37 – Pizza und Einladung
Toms Fingernägel waren zu lang und so entkam Erik ein Zischen, als zwei Daumen mit etwas zu viel Druck über seine Brust kratzten. Aber es war nicht widerwillig, nicht abgeneigt. Im Gegenteil. Der kurze Schmerz war sogar willkommen, obwohl er selbst wie immer durch zu viel Inaktivität frustriert war.
Eriks Blick wanderte über den straffen Bauch, der sich auf und ab bewegte. Unter der Haut waren Muskeln zu sehen, die sich anspannen, nur um kurz darauf wieder lockerer zu werden. Seine Hände wanderten Toms Seiten hinab zur Hüfte, wagten einen zaghaften Versuch, den Rhythmus zu verändern. Aber der war unverrückbar. Der gleiche Takt, immer und immer wieder. Stöhnen, Keuchen und für einen Moment war er sich nicht sicher, ob es von ihm oder aus Toms Kehle kam.
‚Letztendlich egal.‘
Ja, das war es, vor allem, da Erik genau wusste, dass er nichts ändern konnte. Also schloss er die Augen, spürte, wie sich sein Atem veränderte, sich dem Rhythmus des Körpers über ihm anglich. Erik brauchte keine Bilder in seinem Kopf zum Vögeln. Also konzentrierte Erik sich nur auf diesen kräftigen Muskel, der sich so verflucht fest um ihn schloss und zumindest körperlich die Befriedigung brachte, die er von Anfang an in Tom gesucht hatte.
Doch egal, wie sehr Erik darum kämpfte, die Bilder zu verdrängen, weil er sie nicht brauchte, sie kamen trotzdem. Er verstärkte den Griff seiner Hände, zog die Hüften über ihm erneut nach unten, versuchte, den Rhythmus zu steigern, damit er wieder zu dem stetig schneller werdenden Herzschlag in Eriks Brust passte.
Erneut stemmte Tom sich dagegen, zwang Erik den eigenen Takt auf, der verflucht noch mal viel zu langsam war, um Eriks Herzfrequenz gerecht zu werden. Immer stärker wurde der Drang, weiterzugehen. Mehr als nur einmal kräftig zupacken. Tom auf den Rücken werfen, sich nehmen, was er wollte und wie er wollte. Kein geradezu vorsichtiger Griff an zwei festen Pobacken – auch wenn der wenigstens mit einem zufriedenen Stöhnen belohnt wurde.
Oder war das Erik selbst entkommen?
Egal. In seinem Kopf verwandelte sich die Stimme ohnehin, genau wie der Körper auf ihm. Die Hände, die über Eriks Brust fuhren, fühlten sich mit einem Mal nicht mehr so harsch an, sondern deutlich sanfter. Spielten mit seinen Brustwarzen, nur um kurz darauf über Eriks Bauch hinab zu fahren. Das wild pochende Herz in seiner Brust beruhigte sich mit den Bildern allmählich, sodass der langsame Rhythmus nicht mehr störend, sondern eher anregend wirkte.
Eine leise Stimme flüsterte ihm etwas ins Ohr, aber die Worte schafften es nicht durch den Nebel in Eriks Kopf. Da waren Stöhnen, mehr Worte. Das Rauschen in Eriks Ohren schien jedes Geräusch zu verändern, denn es war weiterhin nicht Tom, den er hörte.
‚Dann bist du es selbst’, redete Erik sich ein.
Das Flattern im Bauch ignorierte er, denn das wollte ihm etwas anderes sagen, einen Namen, den Erik weder hören, noch denken durfte. Das wäre niemandem fair gegenüber. Trotzdem drängte sich der Name in sein Bewusstsein. Und kaum, dass das kranke Arschloch in seinem Kopf ihn aussprach, kam Erik keuchend. Der Griff wurde fester. Die Bewegung seiner Hand schneller. Und kurz darauf kam auch Tom.
‚Wer ist hier das Arschloch?‘
Eriks Blick war glasig, als er zur Decke starrte, während Tom keuchend und stöhnend auf ihm lag. Für ein paar Minuten lagen sie nur da. Erik schloss die Augen und legte die Arme um den Körper, der ausgelaugt auf ihm lag. Für einen Moment gönnte er sich die Vorstellung, hier nicht nur dieses beschissenes Sexspielzeug zu sein, das man gegen jeden beliebigen Schwanz im Rush-Inn austauschen konnte.
Der Moment war kurz, aber immerhin war er noch da. Ein kleiner Triumph, von dem Erik nicht Recht wusste, über wen er diesen denn errungen hatte.
Er hörte einen tiefen Atemzug und dann war das Gewicht auf Erik verschwunden. Stattdessen fand sich Sekundenbruchteile später ein Handtuch auf seinem Bauch wieder, mit dem er die gröbsten Spuren erst einmal entfernen konnte.
Als Erik sich aufrichtete, und schließlich das Kondom im Mülleimer entsorgte, spürte er immer deutlicher dieses Rumoren im Magen. Leider hatte das nur bedingt etwas damit zu tun, dass sich, wie üblich nach dieser Art von Aktivität, der Hunger bei ihm einzustellen drohte.
Vorsichtig schielte er zu Tom. Der kramte bereits im Kleiderschrank nach frischen Klamotten und schlüpfte anschließend aus dem Zimmer in Richtung Bad. Unschlüssig stand Erik mitten im Raum und sah auf die Tür, durch die Tom soeben verschwunden war.
Wenn sich etwas ändern sollte, musste Erik aufhören, einfach weiter zu machen, wie bisher.
Entschlossen griff er nach der Unterhose und dem Handtuch. Denn auch wenn Tom gemeint hatte, Mario wäre nicht da, wollte er weder dem, noch Nora oder sonst wem hier mit nacktem Hinterteil im Flur begegnen. Während er bei der Dame des Hauses ja vermutlich nur mit einem dummen Spruch rechnen dürfte, war ihm Mario nach ihrer letzten Unterhaltung weiterhin reichlich suspekt.
Kaum war Erik ins Bad geschlüpft, schlich sich ein kurzes Grinsen auf seinen Lippen. Tom stand unter der Dusche und wenn ihn sein Gehör nicht völlig täuschte, dann summte der Mann gerade leise vor sich hin. Irgendwie kam ihm die Situation entfernt vertraut vor, aber Erik konnte sie nicht so recht einordnen. Also schob er den Gedanken beiseite und widmete sich der Aufgabe, die vor ihm lag.
‚Okay‘, sagte Erik sich und atmete kurz durch. ‚Mal sehen, ob da doch ein Schmusekätzchen irgendwo ist.‘
Als Erik in die Dusche schlüpfte, war es aber definitiv eine Raubkatze, die ihn etwas unwirsch anfauchte, dass er ruhig hätte warten können. So viel zu Bennys Einschätzung. Um sich nicht völlig die Blöße zu geben, klatsche er eine ausgesprochen freche Hand auf Toms Po, der ihn daraufhin überrascht ansah.
„Sonst stehst du doch auch auf Körperkontakt“, meinte Erik mit einem weiteren Grinsen, das sogar Tom ein kurzes Lächeln entlocken konnte.
Seine Hand lag weiterhin auf dieser äußerst handlichen Rundung, der Erik sich bei Bedarf gern mehr als einmal am Abend widmete. Und zu seiner Überraschung schlug Tom diese dort nicht weg. Stattdessen glitten dessen Hände über Eriks eigene Brust hinab bis zum Bauch und anschließend zur Seite, um ihre Hüften aneinander zu ziehen.
„Du bist da abgesehen vom Sex meistens eher weniger geneigt“, murmelte Tom. Da war etwas in seiner Stimme, was Erik nicht genau benennen konnte. Entsprechend unsicher war er, ob das gut oder schlecht war.
‚Klingt doch nach einem Anfang‘, sagte Erik sich und lehnte sich vor, um einen kurzen Kuss auf Toms Lippen zu hauchen. Der wirkte überrascht, setzt allerdings weiterhin nicht an, sich aus Eriks Armen zu befreien. ‚Vielleicht liegt Benny doch richtig.‘
Vorsichtig wagte Erik sich erneut vor. Als er Toms Oberlippe zwischen seine Eigenen nahm, spürte er im Gegenzug eine weiche, feuchte Berührung an der Unterlippe. Aber vielleicht bildete er sich das ja nur ein. Denn ‚feucht‘ war hier so ziemlich alles. Um nicht zu sagen nass. Das Rauschen der Dusche vermischte sich mit dem ohnehin in Eriks Ohren vorherrschenden Pulsieren. So lange, bis er sich nicht mehr sicher war, woher es tatsächlich stammte. Wieder wagte Erik sich einen Schritt weiter und versuchte, den Kuss zu vertiefen.
Doch diesmal drückten Toms Hände Eriks Oberkörper zurück. „Warte“, keuchte es kurz darauf an seinem Hals. „Lass uns lieber duschen, bevor irgendjemand von den anderen aufs Klo muss.“
Da schwang unüberhörbare Belustigung in Toms Stimme mit, auch wenn Erik sich im Augenblick nicht sicher sein konnte, ob er dafür verantwortlich war. Womöglich eher die Vorstellung, dass Nora genau in dem Moment hereinkam, wenn sie auch gerade dabei waren zu ‚kommen‘.
„Dann los“, murmelte Erik.
Er ließ Tom los und wusch sich kurz die Spuren der vorherigen Stunden herunter. Als er aus der Dusche trat und sich abtrocknete, war Tom offenbar weiterhin dabei, jede Körperritze einer gründlichen Reinigung zu unterziehen.
Mit hochgezogenen Augenbrauen und einem leichten Grinsen fragte Erik nach: „Brauchst du Hilfe für die eine oder andere Stelle.“
Toms Kopf fuhr herum und für einen Moment funkelten blaugrüne Augen ihn wütend an, bevor sie sich eines besseren besannen.
„Leck mich“, gab Tom schließlich feixend zurück.
„Gleich hier oder doch lieber in deinem Zimmer?“
Lachend schüttelte Tom den Kopf. „Hier sicher nicht, aber über den Rest können wir nach dem Film gern reden. Zuerst brauch ich allerdings eine Pause und vor allem was zu essen.“ Er deutete auf die Tür. „Schaust du mal, ob Pizza im Tiefkühler ist?“
Erik musste sich auf die Lippe beißen, um zu fragen, ob der Kerl sich eigentlich nur von Pizza und Bier ernährte. Stattdessen nickte er stumm und zog sich die Unterhose drüber. Ganz sicher würde er nicht mehr nur mit einem Handtuch bekleidet hier rumlaufen.
Die Vorsicht war allerdings unbegründet, denn entgegen früheren Erlebnissen kam Nora nicht aus ihrem Zimmer. Und so stapfte Erik in die Küche, um die Anweisung des Gastgebers auszuführen. Tatsächlich fand sich im Tiefkühler eine ganze Vorratsladung an diversen Pizzen. Ein Blick in den Kühlschrank förderte mehrere Bierflaschen zutage. Erik wollte eben nach einer greifen, als er innehielt.
„Die drei großen B“, murmelte er gedankenverloren einen Spruch, an den er sich aus seiner Kindheit zu erinnern glaubte.
„Was meinst du?“, fragte es in dem Moment aus Richtung der Tür.
Erik schloss den Kühlschrank und richtete sich wieder auf. Er zuckte lächelnd mit den Schultern und deutete auf zwei Packungen mit Pizzen, die er aus dem Tiefkühler geholt hatte.
„Für dich Schinken?“, fragte er beiläufig, wohl wissend, dass Tom immer diese Sorte wählte. Der nickte lächelnd und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank.
„Willst du keins?“
Wieder zögerte Erik, dann schüttelte er den Kopf. „Heute nicht.“
Tom schien das egal zu sein. Er schaltete lediglich den Ofen an und setzte sich mit einem Seufzen an den Küchentisch um auf das Essen zu warten. Nachdenklich sah Erik einen Moment zu ihm hinüber, dann nahm er ebenfalls platz.
Der Herd piepste, als er aufgeheizt war, was für Tom gleichzeitig, als Signal galt, die Pizzen in den Ofen zu schieben. Aus dem Augenwinkel heraus sah Erik zu ihm hinüber und überlegte, wie er das Gespräch jetzt auf das Thema lenken konnte, das er schon im Park ansprechen wollte.
Plötzlich merkte Erik, dass er mal wieder angefangen hatte, Kreise auf die Tischplatte zu malen. Hastig zog er die Hände zurück und verbarg sie stattdessen in seinem Schoß.
‚Sag es einfach‘, forderte er sich selbst auf. Doch ein weiterer unsicherer Seitenblick zu Tom hielt ihn noch immer davon ab.
Der hatte sich wieder gesetzt, den Kopf in den Nacken gelegt, sah er müde aus – und nicht gerade sonderlich an einem Gespräch interessiert. Bevor er merkte, was er tat, kratzte Erik sich verlegen am Hals. Er räusperte sich. Wenigstens das schien Toms Aufmerksamkeit auf ihn zu ziehen.
„Was ist?“
„Ich würde dich gern nächsten Samstag einladen“, meinte Erik leise, während seine Augen starr auf einen Punkt kurz unterhalb von Toms Adamsapfel fixiert war.
Erik konnte das Zucken sehen, als Tom schluckte. Die Bierflasche stand auf dem Tisch, die Pizzen waren im Ofen. Kein sonderlich positives Zeichen. Wie lange es dauerte, bis Tom sich zu einer Antwort durchrang, konnte Erik nicht sagen.
Es war in jedem Fall zu lange.
„Tut mir leid, da bin ich nicht da.“
Und definitiv nicht die Antwort, die Erik hören wollte. Er schaffte es dennoch, sich nichts ansehen zu lassen. Hoffte er zumindest. Genauso wie er darum betete, dass sich der Schmerz, den das sofort einsetzende beschissene Reißen gerade bei der Misshandlung seiner Eingeweide verursachte nicht auf seinem Gesicht zeigte.
„Sonntag?“, presste Erik heraus. Weiterhin darum bemüht, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
„Ich fahre am Freitag für zwei Wochen zu meinen Eltern“, gab Tom zurück und nahm jetzt doch einen Schluck aus der Bierflasche vor ihm. Erik bemühte sich, ihm anzurechnen, dass er wenigstens so klang, als würde es Tom leidtun. Es gelang ihm allerdings nicht. Nicht einmal ansatzweise.
Eriks Kopf hob sich ein kleines Stück. Diesmal sah er Tom direkt an. Auch wenn er sich selbst dafür hasste, hier zu sitzen und um diese dämliche Verabredung zu bitten, konnte er nicht anders: „Fahr am Sonntag. Bitte.“
Tom jedoch zuckte nur mit den Schultern: „Warum treffen wir uns nicht einfach am Donnerstag?.“
Der Schmerz in Eriks Magen war inzwischen unerträglich. Tatsächlich konnte er zum ersten Mal nicht sagen, warum er sich das hier überhaupt antat. Trotzdem hörte er kurz darauf, jemanden mit seiner Stimme antworten: „Weil Donnerstag nicht der Vierzehnte ist.“
Das Stirnrunzeln gab ihm für einen Moment neue Hoffnung, dass Tom sich an groß herausgetönte Versprechungen vor nicht einmal drei Monaten erinnern würde. So lange war es schließlich gerade her, dass sie darüber gesprochen hatten. War er diesem Mann derartig egal geworden?
‚Oder schon immer gewesen?‘
Es war jedenfalls keine Erleuchtung, die Erik in Toms Augen vorfand, als der schließlich antworte: „Hey, komm schon. Wenn es unbedingt ein Wochenende sein muss, können wir ausgehen, sobald ich wieder da bin.“
Die Leichtigkeit, mit der Tom die Einladung ausschlug, tat fast noch mehr weh, als die Tatsache an sich. Das Reißen an Eriks Eingeweiden war inzwischen so stark, dass es jeden Gedanken an Hunger vertrieben hatte.
Am liebsten wollte Erik aufspringen, sich anziehen und verschwinden. Warum hierbleiben? Um irgendeine blöde DVD anzuschauen? Für eine weitere Runde danach? Irgendwelche dämlichen Kommentare von Nora?
‚Vielleicht fühlt es sich so wenigstens nach einer Freundschaft an.‘
Der Grund, warum er nicht aufstand war dennoch ein anderer. Wenn Erik es tun würde, sah er wohl erst recht wie ein bockiges Kind aus, das sich verzog, weil sein Kumpel nicht am Samstag mit ihm spielen wollte.
Aus dem Augenwinkel sah Erik zu Tom, der seine Aufmerksamkeit inzwischen den Pizzen im Ofen schenkte und nicht ihm. Nachdem sie vor drei Monaten auf dem Weihnachtsmarkt gewesen waren, hatte Tom sogar explizit danach gefragt. Und jetzt? Hatte er es vergessen, oder wollte er bewusst weg?
‚Du könntest es ihm einfach deutlich sagen‘, zuckte es Erik durch den Kopf.
Wieder schielte er zu Tom, der in diesem Moment die Pizzen aus dem Ofen holte und zwischen ihnen auf dem Tisch abstellte. Das Lächeln wirkte echt und trotzdem fühlte es sich für Erik nicht real an. Kurz darauf verlor die Pizza anscheinend ebenfalls mit jedem Bissen an Geschmack. Bis Erik das Gefühl hatte, auf Pappe zu kauen. Womöglich sollte er es wirklich einfach sagen, direkter fragen. Vielleicht überlegte Tom es sich dann ja.
Aber im Grunde wollte Erik, dass es ausreichte, wenn er einfach darum bat, dass Tom blieb. Ohne es begründen zu müssen. Kein Bitten oder jämmerliches Betteln. Es sollte keinen Unterschied machen, was für ein Tag es war. Und offensichtlich machte es ja auch keinen. Jedenfalls nicht für Tom da drüben.
‚Einundzwanzigster Juli‘, dachte Erik bei sich, als er Tom erneut einen Seitenblick zuwarf. Er schluckte und senkte den Kopf. Denn anstatt darüber nachzudenken, was er Tom im Juli vielleicht zum Geburtstag schenken könnte, fragte er sich immer deutlicher, ob der da überhaupt hier sein würde. Vermutlich war er in den Sommerferien ja ebenso bei seinen Eltern.
Und allmählich hatte Erik keine Ahnung, wie selbst dieses bisschen, was da zwischen ihnen war, die Ferien überleben sollte. Egal, wie sehr er sich etwas anderes wünschte, es fühlte sich mehr denn je wie der Kampf gegen Windmühlen an.
Einen, den Erik zu verlieren drohte.