerl nur ein, zwei Jahre älter war als er selbst.
‚Erreichbar?‘
„Ich verschenke meine Küsse nicht einfach so an irgendwelche Kinder“, sagte Berger in diesem Moment mit einem verschmitzten Grinsen, das prompt das Kribbeln in Erik anfachte. Das unterhalb der Gürtellinie.
In der Hoffnung, es loszuwerden, sah er Berger entschlossen ins Gesicht. Das schien jedoch eher die gegenteilige Wirkung zu haben. Denn mit einem Mal sah Erik sich viel zu grünen und deutlich zu funkelnden Augen gegenüber, die ihn in ihren Bann zogen. Einmal mehr herauszufordern schienen – egal ob Erik sich das nur einbildete oder es real war.
„Ach nein?“, presste er heraus.
Langsam schüttelte Berger den Kopf, während er dabei die Augen fest auf Erik gerichtet schien. „Die muss man sich verdienen.“
Es war dämlich, die Frage zu stellen, und er wusste es, bevor die Worte heraus waren. Aber Erik konnte sich nicht stoppen: „Und wie?“
Ein Grinsen zog an Bergers Mundwinkeln. Plötzlich trat er zwei Schritte heran und stand damit direkt vor Erik. Nah genug, um das verfluchte Aftershave zu riechen. Um zum ersten Mal seit Langem die bescheuerten braunen Sprenkel in dem verfickten moosgrün zu bemerken, deren Farbe Erik verdammt noch mal nicht kennen wollte. Und trotzdem lag dieser Blick auf ihm. Als ob sie etwas suchen würden, zuckten Bergers Pupillen leicht nach links und rechts, verließen Eriks eigene Augen dabei jedoch nicht.
„Wollen Sie das wirklich wissen? Herr Hoffmann“, wisperte Berger, als er sich ein Stück weiter zu ihm hinüber lehnte.
Die Art, wie der Kerl seinen Namen betonte, ließ Erik einen Schauer über den Rücken laufen. Einen, der sich prompt an den Hüften entlang nach vorn bewegte und dort zu einem Ziehen führte, dem Erik unter anderen Umständen zu gern nachgegeben hätte.
Er wollte etwas sagen. Wirklich. Sollte er sogar, um sich nicht völlig lächerlich zu machen. Vor allem, um sich nicht in die Schlange der dummen Kinder einzureihen, die vorhin versucht hatten, an diesen Blödmann heranzukommen. Aber da war kein verfluchtes Wort, das es über Eriks Lippen schaffte. Nicht einmal in seinem Kopf konnte es irgendein vernünftiger Gedanke an dem verdammten weißen Rauschen vorbei schaffen. Also nickte Erik reichlich lahm.
„Dafür müssen Sie wohl ebenfalls erwachsen werden“, flüsterte Berger mit einem breiten Grinsen auf den deutlich zu verführerischen Lippen. Plötzlich trat der Blödmann zurück, wandte sich ab und ließ Erik einfach stehen. „Viel Erfolg mit Ihren Prüfungen.“
‚Scheißkerl!‘, fluchte Erik innerlich, schaffte es jedoch weiterhin nicht, das Wort laut zu artikulieren.
Stattdessen stand er ziemlich dämlich da. Mit einem in der Brust rasendem Herzen und halb steifem Schwanz starrte er dem Blödmann von Lehrer hinterher, der ihn schon wieder verhöhnt hatte.
‚Lass dir das nicht gefallen!‘, forderte es vehement in seinem Kopf.
Aber Erik schaffte es nicht, sich zu bewegen. Erst als Berger hinter dem Schulgebäude verschwunden war, beruhigte sich sein Körper allmählich.
„Was zum ...?“, murmelte Erik mit einem Kopfschütteln.
Ganz sicher war er nicht eben von seinem Lehrer herausgefordert worden. Der Kerl wusste nur genau, wie er seine Spielchen mit Erik treiben konnte. Trotzdem rumorte es in seinem Bauch weiter.
„Ich bin kein Kind.“
Zumindest wollte er keines mehr sein. Immerhin war Erik inzwischen neunzehn. Ehrlich jetzt. Wie viel älter konnte der blöde Berger schon sein? Maximal zehn Jahre. Okay, das war bei genauerer Betrachtung nicht gerade wenig.
Ein kurzer Stich in seinen Eingeweiden ließ Erik zusammenzucken. War das auch das Problem mit Tom gewesen? War Erik nicht erwachsen genug, um zu verstehen, was es brauchte, damit er jemanden fand, der eine Beziehung mit ihm wollte? Der mit ihm klarkam? Wenn ja, was würde es brauchen, um an diesen Punkt zu gelangen?
Gedankenverloren starrte Erik auf die Hausecke, hinter der Berger verschwunden war. Als ob er den Kerl wirklich küssen wollte.
‚Arroganter Blödmann.‘
Irgendwann würde er dem Mistkerl zeigen, dass er kein verdammtes Kind mehr war. Sondern erwachsen. Erik grinste. Sollten sie ihn doch alle mal kreuzweise. Sicher würde er sich weder von Berger, noch von den anderen Idioten die Abschlussfahrt versauen lassen. Und sobald er diesen Mist von Schule endgültig komplett hinter sich gelassen hatte, müsste Erik auch nicht mehr über Berger nachdenken. Oder darüber, warum er sich tatsächlich mal wieder vorgestellt hatte, wie es wäre, den Kerl zu küssen. Hier und jetzt. Ganz zu schweigen von all den anderen Dingen, die gewisse Teile von Eriks Körpers mit Berger anstellen wollten. Nein, er würde nicht darüber nachdenken. Und würde keinen verfluchten Illusionen mehr hinterherrennen.
„Albert, nicht Werther.“
Genau!
Ende Juli noch eine Woche Klassenfahrt, Zeugnisausgabe und Abiball. Danach würde Erik ein neues Leben beginnen. Jemanden finden, der ihn so akzeptierte, wie er war. Und in fünf Jahren würde dieser verfluchte letzte Hausaufsatz für Berger zur Wahrheit geworden sein. Mit einem Menschen, der zu Erik gehörte – wer auch immer das dann sein würde.
Gut möglich, dass er auf dem Weg dahin die eine oder andere Niederlage einstecken würde. Aber irgendwann würde er es hinbekommen. Wenn sogar Sandro es schaffte, konnte das nun echt nicht dermaßen schwer sein.
Langsam machte Erik sich auf den Heimweg. Es war Freitag, er hatte heute aber keinen Dienst und für die Prüfungen hatte er lange genug gelernt. Womöglich sollte er mal wieder als Gast im Rush-Inn vorbeisehen. Da gab es reichlich Kandidaten zur Auswahl. Erik grinste. Hatte Alex ihm nicht etwas Ähnliches gesagt?
„Vielleicht schon der Nächste.“