Jo hatte sich von den anderen zwei Minuten Vorsprung erbeten. Zwei Minuten, die präzise genutzt werden sollten. Zwei Minuten, die ausreichen würden, um den Plan in die Tat umzusetzen. Zwei Minuten, die genügen mussten, um den Vampir auszuschalten.
Aiden Colman betrat das Anwesen der Clakes mit gemischten Gefühlen. Während seine schweren Stiefel das bunte Herbstlaub in der Auffahrt rascheln ließen, blies ihm ein rauer Oktoberwind durch das braune Haar. Der düstere Nachthimmel war wolkenverhangen, sodass nur die wenigen Lampen am Rand der Auffahrt Licht spendeten. Aber das störte Aiden nicht im Geringsten. Durch seinen hervorragend ausgeprägten Sehsinn, konnte er jeden einzelnen Kieselstein zwischen den Blättern ausmachen. Das war einer der vielen Vorteile, die es mit sich brachte, ein Vampir zu sein.
Aiden erreichte die Treppe, die zur Haustür hinaufführte und in ebendiesem Moment geöffnet wurde. „Du bist spät dran“, kam die knappe Begrüßung von einem seiner Chefs.
„Dir auch einen schönen guten Abend, Bastian“, erwiderte Aiden genervt.
Als Antwort erhielt er nur einen missbilligenden Blick, ehe Bastian Clake beiseite trat und ihn einließ.
„Die anderen warten bereits unten“, sagte sein Boss dann und steuerte durch die imposante Empfangshalle auf eine Tür zu, die in den Keller führte.
Aiden folgte ihm seufzend. Tatsächlich hatte er sich ein wenig verspätet und es war nicht einmal seine Absicht gewesen. Als Bastian ihn vor etwas mehr als einer Stunde angerufen hatte, war Aiden gerade in seinem bevorzugten Nachtclub gewesen. Er hatte in Ruhe sein Glas geleert und sich dann auf den Weg zu seinem Boss gemacht, wo er auch pünktlich angekommen wäre, wenn ihn nicht ein vollkommen betrunkener Kerl aufgehalten hätte. Der Typ hatte Ärger gesucht und ihn in Aiden gefunden.
Mit einem Blick auf seine geschwollenen Fingerknöchel, schob Aiden die Erinnerung an den Vorfall beiseite und konzentrierte sich auf seinen Job.
Hinter Bastian betrat er den Konferenzraum, der von einem großen ovalen Tisch dominiert wurde. An Ebendiesem saß sein Kumpel und Kollege Tarun, der ihm grüßend zunickte. Neben ihm hatte Ruby platzgenommen. Die großgewachsene Vampirin, die Aidens Lieblingsclub, das Lady Shadow, betrieb, hielt die Hand ihres Mannes Taye, der den Stuhl auf ihrer anderen Seite füllte.
Aiden bedachte die beiden ebenfalls mit einem kurzen Nicken.
Nachdem er vor einigen Jahren eine sehr intensive Affäre mit Ruby gehegt hatte, hatte er die Reißleine gezogen, ehe es hatte ernster werden können. Er war froh, dass sie jetzt glücklich war, auch wenn sich eine leise Stimme in seinem Hinterkopf immer noch fragte, wieso er nicht derjenige sein konnte, der jetzt an ihrer Seite saß. Und dabei lag es noch nicht einmal daran, dass er immer noch an Ruby interessiert war. Selbstverständlich sah sie super aus. Es war nicht leicht, den Blick von ihrem gut gefüllten Dekolleté abzuwenden, das von ihrem knappen, roten Kleid überaus eindeutig betont wurde. Aber trotz ihrer Attraktivität und ihrem scharfen Verstand, war Aiden nicht eifersüchtig auf Taye. Vielmehr nagte an ihm die Eifersucht auf die Art von Beziehung, die sie führten. Sie und auch seine beiden Vorgesetzten.
„Aiden.“ Duncans Stimme riss Aiden aus den Gedanken und er musste blinzeln, ehe er sich auf seinen zweiten Boss konzentrieren konnte. Bastians Bruder sah ihn erwartungsvoll von seinem Platz am Stirnende des Tisches an und deutet dann auffordernd auf einen der freien Stühle.
Aiden kam der stummen Einladung nach und platzierte sich neben ihm.
Duncan räusperte sich: „Wie ich gerade sagte, haben wir ein paar neue Informationen zu dem Ring.“
Aiden sah den dunkelhaarigen Mann aufmerksam an. Dem Ring, wie sie die Gruppierung von kriminellen Vampiren inzwischen intern nannten, waren sie dank Taye auf die Schliche gekommen. Der Ex-Cop hatte sich während seiner beruflichen Laufbahn mit der Suche nach den Kerlen befasst und dabei seinen Partner verloren. Leider war er ziemlich erfolglos geblieben und tatsächlich hatte er zu dem damaligen Zeitpunkt kaum eine Chance gehabt, die Typen des Rings zu überführen. Schließlich waren sie vermutlich allesamt Vampire und von deren Art hatte Taye damals noch verdammt wenig Ahnung gehabt. Nach seiner Vereinigung mit Ruby hatte er sich Aiden und seinen Leuten angeschlossen, die quasi das vampirische Pendant zu der menschlichen Polizei darstellten.
„Wir haben herausgefunden, dass der Ring auch in New York und Los Angeles tätig ist. Eine Gruppe von Jägern aus New York ist an dem Fall dran und wir haben beschlossen, sie zu unterstützen“, fuhr Duncan fort.
Bastian, der noch immer an der Tür stand, nickte grimmig. „Wir müssen sie überführen und ausschalten.“
„Worauf du einen lassen kannst“, murmelte Taye zustimmend und ballte die Hand auf der Tischplatte zur Faust. Aiden konnte ihm nur zustimmen. Auch ihm war es ein persönliches Anliegen, die Vampire zu schnappen, die ihr Geld damit machten, Menschen wie Vieh als wandelnde Blutspender zu verkaufen. Es widersprach nicht nur ihren Gesetzen, Menschen auf diese Weise zu benutzen, sondern auch Aidens persönlicher Moralvorstellung. Seit es Blutbanken gab, ernährten sich die Vampire über Blutbeutel. Und das war definitiv die zivilisiertere Methode.
Duncan schlug eine Mappe auf, die vor ihm auf dem Tisch lag. Er sah einige Papiere durch, ehe er die Stirn runzelte und sich an Bastian wandte. „Ich habe Tayes Notizen im Büro vergessen, würdest du…“
Ehe er ausgesprochen hatte, hatte sein Bruder die Tür bereits geöffnet. „Ich hole sie“, erklärte er und verließ den Raum.
Nachdem Duncan ihm ein „Danke“ hinterhergerufen hatte, wandte er sich wieder an Aiden und die anderen: „Der Trupp aus New York besteht aus vier Vampiren. Der Plan ist, dass wir ihn mit zwei von unseren Leuten aufstocken.“ Er sah von Tarun zu Aiden: „Das wird euer Job sein.“
Tarun machte ein zustimmendes Geräusch und Aiden nickte. Bereits jetzt begann sein Körper vor Aufregung zu kribbeln, denn er hatte lange keinen großen Auftrag mehr bekommen. Nicht seit er aus Großbritannien zurückgekommen war.
„Was ist mit mir?“, verlangte Taye zu wissen. „Ich werde nicht tatenlos rumsitzen und Däumchen drehen. Dieser Fall…“
Duncan brachte ihn zum Schweigen, indem er die Hand beschwichtigend hob. „Niemand verlangt das von dir“, erklärte er ruhig. „Wir alle wissen, dass du bestens mit dem Fall vertraut bist. Aus diesem Grund, haben Bastian und ich entschieden, dass du das Kommando dieser Operation übernehmen wirst.“
Taye klappte die Kinnlade herunter und Aiden musste sich ein Grinsen verkneifen. Es war offensichtlich, dass Rubys Mann nicht damit gerechnet hatte, diese Position zugeteilt zu bekommen.
„Wir wollen, dass du die anderen koordinierst, ihre Schritte genauestens überwachst und die endgültigen Entscheidungen triffst. Du übernimmst die Verantwortung für das Gelingen dieses Falls und wir übertragen dir die Sicherheit des Teams“, fuhr Duncan fort und sah Taye eindringlich an.
Langsam nickte der. „Ich…also… Danke.“
Bastian, der lautlos zurückgekehrt war, schnaubte. „Du solltest uns nicht danken. Wenn etwas schief geht, machen wir dich dafür verantwortlich.“ Seine Augen verengten sich, während sie Taye eindringlich musterten. „Und zwar nur dich.“
Tayes Miene wurde ernst und er nickte erneut, als er seine Aufgabe stumm annahm.
„Ich bin nicht sicher, ob mir das gefällt“, murmelte Ruby und seufzte.
Taye drückte ihre Hand und öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, als der Alarm losging.
Das Signal, dass in einer Frequenz erklang, die nur für das vampirische Gehör, wahrnehmbar war, ließ sie alle zusammenzucken. Jemand hatte unbefugter Weise das Gelände betreten und auch wenn ein übernatürlicher Zirkel das Anwesen davor schützte, dass sich irgendjemand einfach herein teleportierte, konnte der Eindringling jetzt überall sein.
Augenblicklich sprang Aiden auf und zog seine Waffe. Noch während er die Neunmillimeter entsicherte, bemerkte er, dass Tarun und Taye auf dieselbe Weise reagiert hatten.
Während Taye Ruby beschützend an sich zog und Bastian fluchte, fiel Aiden auf, dass Duncan der einzige war, der sonderbar ruhig auf seinem Stuhl sitzen geblieben war.
Noch ehe Aiden allerdings Zeit hatte, weiter darüber nachzudenken, brach die Hölle los.
Eine vollkommen in schwarz gekleidete Gestalt erschien direkt hinter Bastian und stürzte sich ohne zu zögern auf ihn.
Mit einem Satz sprang der Angreifer auf dessen Rücken, schlang ihm die Arme um den Hals und begann ihn zu würgen. Obwohl er deutlich kleiner als Bastian war, gelang es ihm, ihn so festzuhalten und ihm zeitgleich sein Knie in den Rücken zu rammen.
Bastians Finger umschlangen die Arme des Angreifers und versuchten sie loszureißen, doch der andere Kerl schien trotz seiner schmalen Statur verdammt kräftig zu sein.
Aiden richtete den Lauf seiner Waffe auf die beiden Kämpfenden. „Ich hab kein freies Schussfeld“, rief er Tarun zu.
„Dito“, knurrte sein Freund und zeitgleich senkten die beiden ihre Waffen, um Bastian zu Hilfe zu eilen.