35 – Rückschlag und Erfolg
Zwanzig Minuten zu früh stand Erik vor dem Haus unweit des Rush-Inns und starrte die Fassade hinauf. Bisher war er stets pünktlich zu ihren Verabredungen erschienen. Aber etwas hatte Erik heute dazu gedrängt, eher hier zu sein. Immerhin war er sich verdammt sicher, dass Tom die Zeit bevor er kam großteils mit gewissen Vorbereitungen verbrachte.
„Heute nicht“, murmelte Erik verhalten und trat auf die Tür zu.
Er klingelte und kurz darauf ertönte der Summer. Gefragt, wer er war, hatte niemand. Aber immerhin erwartete Tom ihn ja. Als er die Stufen hinauf stieg, war Erik sich nicht sicher, ob sein Vorhaben wirklich eine gute Idee war. Was, wenn Benny total daneben lag?
‚Dann hast du nichts verloren‘, belehrte Erik sich selbst und atmete tief durch, bevor er das letzte Stockwerk in Angriff nahm.
„Ah. Toms Spielzeug“, feixte Mario mit einem Grinsen und trat beiseite, um Erik einzulassen. Über die Schulter hinweg rief er etwas lauter: „Komm in die Puschen, Prinzesschen. Dein Junior ist da.“
Mit sichtbar angefressenem Gesichtsausdruck streckte Tom daraufhin den Kopf aus dem Bad und funkelte Mario wütend an. „Nenn mich noch einmal so und ich schneid dir im Schlaf die Eier ab, du Trampel!“
Das hämische Grinsen auf Marios Lippen mochte Erik nicht. Viel weniger gefiel ihm die Tatsache, dass er hier als ‚Spielzeug‘ aufgefasst wurde. Oder die Vertraulichkeit, mit der Mario und Tom ihren Schlagabtausch führten. Es war kein simpler Stich, den er im Magen spürte, eher einen ausgewachsenen Schlag – von jemandem mit Marios reichlich kräftiger Körperstatur.
„Hol Dir einfach ein Bier aus dem Kühlschrank, wenn du magst. Ich bin gleich da“, rief Tom derweil Erik zu und zog sich zunächst wieder ins Bad zurück.
‚So viel dazu, dass du dich diesmal beteiligen könntest.‘
Mario zog die Augenbraue hoch, sagte aber nichts. Erik hingegen zögerte, nachdem er in die Küche getreten war. Sie waren wieder auf dem gleichen Weg wie immer, oder? Tom war alleine im Bad, während Erik sich ein Bier nehmen sollte. Sex, nach dem sie beide üblicherweise einpennen würden. Das hier war scheiße.
„Wo waren die Gläser?“, fragte Erik zurückhaltend in Richtung Mario, der an der Tür zwischen Küche und Flur stand.
„Oben links.“
Erik öffnete den Schrank und fand in der Tat mehrere Gläser, die alle nicht zueinander zu passen schienen. In der Annahme, dass es egal war, welches er nahm, griff Erik wahllos nach einem und füllte es am Waschbecken mit Wasser.
‚Heute kein Bier‘, ermahnte er sich selbst. Vielleicht war es albern, aber es fühlte sich zumindest ein Stück weit wie eine Veränderung an. Im Mindesten wie ein Ansatz, aus diesem Kreislauf, in dem sie feststeckten auszubrechen.
Mario lehnte weiterhin am Türrahmen, als Erik sich umdrehte und ließ ihn damit stocken. Das Grinsen gefiel Erik nicht, aber es war schwer zu sagen warum. Es war nicht wirklich hinterhältig, trotzdem lag da etwas Anzügliches in Marios Blick, das Erik einen Schauer über den Rücken laufen ließ.
‚Die wissen alle hier, was du mit Tom gleich treiben wirst.‘ Er schluckte. Hatte sich aber hoffentlich weit genug unter Kontrolle, dass es nicht allzu arg auffiel.
„Kann ich mal durch?“, fragte Erik stattdessen – darum bemüht, seine Stimme möglichst fest klingen zu lassen. Er war schließlich ein Mann und kein verdammtes Kind.
Marios Grinsen wurde breiter. „Und wenn nicht?“
Was sollte das denn? Bisher hatte Erik Toms Mitbewohner Mario zwar nicht unbedingt als neuen besten Freund auserkoren gehabt, sonderlich viel zu tun hatten sie aber nie miteinander. Der Spieleabend, an dem Mario sich mit Tom gegen den Rest von ihnen verbündet hatte, war die einzige Gelegenheit gewesen, bei der Erik überhaupt wirklich mit diesem Berg von Kerl zu tun gehabt hatte.
„Wie dir klar sein dürfte, hab ich noch etwas vor. Also lass mich durch“, zischte Erik mit zusammengekniffenen Augen.
Obwohl er hoffte, dass man ihm das nicht ansah, schlug Erik das Herz in diesem Moment bis zum Hals. Zwar würde er sich selbst nie als Schwächling betrachten – und war es allein aufgrund seiner Größe und Statur ganz sicher nicht. Trotzdem fühlte Erik sich Mario gegenüber wie ein schmächtiges Kind. Der Kerl war lockere fünf Zentimeter größer als er. Und um Bennys Worte vom Vorabend zu benutzen: Mario sah durchaus so aus, als würde er seine Muskeln wenigstens ab und zu einsetzen.
Ehe Erik klar wurde, was passierte, hatte Mario den halben Schritt nach vorn gemacht und hob mit dem Zeigefinger Eriks Kinn ein Stück an. „Kannst du eigentlich auch einstecken oder teilst du nur gern aus?“
‚Wie bitte?!‘
Der entsetzte Ausdruck auf Eriks Gesicht war Mario garantiert nicht entgangen, denn der fing sofort an zu lachen. Die geradezu riesige Hand, die Erik kurz darauf gönnerhaft die Wange tätschelte, trug umso mehr dazu bei, dass er sich wieder einmal wie ein kindischer Volltrottel vorkam.
„Sag mir Bescheid, wenn du zur Abwechslung mal bei den Erwachsenen mitspielen willst, Junior.“
Bevor Erik etwas sagen konnte, wurde Mario zur Seite geschubst. „Halt dich gefälligst zurück. Ich teile nicht gern“, zischte Tom wütend.
Sofort begann etwas in Eriks Bauch zu flattern. In seinem Kopf behauptete prompt eine hartnäckige Stimme, dass die Art von Besitzansprüchen, die Tom hier gerade deklarierte genau in Eriks Sinne waren. Oder hieß das abgesehen von ihrer weiterhin stehenden Vereinbarung zu Exklusivität nichts weiter?
Marios Grinsen wurde breiter: „Du weißt genau, dass das gleiche Angebot für dich auch immer noch gilt, Tommy. Falls dir der Kurze nicht ausreicht ... meine Tür steht euch beiden jederzeit offen. Eure Entscheidung.“
Tom schnaubte, zerrte Erik hinter sich her in den Gang und anschließend in sein Zimmer. Der hatte einige Mühe, dabei nicht das Wasserglas zu verschütten, das er verkrampft in der Hand hielt. Selbiges wurde ihm allerdings prompt abgenommen, nachdem Tom lautstark die Tür hinter ihnen zugeschlagen hatte.
Das Glas fand einen Platz auf dem Schreibtisch, während Erik sich wenige Sekunden später auf dem Bett wiederfand. Mit verkniffenem Gesicht zerrte Tom ihm die Jacke von den Schultern und schob das Shirt nach oben.
„Warte doch mal!“, entgegnete Erik hastig, während er versuchte die ausgesprochen forschen Hände fortzudrücken.
„Warum?! Plaudert es sich mit Mario so super? Willst du jetzt doch lieber mit dem ins Bett steigen?“
Irritiert von der Schärfe in Toms Stimme, fuhr Erik zusammen. ‚Ist der etwa wirklich eifersüchtig?‘, zuckte es ihm durch den Kopf. Konnte das tatsächlich sein? Dabei war es doch Tom, der sich in letzter Zeit stetig rarer gemacht hatte.
„Was ist denn los mit dir?“, keuchte Erik, schaffte es aber endlich, sich aus Toms Griff zu befreien und vom Bett aufzuspringen. „Ich habe nicht einmal die Schuhe ausgezogen, Mann! Jetzt krieg dich wieder ein!“
Endlich schien Tom zu kapieren, dass er sich reichlich merkwürdig aufführte. Langsam ließ er sich aufs Bett zurückfallen und legte die Arme übers Gesicht. Tom ächzte und schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, Erik“.
Der verkniff sich das Seufzen, das ihm entkommen wollte, und setzte sich stattdessen neben Tom aufs Bett. Ebenjener bewegte sich allerdings nicht. Sagte auch nichts. Lag nur da, und schien abzuwarten, was passieren würde.
Blöderweise herrschte in Eriks Kopf zu viel Chaos, um irgendeinen klaren Gedanken fassen zu können. Deshalb streifte er sich zunächst schweigend die Schuhe von den Füßen.
‚Sag endlich etwas!‘, fauchte Erik sich selbst innerlich an, denn das Schweigen war garantiert nicht hilfreich. Im Gegenteil. Das hier war die Gelegenheit, etwas an dem Status quo zwischen ihnen zu ändern. Er musste nur endlich seinen verdammten Mund aufbekommen.
„Sag mal“, setzte Tom jedoch bereits in genau dem Moment an. „Ich wollte dich das schon länger fragen, aber ... ich hatte keine Ahnung, wie.“ Erik schluckte. Das klang nicht so, als würde ihm gefallen, was gleich kam. „Dieser Text neulich, als du in der Küche gepennt hast ...“
‚Ach du Scheiße!‘, fluchte Erik innerlich.
Es erforderte keine geistige Glanzleistung, um zu wissen, welcher Text gemeint war. Betreten ließ Erik den Kopf hängen. So viel zu der Hoffnung, dass Tom nicht dazu gekommen war etwas von der blöden Hausaufgabe zu lesen. Oder es zumindest nicht ernst genommen hatte.
„Glaubst du wirklich, dass wir in fünf Jahren so eine Beziehung haben könnten?“
Erik zuckte mit den Schultern. Mehr als einen kurzen Seitenblick wagte er nicht, denn Toms Stimme klang nicht, als ob ebender dieser Möglichkeit sonderlich viel Spielraum einräumen wollte.
Trotzdem fragte Erik seinerseits murmelnd zurück: „Ist das so schwer vorstellbar?“
Tom schnaubte lachend. „Ach komm schon, Erik. Wir haben doch jetzt auch nicht einmal ansatzweise eine.“
Es war ein komisches Gefühl. Erik konnte förmlich spüren, wie die Worte ihm ins Fleisch stachen, die Eingeweide aufschlitzten und dazu ansetzten, ihn langsam ausbluten zu lassen. Dennoch saß Erik lächelnd da, verkrampfte lediglich die Hände ineinander, als würde ihm das helfen, sich unter Kontrolle zu behalten.
Dabei war es keine Wut, die wie so oft in Erik gärte, sondern etwas ganz anderes. Schlimmer, schmerzhafter, enttäuschender. Zumal Toms vor wenigen Minuten gezeigter Eifersuchtsanfall ihm eben noch neue Hoffnung gegeben hatte.
„Was spricht dagegen, das zu ändern?“
„Ich will gerade keine Beziehung“, meinte Tom – geradezu trotzig. Seine Stimme war leise, half allerdings wenig, den Schmerz in Eriks Innerem abzumildern. „Ich dachte, wir wären uns da von Anfang an einig gewesen.“
Wie Erik es schaffte, das Lächeln aufrecht zu erhalten, wusste er selbst nicht, aber als er sich zu Tom umdrehte, kamen ihm die Worte wie von alleine aus dem Mund: „Ich ... Ey Mann, fünf Jahre sind viel Zeit. Wer weiß, wie es bis dahin aussieht?“
Tom nahm die Hände vom Gesicht und lächelte. Aber es wirkte gequält: „Ich will nicht versauern oder mir jede Nacht einen Neuen suchen, so wie Mario das macht. Was ich will ist Gesellschaft und Spaß, Erik. Aber nicht dieses Zwangskorsett einer Beziehung. Das bringt nur böses Blut und ... Ich will diesen ganzen Gefühlsmist nicht mehr. Ich dachte, du bist genauso, Erik. Wenn du ... etwas anderes erwartest, wird das hier nicht funktionieren.“
Erik biss sich auf die Lippe, wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Ein Teil von ihm war überzeugt, dass das der Moment war aufzugeben. Im Mindesten würde er sich entscheiden müssen. Von Tom trennen und jemanden suchen, der eher bereit war zu dieser ominösen Beziehung? Oder Zurück zu dem, was Erik im Vorjahr mit Tom gehabt hatte?
‚Kannst du das?‘
Für einen Moment schloss Erik die Augen. Die Worte lagen ihm förmlich auf der Zunge. Aber er konnte sie nicht aussprechen. Hatte er jemals beim ersten Problem gleich aufgegeben? Wenn Tom den Aufsatz nicht gelesen hätte, würden sie dann überhaupt hier sitzen?
„Können wir nicht einfach diesen Aufsatz vergessen? Es war doch nur eine blöde Hausaufgabe.“
Überrascht fuhr Tom hoch und plötzlich sah Erik sich weit aufgerissenen Augen gegenüber. „Was schreibt ihr denn für beschissene Hausaufgaben?“
‚Oh, verdammt!‘
„Na ja, ich ...“, stammelte Erik unsicher. „Es war ...“
Aber das Gestammel schien Tom lediglich wütender zu machen: „Hat den Schweinkram etwa der ganze Kurs gelesen?“
Erik fuhr zusammen. Wieder schlug ihm das Herz bis zum Hals. Berger hatte ihn für den Text geradezu gelobt. Keine Vorwürfe, keine Vorhaltungen. Er hatte – wieder einmal – diesen ganzen Mist, den Eriks Hirn produzierte akzeptiert. Ohne Einschränkungen.
„Nein natürlich nicht“, beeilte er sich, Tom zu versichern – gleichzeitig darum bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr dessen Worte ihn getroffen hatten. „Niemand hat es gesehen.“
Gelogen. Aber dieser Abend lief schlecht genug, da wollte Erik nicht weiteres Öl ins Feuer gießen. Zumal die Wahrheit mit beinhaltet hätte, dass es nicht Tom war, über den Erik geschrieben hatte. Der schien allerdings vorerst beruhigt zu sein. Zumindest wirkte er wieder gefasster und das verhaltene Lächeln ehrlicher.
Es erinnerte Erik aber ebenso erneut an den Vorfall in der Küche. Und dessen Ausgang passte irgendwie so gar nicht zu dem, was Tom eben darüber gesagt hatte, dass er keine Beziehung wollte.
„Was sollte dann das mit Mario?“
Anstatt eine Antwort zu bekommen, wurde Erik ruckartig herumgezerrt und fand sich kurz darauf auf Tom liegend wieder. Der grinste zufrieden, während er Eriks Kopf für einen Kuss nach unten zog.
„Hab ich doch schon gesagt“, raunte Tom. „Ich teile nicht. Also denk nicht mal dran, dem Klotz da draußen entgegenzukommen.“
Schnaubend schüttelte Erik den Kopf. „Ganz sicher nicht.“
Selbst wenn er auf Typen wie Mario stehen würde, wäre der ihm dann doch eine Spur zu selbstsicher. Trotzdem verzichtete Erik auf den Hinweis, dass das Gleiche für Tom gelten sollte.
„Die Sache ist also geklärt? Können wir somit zum eigentlichen Programm des Abends kommen?“, fragte Tom süffisant. Er ließ seine Hände über Eriks Bauch hinabgleiten und öffneten mit einem geübten Handgriff dessen Hose.
Statt zu antworten, schob Erik seinerseits Toms Shirt nach oben und küsste langsam eine Spur von der Brust über dessen Bauch hinab, am Nabel vorbei bis hinunter zum Bund der Jogginghose. Auch wenn Erik nicht in erster Linie dafür hergekommen war: Tom hatte recht deutlich gemacht, dass mehr im Augenblick nicht zu erwarten war.
‚Besser so‘, versuchte Erik sich einzureden. ‚Kriegst es ja eh nicht auf die Reihe.‘
Für einen Moment lehnte Erik die Stirn gegen Toms Bauch und atmete tief durch. Der Duft von Shampoo stieg ihm in die Nase, der gleiche saubere Geruch, der Erik hier stets erwartete. Er schluckte, um gegen den Druck anzukämpfen, der seinen Hals zusammenpresste.
Alles was sich außerhalb von ‚Fick mich‘ oder ‚Blas mir einen‘ bewegte, war in diesem Bett unerwünscht. Kein Vorspiel, aber auch keine vorgespielte Zärtlichkeit. Ein Kuss beim Frühstück? Sicher nicht. Die Schmusekatze, die Benny in Tom zu sehen glaubte, existierte nicht. Jedenfalls nicht für Erik.
„Ich will gerade keine Beziehung.“
Das war es, was Tom gesagt hatte. Hieß das, er wollte sie nur jetzt nicht, nicht mit Erik oder grundsätzlich keine? Lag es daran, dass Erik nicht überzeugend genug war? War es tatsächlich seine eigene Schuld? Oder was war es sonst, das Tom dazu brachte, die Möglichkeit einer Beziehung im Augenblick derart kategorisch abzulehnen?
„Schläfst du schon oder was?“, fragte Tom lachend, entlockte Erik damit aber nicht mehr als ein müdes Lächeln – das auch noch an Toms Bauch verborgen war.
Nein, Erik schlief nicht, für einen Moment wünschte er sich allerdings, es wäre so. Dann wäre das hier nur ein dummer Traum. Etwas, das verging, womöglich sogar geändert werden konnte.
‚Vielleicht ... mit der Zeit ...‘, versuchte Erik sich selbst einzureden. ‚Menschen ändern sich.‘
Erik ließ die Hände an Toms Seiten nach oben gleiten, warme Haut, die jedoch zumindest heute nicht die Hitze ausstrahlte, die er gewohnt war. Muskeln bewegten sich unter seinen Fingern und brachten ein weiteres kurzes Lächeln zurück auf Eriks Lippen.
‚Kitzlig wie eh und je.‘
Schon schob er eine Hand in Toms Rücken unter den Bund der Jogginghose. Mehr Muskeln, geradezu perfekt angeordnet, sodass Eriks Handfläche darüber passte. Allmählich setzte das Kribbeln im Schritt ein, steigerte sich mit jeder weiteren Bewegung, als er die Finger tiefer wandern ließ und damit ebenso die Hose über Toms Hüften nach unten schob.
Das Stöhnen, war definitiv nicht aus Eriks Kehle gekommen, entlockte ihm jedoch ein inzwischen recht zufriedenes Lächeln. Immerhin in dieser Hinsicht schien er überzeugen zu können.
Erik stockte und kniff die Augen zusammen. Mit einem Mal war da eine andere Stimme in seinem Kopf. Eine, die dort nichts zu suchen hatte. Unter normalen Umständen nicht und schon gleich gar nicht, während er mit Tom im Bett war.
Trotzdem schaffte Erik es nicht, sie auszublenden. Denn im Augenblick machte sie ihm eher Hoffnung als Sorge: „Der eine oder andere muss potenzielle Beziehungskandidaten ja vielleicht erst von sich überzeugen.“
Womöglich war an Bergers dummen Sprüchen ja doch etwas dran. Mit neuer Entschlossenheit schob Erik die Jogginghose tiefer und über Toms schlanke Beine. Langsam richtete Erik sich auf, während die Hose zu Boden fiel. Sein Blick wanderte den nackten Körper entlang, der sich absolut unverhohlen ein Stück das Bett hinauf schob.
Als Erik bei seiner Musterung schließlich Toms Gesicht erreicht, war da ein breites Grinsen und Augen, die selbst nach einem halben Jahr nicht grün genug erschienen.
Eriks Brustkorb fühlte sich an, als würde ihn jemand zusammenquetschen. Ein Bleigewicht, dass ihn gleichzeitig zerdrückte und nach unten riss. Hastig wandte Erik den Blick ab, senkte seine Augen auf unverfänglichere Regionen.
‚Andere Menschen würden einen halb steifen Schwanz verfänglicher nennen als ein paar beschissene Augen‘, verhöhnte das innere Arschloch Erik einmal mehr.
Allerdings war er zu sehr von der Hand abgelenkt, die über Toms Bauch abwärts glitt – und dummerweise nicht mit Eriks eigenen Körper verbunden war. Seine Augen folgten den filigranen Fingern. Federleicht wanderten sie über Toms Schritt, in dem es erwartungsvoll zuckte.
Der Druck auf Eriks Brust wurde zunehmend weniger – das Pulsieren in seinem eigenen Schritt dafür umso spürbarer. In seinen Ohren setzte das Rauschen ein, das hin und wieder sogar die blöde Stimme in Eriks Kopf zum Schweigen bringen konnte. Etwas, das er heute wirklich brauchen konnte.
Er leckte mit der Zunge über die Lippen, während sein Blick weiter auf Toms Körpermitte fixiert war. Ein kurzes Grinsen konnte Erik sich nicht verkneifen, als ihm durch den Kopf zuckte, dass Sandro zwar ein Vollidiot war, aber ab und zu eben doch ein wahres Wort zu finden schien.
✑
Der Februar zog vorbei, ohne dass sich der Status quo bezüglich Tom geändert hatte. Noch immer war Erik sich nicht sicher, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, an diesem Punkt keinen Schlussstrich zu setzen. Jedes Mal, wenn er es versuchte, blieben ihm die Worte förmlich im Halse stecken.
Über die Hausaufgabe redeten sie nicht mehr und dennoch hatte Erik das Gefühl, als würde sie beständig zwischen ihnen stehen. Wie eine Warntafel, wo Eriks Grenze war, die er unter keinen Umständen überschreiten sollte. Immerhin fühlte es sich an manchen Tagen allmählich an, als wären sie auf dem Weg, wenigstens Freunde zu werden.
Mit einem Gähnen, das seinesgleichen suchte, stapfte Erik die letzten Meter nach Hause. Der heutige Freitag hatte ihn über Gebühr strapaziert. Was womöglich damit zu tun hatte, dass Erik weiterhin nicht sonderlich gut schlief und gleichzeitig versuchte, den Rest seiner Zeit irgendwie zwischen Schule, Jobs und Tom aufzuteilen.
In den letzten Nächten hatte Erik besonders schlecht geschlafen. Leider hatte das nichts mit einem gewissen schwarzhaarigen Studenten zu tun, der ihn wachgehalten hatte. Der Protagonist in Eriks Träumen hatte zwar durchaus die gleiche Haarfarbe, das war es allerdings auch schon.
Seufzend rieb sich Erik über die müden Augen. Am besten, er legte sich erst einmal hin und holte Schlaf nach. Für einen Moment fragte er sich, ob Tom heute Abend für ihn Zeit finden würde. In den letzten Tagen hatte Tom sich ja trotz aller Bemühungen von Eriks Seite, wieder nur selten zu einer Verabredung verleiten lassen. Prüfungsvorbereitung. Seminararbeiten. Irgendwas war scheinbar ständig wichtiger.
Erik zuckte zusammen und schüttelte unwirsch den Kopf. Tom studierte und da er überlegte im Oktober ein eigenes Studium anzufangen, sollte Erik sich besser schon einmal dran gewöhnen, dass das ihren Zeitplan nicht einfacher gestalten würde.
„Wenn wir dann überhaupt einen haben“, murmelte Erik und zuckte zeitgleich zusammen.
Es war nicht fair, so zu denken, sagte er sich immer wieder. Immerhin hatten sie schon einmal darüber gesprochen, dass das zwischen ihnen keine Beziehung war – und auch nicht spontan keine werden würde. Trotzdem kam Erik nicht umhin, sich zu wünschen, dass es sich wenigstens etwas mehr nach einer Freundschaft anfühlen könnte als nach Sex auf Bestellung.
So oder so ging das Wintersemester zu Ende und Tom hatte entsprechend viel zu tun. Erik seinerseits verbrachte die Nachmittage ebenfalls immer häufiger über Büchern und Musteraufgaben. Nur noch ein paar Wochen bis zu den Prüfungen Mitte April.
Erik betrat sein Wohnhaus und lief zunächst nach links zu den Briefkästen. In Gedanken versunken holte er die Post heraus und stapfte anschließend zur Treppe. Kaum in der Wohnung angelangt, landeten die drei Briefe unbeachtet auf dem Küchentisch, bevor Erik den Rucksack in sein Zimmer brachte.
Das Knurren in seinem Magen erinnerte ihn daran, dass er heute bisher kaum etwas gegessen hatte. Also wieder zurück in die Küche. Der Blick in den Kühlschrank offenbarte die gleiche Leere, die Eriks Magen zusammenzog und half folglich nicht weiter. Im Tiefkühler fand sich glücklicherweise eine Packung Tortellini mit Sahnesoße, die für heute würde reichen müssen.
Mit dem Essen auf dem Herd, ließ Erik sich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen und schloss die Augen. Die Müdigkeit wollte einfach nicht verschwinden, da würde auch kein Fertigessen gegen helfen. Eine Mütze voll Schlaf klang zunehmend verlockend.
Eriks Blick fiel auf die Briefe, die er mit hochgebracht hatte. Gelangweilt schob er sie auseinander und versuchte, die Absender auszumachen, um die Werbepost auszusortieren. Die würde seine Mutter sowieso nicht interessieren.
Plötzlich stockte Erik. Seine Hand zitterte, als er einen der Briefe hochhob. Immer wieder zuckten seine Augen über den Empfänger im Fenster. Das Herz in seiner Brust schlug stetig heftiger, aber auch eine dritte Kontrolle des Adressfeldes änderte nichts an den Tatsachen.
Der war für ihn.
Vergessen waren Müdigkeit und Hunger. Erik schluckte, als er langsam eine Ecke abriss und dann den Zeigefinger in den Brief schob, um ihn aufzureißen. Erneut hielt er inne und atmete tief durch, danach ein ‚Ratsch‘ und der Umschlag war offen.
Schon konnte Erik das Blut in den Ohren rauschen hören. Das gleiche unterschwellige Pulsieren, das er als Klopfen in der Brust fühlen konnte. Langsam entfaltete er das Papier und kämpfte darum, nicht allzu viele Hoffnungen zu haben.
„Ja!“, hallte es mit einem Mal durch die leere Wohnung.
Der Stuhl, auf dem Erik eben gesessen hatte, knallte scheppernd nach hinten auf den Boden. Mit hämmernden Herzen starrte er auf den Brief. Seine Wangen fingen an zu schmerzen, so breit war das Grinsen auf Eriks Lippen.
„Ja, verdammt“, flüsterte er erneut, unfähig ein besseres Wort zu finden, das seinen übersprudelnden Gefühlen Ausdruck verleihen konnte. Ein Zischen riss ihn jedoch kurz darauf aus seinen Gedanken.
„Scheiße!“, fluchte Erik lautstark, während er den Topf von der Herdplatte zog. Vorsichtiges Umrühren zeigte, dass das Essen nicht bis zur Ungenießbarkeit verbrannt war. Also schob Erik den Topf beiseite und setzte den Deckel wieder drauf.
Daran, dass er sich tatsächlich zum Essen hinsetzen könnte, war im Augenblick allerdings nicht zu denken. Stattdessen kehrte Eriks Blick erneut zu dem Brief zurück, scannte ein weiteres Mal über die Zeilen. Fast so, als müsste Erik sichergehen, dass er da kein ‚nicht‘ übersehen hatte. Aber es änderte sich weiterhin nichts an dem kurzen Inhalt.
『Sehr geehrter Herr Hoffmann,
Vielen Dank für Ihre Bewerbung. Wir freuen uns, Ihnen zum 1.8. diesen Jahres einen Praktikumsplatz im Lokalteil unserer Zeitung anbieten zu können. Den Vertrag erhalten Sie in den nächsten Tagen in separater Post. Bitte senden Sie alle aufgeführten Unterlagen bis zum 1.4. an uns zurück.
Mit freundlichen Grüßen』
„Es hat tatsächlich geklappt“, flüsterte Erik heiser, während er weiter auf die Zeilen starrte.
Der erste August war ein Montag, das wusste er genau, denn der Abiball war für den dreißigsten am Samstag geplant, dem letzten Tag seiner Schulzeit. Das hieß, Erik würde direkt am Montag, nachdem er die Schule offiziell beendet hatte, mit seinem Praktikum anfangen. Laut der Ausschreibung, auf die er sich beworben hatte, ging es über sechs Wochen und würde damit rechtzeitig vor Beginn des Wintersemesters enden. Zumindest insofern Erik sich entschied, an der örtlichen Universität das Studium aufzunehmen. Bewerben musste er sich dort ja in jedem Fall schon vorher.
Nachdem Erik sich vor Kurzem erst dazu durchgerungen hatte, dem Journalismus als Idee zumindest eine Chance zu geben, fühlte sich dieser unerwartet rasche Triumph mit einem Mal umso heftiger an.
‚Was Berger wohl sagen wird, wenn er davon erfährt?‘
Ruckartig fuhr Erik zusammen. Scheiße, wo kam der Gedanke denn her? Sofort war sein Puls erneut auf hundertachtzig. Aber nicht vor Wut, sondern aufgrund des prompt einsetzenden Flatterns, das sich vom Bauch in die Brust ausweitete.
Egal, wie sehr er versuchte, sich einzureden, dass es anders war, Tatsache blieb, dass die erste Person, dem Erik hatte davon erzählen wollen, nicht etwa Tom oder seine Mutter gewesen war – sondern ausgerechnet sein Lehrer.
Wie in Trance hob Erik den Stuhl auf und setzte sich wieder an den Tisch. Den Brief mit der Zusage legte er vor sich. Seine Mutter würde sich vermutlich wahnsinnig freuen. Nicht nur, dass Erik die Stelle überhaupt bekommen hatte, sondern vielmehr, dass er sich endlich für einen Weg in eine mögliche berufliche Zukunft entschieden hatte. Zwar war Erik sich weiterhin nicht sicher, ob es der Richtige war, aber hatte ihm nicht erst kürzlich jemand gesagt, dass er jung genug war, um falsche Entscheidungen gegebenenfalls revidieren zu können?
‚Berger.‘
Betreten schloss Erik die Augen. Dieser Kerl spukte ihm schon wieder deutlich zu häufig im Kopf herum. Und das auch noch ohne dass es dabei darum ging, ihm möglichst schnell die Klamotten vom Leib zu zerren.
„Hör auf“, ermahnte Erik sich flüsternd, denn in die Richtung sollten seine Gedanken jetzt nicht abdriften.
‚Was Tom wohl dazu sagt?‘, fragte Erik sich stattdessen. Insgeheim hoffte er weiterhin, dass eine gemeinsame Studienzeit – wenn auch in vollkommen unterschiedlichen Fächern – sie womöglich näher zusammenbringen würde.
Bevor Erik jedoch genauer darüber nachdenken konnte, hörte er plötzlich einen Schlüssel in der Wohnungstür und kurz darauf stand seine Mutter mit einem Beutel voller Einkäufe in der Küchentür. Offensichtlich erstaunt darüber, dass er hier saß, starrte sie ihn ein paar Sekunden lediglich an, dann zuckten ihre Augen zu dem Brief, der auf dem Küchentisch lag.
„Alles in Ordnung?“, fragte sie, die Spur Besorgnis in der Stimme deutlich hörbar.
Schlagartig waren die Gedanken an Tom und Berger verschwunden und stattdessen grinste Erik sie breit an: „Bestens.“
Seine Mutter lachte, war offensichtlich erst einmal beruhigt. Sie ging zum Kühlschrank und verstaute zunächst die Einkäufe, bevor sie sich umdrehte und einen kurzen Blick in den Topf auf dem Herd warf.
„Wolltest du das doch nicht?“, fragte sie verwundert – vermutlich weil der Topf bis zum Rand gefüllt war, während Erik hier scheinbar untätig herumsaß.
„Ah, schon“, versicherte er hastig, jedoch weiterhin von einem Ohr zum anderen grinsend. Schließlich stand er auf und reichte ihr den Brief. In Eriks Bauch setzte das gewohnte Ziehen ein, da er trotz allem nicht sicher war, wie sie reagieren würde. „War etwas abgelenkt.“
Verwundert nahm sie das Papier und fing an zu lesen. Ehe Erik es sich versah, schlangen sich ihre Arme um seine Brust und er fand sich in einer festen Umarmung wieder. Für einen Moment konnte Erik gar nicht reagieren, dann hob er langsam die eigenen Arme und legten sich um ihre Schultern.
„Das klingt toll, mein Junge“, meinte sie mit einem Lachen, als sie sich wieder von Erik löste.
Die Träne, die sie sich dabei aus dem Auge wischte, irritierte allerdings, ließ seinen Magen revoltieren. Aber ihr zufriedenes Lächeln, als sie ein weiteres Mal den Brief las, gab Erik genug Sicherheit um nicht länger darüber nachzudenken.
„Es ist nur ein Schnupperpraktikum für sechs Wochen, aber dann ist es rechtzeitig zu Ende, dass ich zu Semesterbeginn fertig bin“, erklärte Erik weiter.
„Du willst studieren?“, fragte sie überrascht.
Wieder war da dieses verfluchte Ziehen im Bauch. Sie hatte doch immer gesagt, dass er Abitur machen sollte, um sich alle Möglichkeiten offen zu halten und eben vielleicht sogar zur Uni gehen zu können.
„Das ist toll, Erik!“
Verwundert sah er auf und direkt in ihre strahlenden blauen Augen. Schlagartig wurde das Ziehen zu einem Flattern, das sich mit jeder verstreichenden Sekunde in ein warmes Kribbeln verwandelte. Hastig wandte Erik den Blick ab. So hatte er sich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gefühlt. Sein eigenes Lächeln wurde breiter, als er sie trotzdem in eine Umarmung zog.
„Danke, Mama“, flüsterte Erik ihr leise ins Ohr. „Vielleicht habe ich tatsächlich endlich etwas gefunden, was mir liegt.“
Kaum hatte Erik den Gedanken ausgesprochen, brach in seinem Bauch ein Wirbelsturm aus. Diesmal jedoch einer der ganz anderen Art. Mit dem Glück über den Praktikumsplatz und der Aussicht, endlich einen Sinn in der eigenen Zukunft gefunden zu haben, kam nämlich noch eine andere Erkenntnis. Eine, die Erik sich nur schwer eingestehen konnte.
‚Ohne Berger wäre das alles nie passiert.‘