Aiden betrat mit Vellris die kleine Küche als Cam gerade dampfenden Tee ausschenkte.
„Hallo“, grüßte Aiden knapp und sie nickte ihm zu.
„Möchtet ihr auch einen Tee?“, fragte sie und sowohl Aiden als auch Vellris nahmen dankend an.
„Duncan ist oben bei den beiden Männern und wartet darauf, dass sie aufwachen“, erklärte Vellris, als er sich neben Jo an den Küchentisch setzte. „Er sagt, du könntest dich ihrer später annehmen.“ Sein fragender Blick richtete sich auf Cam, die verlegen nickte. „Ich werde dafür sorgen, dass sie das Erlebte vergessen“, sagte sie und Aiden war nicht überrascht, dass die anderen jetzt neugierig wurden.
„Wie?“, wollte Jo wissen, als Cam die Tassen verteilte. Aiden half ihr dabei, ehe sie sich ebenfalls setzten und Cam zu erklären begann. „Ich habe eine besondere Fähigkeit. Als Nachtwandlerin ist es mir möglich, im Schlaf auf die Träume Anderer zuzugreifen. Ich kann es schwer erklären, aber ich kann dann quasi all ihre Träume – egal ob gute oder schlechte – lesen. Darunter fallen auch Erinnerungen, die wir im Schlaf verarbeiten.“
Aiden nahm einen Schluck von seinem Tee. Für ihn waren diese Informationen nicht neu, aber er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er sich gefühlt hatte, als er zum ersten Mal von Cams Fähigkeiten gehört hatte. Das gespannte Schweigen, das sich über die Küche gelegt hatte, zeigte ihm, dass es den anderen offenbar ähnlich ging.
„Jedenfalls“, fuhr Cam fort. „Kann ich diese Träume und Erinnerungen lesen, verändern und auch löschen.“
Aiden blickte reihum in die sprachlosen Gesichter von Vellris, Jo und Gray. Sie alle starrten Cam mit großen Augen an und Aiden konnte es ihnen nicht verübeln. Diese Gabe war unglaublich und wüsste Aiden nicht, dass er Cam zu einhundert Prozent vertrauen konnte, würde er vermutlich niemals mit dem Wissen einschlafen können, dass sie sich unter demselben Dach befand.
„Das ist ja unglaublich.“ Gray war der erste, der seine Stimme wiedergefunden hatte. „Du meinst, du kannst jede Erinnerung löschen? Einfach so?“
„Naja.“ Cam drehte nervös ihre Tasse in den Händen. „Nicht einfach so. Ich kann es nur im Schlaf. Und die betreffende Person muss ebenfalls schlafen. In meiner Nähe. Und auch dann finde ich nicht immer direkt einen Zugang und muss auch zunächst den richtigen Traum finden, aber wenn mir das gelingt...“ Sie hielt kurz inne, zuckte dann vage mit den Schultern. „Ja, dann kann ich jede Erinnerung löschen.“
„Heilige Scheiße“, fluchte Jo und Aidens Mundwinkel zuckten.
„Dann kannst du den Entführungsopfern also jede Erinnerung an diese dunklen Stunden nehmen?“, schlussfolgerte Vellris und überraschte Aiden damit nicht. Der Mann hatte einen flinken Geist und offenbar war er mit seinen Überlegungen häufig schon einen Schritt weiter, als alle anderen.
„Es benötigt etwas Zeit, denn ich gehe davon aus, dass es sich nicht nur um ein einzelnes Erlebnis handelt“, wandte Cam ein. „Aber im Anschluss sollten sie nichts mehr davon in ihrem Geist mit sich tragen.“
Vellris nickte langsam und fuhr sich dann über das kurze Ziegenbärtchen. „Das hört sich nach einer guten Lösung für beide Seiten an.“
Aiden musste ihm zustimmen. Tatsächlich wusste er, dass es schwer werden würde, die Entführten nach dem, was sie erlebt hatten, davon zu überzeugen, dass es auch gute Vampire und Dämonen gab. Und gleichzeitig würde es für sie umso schwerer, mit dem Trauma zu leben. Wenn Cam ihnen jede Erinnerung daran nahm, sollte es ihnen möglich sein, relativ problemlos in ihr altes Leben zurückzukehren.
„Ich werde nachher sehen, ob ich einen Zugang zu den beiden Männern bekomme“, erklärte Cam jetzt.
„Und was ist mit der Frau?“, wollte Jo sofort wissen.
Cam rieb sich über die Oberarme, als würde sie frösteln. „Ich weiß nicht, ob ich derzeit in der Lage bin, in ihre Träume einzutauchen. Es ist gut möglich, dass sie sich erst etwas erholen muss, bis es mir gelingt.“
„Und wenn ich von ihren Verletzungen ausgehe, gibt es da eine Unmenge an Erinnerungen“, fügte Bastian hinzu, der in dem Moment in die Küche trat und Cam einen besorgten Blick zuwarf. „Du kannst sie unmöglich alle lesen.“
Aiden ahnte, dass Bastian damit nicht an der bloßen Tatsache zweifelte, dass Cam dazu in der Lage wäre, sondern, dass er viel mehr besorgt darum war, wie sie mit all diesen zweifelsfrei grausamen Erinnerungen würde umgehen können.
Cam schüttelte bedauernd den Kopf. „Selbst wenn es mir gelingen würde“, sagte sie. „Und selbst wenn ich jede einzelne Erfahrung löschen würde, so glaube ich doch, dass es ihr nicht helfen würde. Derartige Erlebnisse hinterlassen Spuren, die weit tiefer gehen. Sie bleiben als eine Art Schatten auf der Seele zurück und wenn ich ihr die greifbaren Erinnerungen nehme, so hat sie niemals die Chance, das Geschehene zu verarbeiten.“
Aiden dachte stumm über Cams Worte nach und begriff, worauf sie hinauswollte. Wenn die junge Frau es schaffte, dem Tod von der Schippe zu springen, dann stand ihr das Schwerste erst noch bevor.