8 – Angst und Feigheit
Es war fünf Uhr morgens und damit eindeutig zu früh, als Eriks Handy ihn aus einem bis dahin traumlosen Schlaf riss. Zumindest nahm er an, dass dieser ohne Träume ausgekommen war, denn Erik konnte sich an nichts daraus erinnern. Im Gegensatz zu den vergangenen zwei Nächten gab es heute glücklicherweise nur einen Grund demnächst unter der Dusche zu verschwinden und der hatte weniger mit dem Zustand als mit dem Geruch von Eriks Körpers zu tun.
‚Ah verdammt, was ein Abend‘, dachte Erik bei sich und drehte den Kopf zur Seite. Prompt landete ein schwarzer Haarschopf in seinem Sichtfeld, an den sich ein nach letzter Nacht durchaus bekannter Rücken und ein ebenso vertrauterer, hübscher, fester Po anschlossen. Sofort regte sich doch etwas in Eriks Schritt, das an diesem Morgen bisher recht verschlafen gewesen war.
„Mach den Scheiß aus!“, murrte es neben Erik und riss ihn damit aus den nicht gerade jugendfreien Gedanken. Hastig rappelte er sich auf und angelte nach dem irgendwann vor dem Einschlafen auf den Boden geschmissenen Telefon. „Warum um alles in der Welt klingelt um die Zeit bei dir der Wecker, Erik?“
„Ich muss los“, erwiderte der trocken und fing an, die Klamotten vom Boden einzusammeln. „Muss schließlich noch nach Hause und meinen Kram holen.“
Jetzt scheinbar doch wach genug, um interessiert zu sein, drehte Tom sich um und zog sich die Decke über den Schritt hinauf. „Und dann? Job? Uni? Ausbildung?“
Erik zuckte mit den Schultern. „Schule.“ Ruckartig setzte Tom sich auf und starrte ihn mit großen Augen an. „Was ist?“
„Wie alt bist du?“
Diesmal war es an Erik zu grinsen. Die Verunsicherung in Toms Gesicht war amüsant. Letzte Nacht hatte der Kerl selbstsicher bis zum Ultimo gewirkt. Jedenfalls hatte Tom reichlich mit Anweisungen um sich geschmissen. Befehle der Art, wie Erik sie zumindest letzte Nacht nur zu gern ausführte. Jetzt schien Tom auf einmal einen Rückzieher zu machen. Dabei war doch inzwischen alles vorbei.
„Ist das wichtig?“, erwiderte Erik mit anhaltendem Grinsen.
„So lange die Bullen nicht demnächst vor der Tür stehen nicht.“
Erik zog sich Unterhose und Hose an und kramte zwischen den auf dem Boden verteilten Klamotten nach dem Shirt. Wo verdammt noch mal war das Ding?
„Hey, Erik!“
„Was ist?“
„Stehen demnächst die Bullen vor meiner Tür?!“
Er lachte und schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht. Alex schmeißt jeden unter achtzehn raus, sobald er ihn erwischt. Ich bin schon ein großer Junge, keine Angst, Tom.“
Erleichtert ließ der sich ins Bett zurückfallen. „Da hab ich dich so gründlich kennengelernt und nicht mal dran gedacht zu fragen, was du tagsüber treibst.“
Erik sah zum Bett hinüber und musste schon wieder grinsen. „Jedenfalls nicht das, was wir letzte Nacht getrieben haben.“
Tom lachte und kämpfte sich ebenfalls aus dem Bett. „Wenn du mir deine Nummer gibst, können wir das gern irgendwann wiederholen.“
Unsicher stockte Erik. Wollte er das? Tom war ein netter Kerl und die Nacht zu zweit war zugegeben nicht nur gut, sondern auch verdammt willkommen gewesen. Womöglich war diese Sache mit dem unverfänglichen Sex gar nicht so schlecht. Jedenfalls konnte er aktuell keine Nachteile darin sehen. Da Erik generell ein Problem damit hatte, auf fremde Menschen zuzugehen, wäre es dämlich, Toms Angebot nicht anzunehmen.
Mit einer raschen Handbewegung entsperrte Erik das Handy, rief die Kontakte auf und reichte es Tom. „Hier, trag deine Nummer ein. Wegen mir können wir das hier gern ... wiederholen.“
„Cool!“
✑
Da die Busse nicht häufig fuhren um die Zeit, schaffte Erik es erst vor hab sieben nach Hause. Für eine Dusche, frische Klamotten, einen Kaffee und ein paar Brote zum Frühstück reichte es trotzdem. Mit geübtem Blick prüfte Erik, ob alles, was er für den heutigen Tag brauchen würde, im Rucksack war, und machte sich schließlich pünktlich auf dem Weg zur Schule.
Je näher er kam, desto mieser fühlte Erik sich allerdings. Das ungute Gefühl wurde mit jedem Schritt stärker, bis es ihm förmlich den Magen zerquetschte. Kneifen wollte er dennoch nicht. Er hatte diesen Mist verbockt, er würde es überleben. Fast rechnete Erik damit, dass sie ihn schon am Tor zum Schulgelände abfangen würden.
Aber da stand niemand.
Glücklicherweise war montags der einzige Tag in der Woche, an dem Erik kein Deutsch hatte. Trotzdem kam er nicht umhin, an jeder Ecke im Schulgebäude nach seinem Deutschlehrer Ausschau zu halten. Berger war jedoch nirgendwo zu entdecken. Für eine Sekunde erlaubte Erik sich Optimismus – die vage Vorstellung, dass der Aufsatz womöglich doch die gewünschte Wirkung gehabt hatte.
Aber kaum kam der Gedanke auf, drängte Erik ihn bereits zurück. Falsche Hoffnungen hatte er sich schon zu oft gemacht. Selbst wenn es ihm gelungen sein sollte, Berger mit dem Aufsatz zu beschämen, würde es nicht reichen, damit der Angst bekam und sich irgendetwas für Erik änderte.
‚Vielleicht müssen der Schriftform erst noch Taten folgen‘, zuckte es durch seinen Kopf und er selbst kurz darauf zusammen. Scheiße! Was dachte er denn da?
Erschrocken sah Erik sich um, aber natürlich war niemand in der Lage, ihm in den Kopf zu sehen. Wie sonst auch wurde er ignoriert. So lange es nicht um Sandro und dessen Affenbande ging, interessierte sich kein Mensch für ihn. Wenigstens in dem Punkt hatten Eriks Peiniger bisher haushoch versagt, denn außerhalb des eigenen Stammkurses schien sich keine Sau dafür zu interessieren, mit wem er ins Bett stieg.
Erik grinste, als er wie automatisch an die letzte Nacht dachte. Glücklicherweise war seine Mutter nicht daheim gewesen. Die hätte vermutlich ziemlichen Terror gemacht, wenn sie wüsste, dass ihr ohnehin am Abrutschen begriffener Herr Sohn jetzt zusätzlich die Nächte mit wildfremden Studenten im Bett verbrachte. Tom hatte ihn jedoch recht erfolgreich von den zu erwartenden Folgen dieses verfluchten Aufsatzes abgelenkt.
‚Bei dem herrlich engen Hinterteil hattest du keine Hirnzellen mehr frei, um an irgendwas anderes zu denken.‘
Erik grinste in sich rein, während er das leichte Kribbeln im Schritt noch etwas weiter genoss. Oh ja, der Teil von Tom hatte für reichlich Ablenkung sorgen können. Und dabei hatte er selbst nicht mal sonderlich viel dazu beitragen müssen.
Als Erik in der ersten Stunde schließlich auf seinem Platz saß, war diese sorglose Zeit aber offensichtlich vorbei. Jedes Mal, wenn sich die Tür öffnete und ein weiterer Mitschüler den Raum betrat, zuckte Erik zusammen. Weniger aus Angst, dass Sandro und die anderen Deppen wieder einmal irgendwelchen Scheiß anstellen würden, sondern weil er förmlich darauf wartete, dass jemand kam, um ihm zum Direktor zu rufen. Als vor der dritten Stunde weiterhin keiner aufgetaucht war, fing Erik langsam an, sich zu entspannen.
‚Vielleicht wird der Tag ja doch nicht so schlecht‘, dachte Erik gerade bei sich, als er sich auf den Stuhl setzte.
Sofort schnellte er wieder hoch und fasste sich verwirrt an den Po. Lautes Lachen ertönte hinter ihm und er brauchte sich nicht einmal umsehen, um zu wissen, wer das war. Sandro und seine beiden besten Freunde, die deutlich höhere und nervige Stimme war zweifellos Ines. Die blöde Kuh wedelte schon seit zwei Wochen mit ihrem Arsch vor Sandros Nase herum, wie eine läufige Hündin. Wenn der noch nicht zugegriffen hatte, bestanden berechtigte Zweifel, dass der Affenkönig überhaupt auf Frauen stand. Letztendlich war es Erik aber egal, wen Sandro vögelte – und bei Ines erst recht.
Deutlich weniger unwichtig war der nasse Wischlappen, den jemand auf seinen Stuhl gelegt hatte. Für eine Sekunde schimpfte Erik mit sich selbst, dass er derart unaufmerksam gewesen war. Wortlos pflückte er den Lappen vom Stuhl und entsorgte ihn im Papierkorb. Wo auch immer das stinkende Ding herkam, Erik hatte sicher nicht vor, es an seinen Herkunftsort zurückzubringen.
Damit war die Ruhe des Tages auch bereits vorbei. Während Erik die ganze Zeit vergeblich darauf wartete, dass ihn jemand zum Direktor zitierte, schien Sandro förmlich zu riechen, dass Erik irgendwas beschäftigte. Glücklicherweise hatte der Arsch null Menschenkenntnis und damit keinen Plan, was dieses ‚irgendetwas‘ sein könnte.
Das Letzte, was Erik brauchte, war, dass Sandro rumlief und überall von Eriks Aufsatz erzählte. Der, in dem er Berger auf dem Lehrertisch rammelte und der das auch noch geil fand. Ganz zu schweigen davon, dass Erik die Vorstellung aus dem verfluchten Ding zusätzlich als Wichsvorlage verwendet hatte. Sofort waren die Bilder aus dem Aufsatz vor Eriks inneren Auge wieder da. Dabei hatte die Nacht mit Tom da durchaus Abhilfe geschaffen.
‚Ja, weil dessen Arsch eine eins-zu-eins Kopie von Bergers ist.‘
Erik biss sich auf die Unterlippe und ignorierte seine eigenen Gedanken. Denen konnte er zwar nicht wirklich widersprechen. Abgesehen vom Hinterteil und der Haarfarbe hatte Tom schließlich so rein gar nichts mit Arschloch Berger gemein. Weder optisch noch charakterlich. Glücklicherweise. Denn ganz sicher würde Erik keine Gewohnheit daraus machen, sich mit der Vorstellung einen Lehrer zu vögeln einen runterzuholen.
‚Abartig!‘
Ja, und vor allem weil es Berger war, der da in diesen mentalen Kurzfilmen die Hauptrolle spielte. Dann lieber Hardcore Porno mit Tom als Hauptdarsteller. Erik grinste und verließ wie immer erst nach allen anderen das Klassenzimmer am Ende ihrer letzten Stunde. Diese Nacht mit dem freizügigen Studenten hatte durchaus ihren Reiz gehabt.
Ehe Erik darüber nachgedacht hatte, zog er bereits das Handy aus der Hosentasche. Doch kaum, dass er den Bildschirm entsperrt hatte, hielt er inne. Wie sah das denn aus, wenn er sich gleich wieder bei Tom meldete? Eriks Schritte stockten. So verzweifelt oder notgeil wollte er sicherlich nicht wirken. Am Ende würde Tom noch glauben, dass er ihm hinterherlief.
‚Was garantiert nicht der Fall ist!‘
Tom schien ein netter Kerl zu sein. Aber an mehr als Sex hatte er offensichtlich kein Interesse gehabt. Erik runzelte die Stirn und drehte das Handy hin und her. Sich nur zu treffen, um im Bett zu landen, klang angenehm unkompliziert. Zumal Erik ohnehin seit jeher Probleme hatte, mit anderen Menschen klarzukommen. Heute schon wieder anzurufen, wäre bestimmt trotzdem zu früh. Also packte Erik das Handy weg und marschierte stattdessen nach Hause.
An den Schuhen im Flur konnte er erkennen, dass seine Mutter daheim war. Zu sehen war sie allerdings nirgendwo. Dafür hing am Kühlschrank ein Zettel, dass Erik darin etwas zum Essen finden würde und dass er sie wecken sollte, wenn er sonst irgendetwas brauchte.
‚Scheinbar hat bei ihr auch niemand angerufen‘, folgerte Erik erleichtert.
Um keine schlafenden Hunde zu wecken, widmete er sich deshalb zunächst dem Essen und anschließend seinen Hausaufgaben. Die erinnerten Erik allerdings erneut daran, dass er Berger am nächsten Tag würde gegenübertreten müssen.
Ablenkung in der Art, wie er sie am Vorabend bei Tom gefunden hatte, klang zunehmend verlockend. Dafür würde er aber mehr Kohle brauchen. Nach den letzten zwei Nächten waren Eriks ohnehin mageren Finanzen arg dezimiert.
Bei Herrn Ceylan half er zwar öfter im Laden aus, allerdings eher als Tagelöhner. Einen wirklichen Vertrag hatte Erik dort nicht. Trotzdem rief er kurz darauf bei Herrn Ceylan an und fragte, ob der nicht etwas für ihn zu tun hätte. Schließlich gab es ständig neue Waren, die ins Lager geschleppt werden mussten. Auch heute wurde Eriks Hoffnung nicht enttäuscht. Allerdings reichte die Arbeit gerade einmal für etwas über eine Stunde.
„Immerhin etwas“, murmelte Erik, als er später am Nachmittag wieder daheim war.
Missmutig kramte Erik alles zusammen, was er an Geld in den Taschen verborgen hatte. Sonderlich viel kam dabei nicht zustande. Prompt zweifelte er erneut daran, ob es eine so gute Idee war, sich gleich wieder ins Rush-Inn zu wagen. War ja nicht nur eine Frage des Geldes.
Mit einem Seufzen ließ Erik sich auf das Bett fallen und starrte an die Decke. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal drei Tage hintereinander ausgegangen war. Aber Toms Art der Ablenkung hatte geholfen. Und da er am folgenden Tag unweigerlich Berger würde gegenüber treten müssen, wäre ‚Ablenkung‘ gerade sehr willkommen.
‚Kriegst du das hin?‘
Erik schloss die Augen und unterdrückte das aufsteigende Stöhnen. Anonymer Sex mit Leuten, von denen er nicht einmal den Nachnamen kannte, war eigentlich so gar nicht sein Ding. Das war etwas, das Erik sich in Pornos ansah und geil fand. Aber sobald es an die Ausführung ging, war Erik schlicht der introvertierte Trottel, der das Maul nicht aufbekam.
‚Bei Tom hat es funktioniert, warum nicht bei anderen?‘
Wieder einmal zuckten ein schwarzer Haarschopf und ein wohlgeformter, kleiner Po vor Eriks inneren Auge vorbei. Doch für einen Sekundenbruchteil war er sich selbst nicht sicher, ob es Toms oder Bergers Hinterteil war.
„Der Scheiß muss aufhören!“, murmelte Erik und rappelte sich vom Bett auf.
In den Schubladen des Schreibtisches fand er noch ein paar weitere Euro. Weiterhin nicht gerade ein Vermögen, aber für ein oder zwei Bier würde es reichen. Lieber sprang Erik über seinen Schatten und versuchte sich erneut in anonymen Sex, als weiterhin dieses Arschloch Berger in seinem Kopf zu haben.
Der Typ war ein Lehrer. Das ging gar nicht. Und Berger schon dreimal nicht. So attraktiv war der Kerl jetzt auch wieder nicht. Na gut, war er durchaus, aber das würde Erik garantiert niemals öffentlich zugeben. Ganz. Sicher. Nicht!
Wütend, dass er diesen Gedanken auch nur ansatzweise zugelassen hatte, biss Erik die Zähne zusammen und ließ sich auf den Stuhl neben dem Schreibtisch fallen. Egal, wie oft er sich sagte, dass er das Arschloch von Lehrer aus dem Kopf bekommen musste, es gelang ihm nicht. Erik konnte die Frage, ob Berger seinen Aufsatz inzwischen gelesen hatte, nicht einfach ignorieren.
Hatte das dämliche Ding seine Wirkung doch noch gezeigt? Was hatte dieses Arschloch Berger gefühlt, als er Eriks ‚Illusion‘ gelesen hatte. Diese reichlich ausgeschmückte Vorstellung davon, wie er seinen Lehrer auf den Tisch geworfen und die Hand in dessen Hose geschoben hatte. Klar hatte der Mistkerl erst einmal protestiert, aber irgendwann war da zwischen dem lustvollen Keuchen und zufriedenen Stöhnen kein Protest mehr zu hören gewesen. Das war der Moment, an dem der Lehrer im Aufsatz sich plötzlich auf dem Rücken und dafür ohne Hose vorgefunden hatte.
Beine breit gespreizt, darauf wartend, dass die Finger in diesem bis vor kurzem unberührten Po endlich durch etwas Größeres ersetzt wurden. Erik konnte es vor seinem geistigen Auge sehen. Der flache Bauch, ein Brustkorb, der deutlich weniger Muskulatur zeigte, als sein eigener, sich jedoch heftig hob und senkte. Ein bebender Körper, der förmlich danach verlangte, dass er ihn sich nahm – auch wenn er das natürlich nicht offen zugeben würde.
Erik fluchte unterdrückt und versuchte, die Bilder zu verdrängen, die erneut in ihm aufsteigen wollten. Aber es fiel ihm zunehmend schwerer. Das Ziehen in den Eiern und das wachsende Pochen des Blutes in seinem Schwanz waren da auch nicht wirklich hilfreich.
‚Verdammt noch mal!‘
Er wollte wissen, wie Berger auf den verfluchten Aufsatz reagierte. Erik hatte sich vor allem darauf gefreut, dem Arsch das Gesicht entgleiten zu sehen, wenn er davon las, wie jemand an ihm herumfummelte, ihn befingerte, sich an ihm rieb, ihn kostete. Aber das war unmöglich. Der Mistkerl hatte Erik den Triumph genommen und würde ihn vermutlich am nächsten Tag in eine geradezu glorreiche Niederlage verwandeln.
„Erik?“, riss ihn plötzlich seine Mutter aus den Gedanken.
Hastig schlug er die Beine übereinander und kämpfte darum in jeder Hinsicht unschuldiger auszusehen, als er war.
„Alles in Ordnung?“, fragte sie irritiert nach.
„Klar! Was soll sein?“
„Keine Ahnung. Du bist irgendwie merkwürdig in den letzten ... Tagen.“ Vermutlich hatte sie eher ‚Wochen‘ oder ‚Monate‘ an dieser Stelle sagen wollen, verkniff es sich aber augenscheinlich.
„Alles gut“, log Erik und zwang sich ihr in die Augen zu sehen. Blau, genauso wie seine Eigenen. Neben der Tatsache, dass er auf Männer stand vermutlich das Einzige, was er von ihr hatte. Seine blonden Haare teilten sie jedenfalls nicht und auch die Gesichtszüge hatte Erik eher von seinem Vater geerbt.
„Ich treffe mich noch mit Christiane, bevor ich zum Dienst gehe. Bleib nicht so lange auf, okay? Denk an die Schule. Es ist das letzte Jahr.“
Erik nickte, lächelte und schwieg lieber.
Kurz drauf hörte er die Wohnungstür hinter ihr zuschlagen und eine halbe Stunde später, machte Erik sich mit den paar Kröten, die er hatte zusammenkratzen können auf den Weg zum Rush-Inn. Tom würde er an diesem Abend nicht anrufen, aber wenn es mit dem geklappt hatte, konnte es doch nicht so kompliziert sein, mit jemand anderem genauso zu verschwinden.
Der gute Vorsatz war, allerdings deutlich schwerer umzusetzen, als Erik gedacht hatte. Denn zwei Stunden später hing er noch immer an der Bar bei dem zweiten, inzwischen viel zu warmen, Bier und beobachtete die übrigen Gäste. Mehrmals hatte Erik versucht, auf einen von denen zuzugehen. Aber jedes Mal, wenn da einer war, der interessant genug erschien, dass Erik Interesse hätte, schaffte er es nicht, das Herzrasen zu ignorieren und sich zusammenzureißen.
‚Scheiße, warum klappt das heute nicht?‘, fragte Erik sich zum sicherlich hundertsten Mal an diesem Abend. ‚Zu Tom bist du doch auch rübergegangen.‘
Dummerweise hatte Erik das nur gemacht, weil er den Kerl für Berger gehalten und ihm eine deftige verbale Ohrfeige hatte verpassen wollen. Müde rieb Erik sich über die Stirn und ließ erneut einen Blick durch die Bar schweifen.
Sofort fielen ihm die paar Männer ins Auge, die ihn ihrerseits an diesem Abend bereits angesprochen hatten. Auch hier war Erik gnadenlos gescheitert. Der erste war schon rein optisch nicht sein Typ gewesen. Der zweite war gefühlt mindestens doppelt so alt gewesen wie Erik. Der Gedanke, dass er irgendwann so verzweifelt sein könnte, mit einem von denen ins Bett zu steigen, drehte ihm den Magen um.
Der Dritte allerdings war gar nicht übel gewesen. Okay, vielleicht ein paar Jahre zu alt – sicherlich schon an die dreißig. Aber Erik wollte mit dem Kerl schließlich nicht bis zur Rente zusammenleben, sondern lediglich ein bisschen Spaß haben. Trotzdem hatte er abgelehnt und jetzt, wo Erik den Mann mit einem anderen Kerl sprechen sah, konnte er ums Verrecken nicht sagen, warum.
Mit Tom war es okay gewesen, der Gedanke mit einem Wildfremden rumzumachen und dann nach Hause zu gehen, widerte Erik heute allerdings schlicht an. Genauso hatte es Dominik gemacht. Sich irgendeinen Mann hier geschnappt und sich auf dem Klo einen blasen lassen. Vermutlich war es oft genug nicht dabei geblieben.
Jedenfalls wollte Erik sich nicht mehr irgendwelchen Illusionen hingeben. Garantiert hatte Domi sich in ihrer gemeinsamen Zeit von anderen Wichsern vögeln lassen. Wie sonst sollte er den Spruch von wegen, Erik solle sich nicht so haben weil das ja alles so normal wäre, interpretieren?
Das unschöne Zerren in Eriks Brust hatte da nichts zu suchen und trotzdem war es da. Schon wieder. Immer noch. Und es war weiterhin reichlich scheiße. Mit finsterem Blick starrte Erik auf die weitestgehend gut gelaunten Männer um ihn herum. Wie viele von denen sahen das wirklich genauso? War es unter Kerlen denn tatsächlich so unnormal, dass man sich erst mal kennenlernte, bevor man wild in der Gegend rumvögelte? Machte es Erik zu einem verklemmten und naiven Kind, wie Dominik es ihm an den Kopf geschmissen hatte?
‚Du bist offenbar lieber ein Arschloch, das darüber fantasiert seinen Lehrer im Klassenzimmer zu ficken.‘
Erik stöhnte und hätte nur zu gern seinen Kopf auf den Tresen geschlagen. „Verdammt!“, murmelte er und knallte statt seinem Kopf das leere Glas etwas zu laut auf das Holz. Wieso musste dieser beschissene Gedanke ständig wieder hochkommen?
„Was ist los?“, fragte es von der anderen Seite der bar.
Für einen Augenblick glitt Eriks Blick über den gut gebauten Körper seines Gegenübers. Manchmal war es schade, dass die Aushilfen sich hier nicht mit den Gästen abgeben durften. Aber bei diesem speziellen Kerl war es ja, wie er inzwischen wusste sowieso sinnlos. Dieser Mann da war nicht irgendeine Aushilfe, sondern Alex höchstpersönlich. Und wie ihr kürzlich geführtes Gespräch bewiesen hatte, augenscheinlich überhaupt nicht schwul.
„Ach, ist grad alles irgendwie scheiße“, murmelte Erik vor sich hin und überlegte, ob er sich noch ein Bier leisten konnte – und wollte.
Alex lachte kaum vernehmlich. Gleichzeitig nahm er das leere Glas vom Tresen und schob es der Aushilfe hinüber, der es in das Spülbecken räumen würde. „Komm schon, Kleiner. So schlimm kann es nicht sein.“
„Hast Du ‘ne Ahnung…“
Wieder grinste Alex und schüttelte dann den Kopf. „Du bist viel zu jung, um derartig deprimiert zu sein.“
Diesmal starrte Erik ihn nur an, ohne etwas zu sagen. Er hatte keinen Bock sich zu wiederholen. Im Grunde genommen hatte er gerade auf überhaupt nichts Lust. Außer sich zu besaufen und sich mit irgendeinem Kerl abzureagieren. Vielleicht sollte er doch Tom anrufen. Den hatte Erik heute hier zwar nicht gesehen, aber das hieß ja nicht, dass dieser, nicht trotzdem Interesse an einer Runde durch die Laken hatte.
‚Nein‘, ermahnte Erik sich selbst. ‚Das wäre zu früh, zu aufdringlich und vor allem würde es viel zu notgeil aussehen.‘
Also doch irgendein anderer Mann. Konnte ja nicht so schwer sein. Aber leider war es ebendas. Nachdem Erik einige weitere Minuten auf den leeren Tresen vor sich gestarrt hatte, ohne sich zu bewegen, beschloss Erik, dass er für heute genug das zerkratzte Holz bewundert hatte und ging.
Endlich im Bett musste er sich zwingen, nicht an die Bilder aus dem Aufsatz zu denken. Immer wieder drängten sie sich in sein Bewusstsein, durchmischt mit denen von Tom, aus der letzten Nacht. Es war verwirrend und erregend zugleich. Als alles nichts half und die Bilder Eriks Geist förmlich zu überrennen schienen, gab er schließlich nach und ließ sie zu.
Nur wenige Minuten später verschwand Erik unter der Dusche, bevor er müde zurück ins Bett schlüpfte. Glücklicherweise war seine Mutter ja auf Nachtschicht und hatte deshalb weder eine Ahnung, dass ihr Junge erst gegen elf nach Hause gekommen war – noch was der alleine hier trieb. Oder an wen er dabei dachte.