Der heiße Sand, der in der Nacht noch von den Feuerbällen aufgewühlt worden war und zahlreiche Furchen gezeigt hatte, war nun voller Blüten. Millionen von Blumen, die rote und weiße Blütenblätter besaßen, die allerdings trotz Sonnenschein geschlossen waren. Wie war so etwas außerhalb der Oase möglich? War der Sand nicht unfruchtbar? Er kannte zwar Blumen und Bäume innerhalb der Oase, aber so eine Art hatte er noch nie gesehen, schon gar nicht hier im öden Wüstensand. Jetzt aber bedeckten sie fast den gesamten Boden, den er sehen konnte. Es sah so aus, als ob das Blumenmeer bis zum Horizont reichte.
Bevor er sich versah, befand er sich mittendrin, umgeben von einer wunderschönen Pracht, die ihn fast wieder zu Tränen rührte. Er ging in die Knie und berührte mit seinem Handrücken einige Blütenblätter, die im Wind tanzten. Wieder atmete er tief ein und bemerkte den Duft der Blumen, der ihn etwas schwindelig machte. Immer mehr Duftstoffe durchströmten seine Nasenöffnungen und vergrößerten seinen Schwindel. Er musste nach Luft schnappen und versuchte, damit seinen Schwindelanfall zu unterdrücken, was aber leider zum gegenteiligen Effekt führte. Sein Körper wurde immer leichter, die Welt um ihn herum drehte sich und er verlor die Kontrolle. Kraftlos sackte er zusammen. Der weiche Sand und die zweifarbigen Blumen dämpften seinen Aufprall. Bewusstlos blieb er auf dem Boden liegen. Die Pflanzen hörten aber nicht auf zu wachsen, so dass er nach kurzer Zeit von ihnen überwuchert wurde. So fiel er in einen tiefen Schlaf.
Noch am selben Tag wurde der Herrscher der Oase von seinem Sohn und seinen Untertanen vermisst. Sein königlicher Nachkomme rief zu einer großangelegten Suchaktion auf, die aber keinen Erfolg zeigte. Eine unsichtbare Barriere schien das Blumenmeer zu umgeben, die die Suchenden davon abhielt, es zu durchforsten. So verging Tag um Tag. Sein Sohn übernahm vorübergehend das Zepter und bereitete weiter die Totenfeier vor, da man vorerst davon ausging, dass ihr Gott sich im Rahmen seiner Trauer in die Einsamkeit zurückgezogen hatte. Er aber schlief weiter, ganze zwei Wochen lang schlummerte er im Blumenmeer, umgeben von den Pflanzen, die ihn vollkommen umschlungen hatten und am Leben hielten.
Am Tage der Totenfeier, die einen halben Monat nach der Mondfinsternis stattfand, ereignete sich ein weiteres himmlisches Schauspiel am Firmament. Kurz vor Mittag, während der heißesten Zeit des Tages, schob sich der Neumond langsam vor die Scheibe der Sonne. Der Kernschatten des Erdtrabanten traf genau auf das Blumenmeer, als die totale Sonnenfinsternis eintrat. Als der letzte Lichtstrahl die Blumen traf, erstrahlte die Korona der Sonne am Himmel. Man hätte meinen können, dass ein göttliches Auge auf die Erde schaute. Wie ein stiller Beobachter sah es, wie ein Wunder geschah. In der Dunkelheit fingen die Blüten an, sich zu öffnen. Ein Vorgang, der bis in die Gegenwart unerklärlich blieb, denn Blüten öffneten sich normalerweise erst dann, wenn Licht auf sie fällt. Hier geschah es genau andersherum. Erst die Finsternis löste den Mechanismus aus, der die rotweißen Blütenblätter dazu brachte, sich zu entfalten. Die Sonnenfinsternis sollte nur wenige Minuten andauern, aber genau in dieser Zeit produzierten die Pflanzen ihren besonderen Nektar, den sie an die Umgebung abgaben. Er rann die Blütenstiele herab und sickerte in den Boden. Der schlafende Gott, der komplett von den Pflanzen überwuchert war, wurde ebenfalls von dem Blütensaft benetzt. Dieser wurde von der Haut des Schlafenden vollkommen aufgenommen und sickerte in sein Inneres. In seinem Körper wurden dadurch chemische Prozesse ausgelöst, die ihn auf der untersten Ebene seines Erbguts veränderten.
Als der erste Lichtstrahl nach der Finsternis auf das Blumenmeer traf, schlossen sich die Blüten wieder und der Gott öffnete seine Augen. Er fühlte sich wie neu geboren, befreite sich von dem Pflanzengestrüpp, das langsam verwelkte, und stand auf. Keine Schwäche oder ein Zittern in den Beinen hielt ihn davon ab, wieder zu seiner, zu ihrer gemeinsamen Pyramide zu gehen. Nun wollte er zurück zu seiner Geliebten, wollte den Rest seines Lebens bei ihr verbringen. Nachdem seine geliebte Gefährtin die Reise ins ewige Jenseits bereits angetreten hatte, wollte er sie auf ihrem allerletzten gemeinsamen Spaziergang begleiten. Er betrat die Pyramide und setzte einen Mechanismus in Gang, der den Eingang mit einem tonnenschweren Stein versiegelte. Nun würde sie niemand mehr stören. Der Gott griff zu einer brennenden Fackel, die an der Wand hing und stieg die Treppen herab. Langsam geisterte er durch die leeren Gänge, in denen nur noch vereinzelnde Fackeln brannten. Einige Gänge waren aber schon in Finsternis getaucht worden. Er setzte seine Kapuze auf und erinnerte sich bei jedem Schritt wieder an seine verblichenen Geliebten. Jedes Mal gab es einen Stich in seiner Brust, die stärker brannte als die Fackel, die er in seiner Hand trug. Bei jedem schmerzvollen Stich in seinem Herzen glühte es unter seiner Kapuze rot auf. Als auch die letzten Lichter erloschen waren, hätte man nur noch ein pulsierendes rotes Glühen erkennen können. So wanderte er wieder zurück, auf der Suche nach seiner Geliebten.
Die Totenfeier war schon vorüber und für seinen Sohn und seine Untertanen blieb er verschollen. Die versammelten Menschen aber sahen weiter gebannt zum Himmel. Nach der Sonnenfinsternis, die viele zum Anlass genommen hatten, um zu beten, erschien ein heller Lichtpunkt am Himmel. Ein himmlisches Objekt war in die Erdatmosphäre eingedrungen, das wie ein großer Feuerball der Oberfläche entgegenflog. Der Sternschnuppenregen zwei Wochen zuvor war nur der Vorbote für einen viel größeren Gesteinsbrocken gewesen. Innerhalb weniger Sekunden flog er durch die Atmosphäre der Erde und traf die fruchtbare Oase. Der Aufprall zerlegte die Insel des Lebens mitten im öden Wüstensand in Schutt und Asche. Niemand überlebte, niemand, außer dem ehemaligen Herrscher der Oase, der im Inneren der Pyramide das Grollen der Explosion hörte.
Nach stundenlangem Umherirren durch die dunklen Gänge hatte er die Grabkammer wieder betreten. Er schloss die Augen, um noch einen einzigen Moment für sich alleine zu sein. Sein inniger Augenblick verstrich und er riss sie wieder auf. Nun konnte man die Quelle des roten glühenden Lichtes erkennen. Es waren seine Augen, die die Grabkammer in langwelliges Licht tauchten. Er sah zum letzten Mal seine geliebte Gemahlin, zu der er sich legte. Als das rote Licht erlosch, waren seine Augen für immer geschlossen. Wirklich für immer? Die Zeit würde es zeigen...
Ende des Prologs
Fortsetzung mit Teil 1 des 1. Kapitels