Jo lag wenig später frisch geduscht, völlig erschöpft, aber hellwach im Bett in einem der Gästezimmer. Noch immer kreisten ihre Gedanken um all die Dinge, die sie in den letzten Stunden erlebt und erfahren hatte. Cams Fähigkeiten waren erstaunlich und Jo hatte zwar schon von der Legende der Nachtwandlerin gehört, aber nie wirklich daran geglaubt, dass eine solche existierte. Es war seltsam, zu wissen, dass sie quasi Tür an Tür mit einer Frau schlief, die jederzeit in ihren Erinnerungen rumpfuschen konnte.
Gleichzeitig wusste Jo allerdings, dass Cam sich niemals an ihrem Geist zu schaffen machen würde. So gut hatte sie die Frau inzwischen kennengelernt.
Seufzend wälzte Jo sich auf die andere Seite und starrte an die Wand.
Als Bastian vorhin zu ihnen in die Küche getreten war, hatte Jo gehofft, dass er gute Neuigkeiten überbringen würde, aber leider war dem nicht so gewesen. Dr. Luger hatte zwar alle Wunden versorgt, aber dennoch hatte sich an dem Zustand der jungen Frau nichts geändert. Nach wie vor was sie bewusstlos und niemand konnte sagen, ob sie die Misshandlungen schlussendlich überleben würde.
Peroy war ihr nach wie vor nicht von der Seite gewichen und er war es auch, der sie schließlich in eines der Gästezimmer getragen hatte. Dort hatte er sich umgehend freiwillig gemeldet, um bei ihr zu bleiben und von Zeit zu Zeit die leeren Blutkonserven gegen neue auszutauschen.
Jo kniff die Augen fest zusammen, während sie an das grimmige Gesicht ihres Freundes dachte. Sie ahnte, dass er sich für sie verantwortlich fühlte, und hoffte auch um seinetwillen, dass sie bald wieder aufwachen würde.
Mit einem genervten Stöhnen warf Jo schließlich die Decke zurück. Es hatte keinen Zweck. So erschöpft, wie ihr Körper sich auch fühlen mochte, so war ihr Kopf einfach noch nicht bereit zu schlafen. Die Gedanken wirbelten nur so umher und immer wieder musste sie an das Erlebte denken. Zu all den grausamen Bildern der vergangenen Stunden, mischten sich zudem die Erinnerungen an den gestrigen Tag, den sie mit Aiden in dem Hotelzimmer verbracht hatte. Es kam ihr vor, als sei all das in einem völlig anderen Leben geschehen und läge nicht erst wenige Stunden zurück. Aber tatsächlich waren sie zu dem Zeitpunkt ja auch im wahrsten Sinne andere Menschen gewesen. Ihre Zeit als Mr. und Mrs. Frost war jetzt jedoch beendet und auch wenn Jo sich nur allzu gern in diesem Moment nach nebenan geschlichen hätte, so wusste sie doch, dass das ein Fehler wäre.
Grimmig starrte sie die Tür an und tadelte sich in Gedanken selbst. Genau das war es, was sie hatte verhindern wollen. Es wurde kompliziert.
Eine Weile rang sie noch mit sich, dann stand sie schließlich auf, schlüpfte in Trainingshose und T-Shirt und verließ auf leisen Sohlen das Zimmer. Sie hoffte, dass ihr etwas frische Luft helfen würde, den Kopf freizubekommen.
Als sie jedoch in den dunklen Flur trat, bemerkte sie den schwachen Lichtschein, der aus der angelehnten Tür drang, in der die junge Frau untergebracht worden war, die sie gerettet hatten.
Vorsichtig schlich Jo zu dem Zimmer und warf einen Blick hinein.
Es überraschte sie nicht, Peroy zu entdecken, der neben dem Bett auf einem Stuhl hockte. Was Jo allerdings sehr wohl verwunderte, war die Tatsache, dass er einen feuchten Waschlappen in der Hand hielt und damit behutsam das Gesicht der blonden Frau reinigte. Jo schluckte, während sie einen Moment zusah, wie Peroy vorsichtig eine ihrer Haarsträhnen beiseiteschob. Die Geste wirkte so intim, dass Jo sich augenblicklich wie ein Eindringling fühlte. Gerade wollte sie sich deshalb abwenden, als Peroy sagte: „Du kannst ruhig reinkommen, Jo.“
Ertappt zuckte sie zusammen, schob die Tür aber trotzdem weiter auf. „Ich wollte nicht stören“, entschuldigte sie sich. „Aber ich konnte nicht schlafen und habe das Licht gesehen.“
Peroy zuckte nur mit den Schultern, ohne sich die Mühe zu machen, sich nach ihr umzudrehen.
Stattdessen legte er den Waschlappen zurück in die Schüssel, die auf dem kleinen Nachttischchen stand. Als er im Anschluss immer noch nichts sagte, fragte Jo: „Wie geht es ihr?“
Peroys Blick ruhte auf der schlafenden Frau: „Der Arzt sagt, sie ist auf einem guten Weg, aber wir müssen warten, bis sie aufwacht.“
Jo nickte. „Ich frage mich, wie lange sie schon bewusstlos ist. Sie muss Schreckliches durchgemacht haben.“ Beim Gedanken daran bekam Jo eine Gänsehaut.
„Sie war wach, als ich sie gefunden habe.“ Peroys Stimme war so leise, dass Jo kurz glaubte, sie habe sich verhört. Mit großen Augen sah sie ihren Freund an, denn sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie in ihrem erbärmlichen Zustand, hatte bei Bewusstsein gewesen sein können. „Das kann nicht sein“, sprach sie ihren Gedanken aus.
„Sie hat mich erkannt.“ Peroys Hand ballte sich zur Faust und sie sah, wie sich die Muskeln in seinem Rücken anspannten.
„Wie...?“, fragte Jo, die nicht sicher war, was Peroy meinte.
„Als ich sie gefunden habe, hatte sie keine Angst“, erklärte er, ohne darauf zu warten, dass sie ihre Frage ausformulierte. „Sie hat erkannt, was ich bin und mir ihren Hals dargeboten.“
Jo schnappte erschrocken nach Luft.
„Sie hatte nicht einmal Angst“, fügte Peroy hinzu und obwohl seine Stimme nach wie vor völlig emotionslos klang, so wusste Jo doch, dass ihr Freund wohl mindestens genauso erschüttert war, wie sie selbst. Was diese Frau durchgemacht haben musste, war nicht in Worte zu fassen.
Jo legte die Hand auf Peroys Schulter, um ihm zu symbolisieren, dass sie verstand. Und kurz, ließ er diese Geste zu. Dann jedoch räusperte er sich und sah sie zum ersten Mal an, seit sie den Raum betreten hatte. „Würdest du mir helfen, sie zu waschen?“, fragte er dann.
Überrascht nickte Jo. „Natürlich.“