Undras Alleingang
Alturin war schon eine ganze Weile unterwegs. Undra war stets an seiner Seite geblieben. Seine treue Gefährtin erkundete die Wege und berichtete ihm wie immer, wenn es etwas Aussergewöhnliches oder Gefährliches in ihrer Nähe gab. Alturin hatte die tiefen Wälder durchstreift und sich in die Nähe der Askaden gewagt. Er war in sicherer Entfernung geblieben und Undra war zu einem Erkundungsflug gestartet, um zu sehen ob sich dort etwas rührte. Doch hatte sie nichts Ungewöhnliches feststellen können. Beruhigt zogen sie weiter in Richtung einer grossen Gebirgskette. Alturin wollte zum "kalten Berg." Hier erhoffte er sich neue Erkenntnisse von einer alten Seherin, die seit Urzeiten hier oben in einer Berghöhle weilte.
Er hatte sie im Laufe der Zeiten schon mehrfach aufgesucht und ihre Aussagen waren stimmig, wenn sich auch ihre Deutung manchmal als etwas schwierig gestaltet hatte. Aber letztlich hatte sie richtig gelegen. Undra war voraus geflogen, um nachzusehen, ob die Alte zugegen war. Doch wo sollte sie auch sonst sein? Alturin hatte noch nie davon gehört, dass sie jemals ihre Behausung verlassen hätte. Sie ernährte sich nur von Kräutern und Wasser und war von kleiner Statur. Ihr Gesicht zierten unzähige Falten und man schätzte ihr Alter auf über eintausend Jahre. Sie war ausgesprochen zäh. Es hier oben auszuhalten, war nicht Jedermans Sache.
Undra kehrte zurück und berichtete Alturin, dass sie die Alte durch den Höhleneingang gesehen hätte. Sie war wohl gerade dabei, sich eine Suppe zuzubereiten. Alturin machte sein Pferd fest und begann den Aufstieg. Über zwei Stunden dauerte es, bis er endlich die letzte Kehre des Bergweges erreichte und der Höhleneingang in Sichtweite war. Langsam bewegte er sich auf den Eingang zu.
"Komm' nur herein Alturin!, hörte er die Alte rufen, ich habe Dich bereits erwartet und bringe Deine Eule ruhig mit. Tretet ein und stärkt euch ein wenig bei mir. Ich habe ein schmackhaftes Süppchen gekocht."
Alturin war nicht besonders überrascht darüber, dass die Alte sie schon erwartet hatte, sie machte ihrem Ruf alle Ehre. "Sei gegrüßt, alte Frau, entgegnete Alturin und hab' Dank für die freundliche Einladung." Er betrat die Höhle und sah der Alten ins Gesicht. Sie hatte sich keinen Deut verändert, seitdem er sie das letzte Mal gesehen hatte. Lächelnd bot sie ihm Platz an.
"Setz Dich weiser Mann. Ich freue mich auf einen kleinen Schwatz mit Dir. Ich habe hier oben nicht allzu oft die Gelegenheit dazu." Sie reichte ihm eine Schale mit Suppe. Alturin nahm sie dankend an. "Du bist wieder auf der Suche, nicht wahr?, fragte sie mit wissendem Blick. Du spürst, dass etwas vorgeht. Ist es nicht so?"
Alturin nahm noch einen Löffel der schmackhaften Suppe zu sich und antwortete: "Ich spüre, dass etwas Ungutes vor sich geht. Als wenn sich etwas Schlimmes zusammenbrauen würde. Deshalb drehe ich meine Runden und versuche etwas in Erfahrung zu bringen. Es steht wohl noch in den Anfängen, aber ich spüren dass etwas geschehen wird, dass uns alle betrifft."
"Dein Gefühl trügt Dich nicht, lieber Alturin, auch ich nehme es wahr."
"Was genau nimmst Du wahr und was weisst Du, weise alte Frau?"
"Die Saat wurde von Rincobal ausgesät. Er ist von Hass erfüllt und hat den Sternenwald übel geschändet. Auch die Erde des Waldes und die Tiefen unter dem Wald wurden von ihm entweiht. Er hat eine mächtige Kraft entfesselt und sie sich zum Verbündeten gemacht. Dies ist die eine Seite. Eine andere Gefahr sehe ich aus den Bergen kommen. Rincobal hat sich das Bergvolk der Albaren zu Verbündeten gemacht. Auf der einen Seite die Gnomm und auf der anderen Seite die Albaren. Und dazwischen liegt.....die Kristallstadt.
Man ahnt, worauf es hinaus läuft."
"Du meinst, es ziehen wieder dunklere Zeiten herauf? Ein Kriegszug?", fragte Alturin mit besorgtem Blick.
"Es sieht ganz danach aus. Es wird noch eine Weile dauern, doch die dunkle Seite versammelt sich und wird stärker von Tag zu Tag. Dem jungen Lichtkrieger wird eine besondere Rolle zufallen. Jedoch hat er eine Schwachstelle - Du kennst die Prophezeiung?"
Alturin nickte.
"Die zwölf Lichter der Knorreiche müssen wieder vereint werden und ihre Kräfte zusammen führen. Wenn dies gelingt, kann der Sieg gegen das Böse gelingen."
"Aber wie soll?......ich meine seine Eltern sind tot!"
"Ja. Gewissermassen. Sie sind in einer anderen Welt. Aber sie sind noch nicht verloren und es besteht Hoffnung, dass ihr Sohn sie finden und befreien kann."
Überrascht sah Alturin die alte weise Frau an. "Du meinst, sie sind in.............in Shergolah? Der Zwischenwelt? Ich hörte niemals davon, des jemals von dort jemand zurück kam."
"Das ist nicht richtig, jedoch ist es schon so lange her, dass es niemand mehr weiss, antwortete die Alte. Es gibt einen Weg, aber der junge Lichtkrieger muss ihn selber finden. Und er muss ihn bald finden. Die Liebe lenkt ihn ab. Es ist noch zu früh dafür. Gehe zu Hatora und frage sie nach dem Eingang. Dem Eingang nach Shergolah. Dann begleite ihn mit ein paar guten zuverlässigen Mannen zur alten Knorreiche - der Rest wird sich finden. Mehr kann ich Dir nicht sagen, Alturin."
Die Suppen waren kalt geworden und die Alte erhob sich, um noch einmal neu heiss nachzuschänken. Schweigend assen sie die wärmende Mahlzeit. Dann erhob sich Alturin und dankte der alten Frau.
"Möge das Glück Dich stets begleiten, Zeitenwanderer!"
Alturin nickte dankend und trat den Rückweg an.
In Gedanken versunken erreichte er am Fusse des Berges sein Pferd. Doch wo war Undra? Er hatte sie die ganze Zeit nicht gesehen. Bestimmt jagte sie nach Mäusen oder sah sich in der Gegend um. Alturin musste sofort zurück zur Kristallstadt und mit Hatora sprechen. Ein Plan musste her! Rasch bestieg er sein Pferd und machte sich auf den Weg.
Als er dann nach langem scharfen Ritt endlich den faszinierenden Schimmer der Kristallstadt im Tal erblickte, fehlte von Undra immer noch jede Spur. Langsam machte er sich Sorgen um seine treue Freundin. Hoffentlich war ihr nichts passiert. Rasch ritt er durch das weit geöffnete Tor und begehrte Einlass zu Hatora. Doch er erfuhr, dass sie nicht in der Stadt weilte und erst in zwei Tagen zurück erwartet wurde. Doch sagte man ihm, dass sie mit seinem Eintreffen gerechnet hatte und wies ihm jenes Zimmer zu, dass er immer bezogen hatte, wenn er hier war.
Am Abend ging Alturin nach dem Essen durch das von Kerzen hell erleuchtete Zimmer auf den Balkon, um sich auf dem bequemen Sessel etwas auszuruhen und sich ein Pfeifchen zu gönnen. Die letzten Tage waren anstrengend gewesen und so nickte er nach einiger Zeit ein. Viele Bilder drangen in seinen Kopf. Bilder von Höhlen in den Bergen. Feuer loderten überall. Dort wurde geschmiedet. Waffen! Es war eine Waffenschmiede!
Plötzlich durchfuhr ein stechender Schmerz seine Hand! Alturin schreckte hoch. "Undra!" Seine Eule sass auf der Lehne des Sessels und hatte ihn unsanft in seine Hand gepickt.
Hoch erfreut blickte er sie trotz des Schmerzes in seiner Hand an. Doch dann sah er, dass sie arg gelitten hatte und seine Mine wurde finster. Sie blutete an mehreren Stellen und ihr Gefieder war zerzaust und teilweise ausgerissen. Ihr linkes Beinchen hielt sie angehoben, es schien gebrochen zu sein. Sie musste Schmerzen haben.
"Himmel, was ist passiert Undra?", fragte er besorgt.
Schnell holte er eine Schale mit Wasser und kümmerte sich zuerst um ihre Verletzungen. Undra war sehr geschwächt. Doch nach kurzer Zeit erzählte sie ihm, was geschehen war. Undra war zu den Albaren geflogen, als sie gehört hatte was die alte Frau berichtet hatte. Sie wollte erkunden, was dort vor sich ging. Sie berichtete Alturin, dass überall in den Berghöhlen an vielen Feuern Waffen geschmiedet wurden. Unmengen von Waffen! Sie hatte eine grosse Anzahl der Gnomm dort gesehen, die den Albaren mit ihrem Wissen um die Schmiedekunst zur Seite standen.
Dann wurde sie plötzlich angegriffen. Scharen von Riesenfledermäusen hatten sich auf sie gestürzt und versucht, sie zu töten. Doch mit letzter Kraft konnte sie ihnen entkommen.
Alturin holte Undra zu sich ins warme Zimmer und bereitete ihr einen bequemen Platz zur Nacht. Auch er begab sich kurz danach zur Ruhe. Er konnte sie im Moment genau so gut brauchen.
Denn schon bald sollte es damit vorbei sein.....