Prompt: Alte Traditionen (26.04.2020)
Start: 21:05 Uhr
Ende: 22:03 Uhr
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"Also, wenn ich jemals heirate, dann pfeife ich auf Traditionen."
Meine beste Freundin Tina sieht bei diesem Satz so ulkig ernsthaft aus, dass ich schmunzeln muss.
"Das habe ich auch immer gesagt, aber dann fand ich es doch traurig, dass ich irgendwie so gar keine Traditionen aus meiner Familie kenne", antwortet Jule aus dem gegenüberliegenden Sessel.
Interessiert sieht Tina sie an. Die beiden kennen sich erst seit kurzem und ich glaube, dass es der erste Abend ist, denn wir nur zu dritt verbringen.
Unterschiedlicher könnten die beiden Frauen kaum sein.
Tina kenne ich seit dem Gymnasium. Ihre Eltern sind Ärzte und haben ihr und den beiden Brüdern alles ermöglichen können. Später haben wir zusammen gewohnt und studiert. Sie Marketing und ich Pädagogik. Zusammen sind wir in den ersten Studienjahren um die Häuser gezogen. Während ich aber früh mit Mike liefert war, hatte Tina ausnahmslos lockere Affären. Bis heute hat sie es mit keinem Mann länger als ein paar Wochen ausgehalten. Sie sagt, sie taugt nicht für die große Liebe. Ich glaube, dass sie Angst vor einen Bindung hat. Sie möchte ihre Unabhängigkeit und Freiheit nicht aufgeben. Dennoch ist sie mir in Liebesdingen immer eine gute Ansprechpartnerin gewesen. Ob nun nach der schleichenden Trennung von Mike, als auch in der ganzen Zeit mit meinem zukünftigen Ehemann.
Jule dagegen stammt aus schwierigen Verhältnissen. Ihren Vater kennt sie nicht, auf der Geburtsurkunde prangt ein Unbekannt.
Ihre Mutter war Alkoholikerin, die die Tochter mit 15 vor die Tür setzte. Bis heute hat Jule keinen Kontakt zu der Frau, die sie bestenfalls als Erzeugerin betitelt. Jule hatte den Ehrgeiz, mehr aus ihrem Leben mehr zu machen. Sie hat sich durchgebissen. Mittlere Reife, Ausbildung zur Friseurin und Visagistin. Nach einigen Jahren als angestellte Maskenbildnerin hat sie sich vor einiger Zeit mit ihrem jetzigen Mann Tom selbständig gemacht.
Leise erzählt sie uns von der kleinen Hochzeit. Seine engste Familie, ihre engsten Freunde. Darunter mein Zukünftiger und seine Eltern. Das Kleid hat sie selbst genäht und auf die Bräuche einer Braut verzichtet. Niemals, so sagt sie jetzt, hätte ihr ein familiäres Band so sehr gefehlt, wie an jenem Tag. Eine reine standesamtliche Trauung, da ist sie sich mit Tina einig, reicht. Dennoch hat sie es sich nicht nehmen lassen, in einem weißen Kleid zu heiraten. Denn, so Jule, auch auf dem Standesamt darf man sehen, wer die Braut ist.
Meine eigene Mutter hat es anders gehalten. Ebenfalls eine standesamtliche Hochzeit, sie war bereits im sechsten Monat mit meinem Bruder schwanger. Kirchlich. so erzählte sie mir, hatte sie damals als unpassend empfunden. Sie hatten es nachholen wollen, es aber dann nie getan. Auf den wenigen Fotos trägt sie ein Umstandskostüm in hellem blau.
Unser aller Blick geht zu dem Kleidersack, der an Tinas Tür hängt. Ein Kleid voller Tradition. Ich bin die Dritte, die es tragen wird. Noch ist es ein gut behütetes Geheimnis.
"Empfindest du es nicht als Last?", fragt Tina in die nachdenkliche Stille.
Ich lächle.
Schüttle dann meinen Kopf.
"Nein", antworte ich dann mit Bedacht. "Im Gegenteil. Es ist ja mein ganz persönlicher Wunsch. Ich sehe es eher als gutes Omen. Mir gefällt der Gedanke, dass auch ich dieses Kleid irgendwann weiter geben kann. Es erfüllt mich gar mit stolz, dass ich diese Gelegenheit bekomme."
Da ist keine Tochter, die primäre Ansprüche hätte anmelden können. Für mich ist es gar ein Symbol, dass ich voll und ganz in diese Familie aufgenommen werde. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass meine zukünftige Schwiegermutter einen ähnlichen Gedanken in sich trägt.
"Warum auch kirchlich?", will Jule wissen. "Nur wegen der Tradition?"
Ich nippe an meinem Wein. Darüber bin ich tatsächlich selbst ein wenig überrascht. Vor ein paar Jahren wäre mir dies völlig unwichtig gewesen. Obwohl ich, wie vermutlich jedes kleine Mädchen, früher von einer pompösen Hochzeit geträumt habe. Irgendwann rücken diese Mädchenträume aber in den Hintergrund. Doch schon direkt nach seinem Antrag, der schöner nicht hätte sein können, wusste ich, dass auch mir ein Eheversprechen in der Kirche wichtig ist. Ich hatte es gar selbst ausgesprochen, ehe er hatte fragen können.
Ich finde keine passenden Worte, es beiden zu erklären. Beschreibe aber das Bild, welches sofort in meinem Kopf war, nachdem ich ja gesagt hatte. Wir beide beim Tausch der Ringe, vor einem Pfarrer.
"Was ist dir sonst noch wichtig für diesen Tag?" Die Frage kommt von Tina, die ich zur Trauzeugin erwählt habe. Ich lache und komme mir fast was albern vor.
"Neu, geliehen, geschenkt, blau.....ihr wisst schon."
Habe ich doch zu viele Hollywoodschmonzetten gesehen?
"Ich möchte, dass man Vater mich in die Kirche führt", ergänze ich noch.
"Du bist herrlich kitschig", kommentiert Tina und schenkt mir Wein nach. Sie rollt die Augen. "Wer bist du? Und was er hat mit meiner besten Freundin gemacht?"
"Wie sehr ich mir tatsächlich genau das gewünscht hätte", meint Jule. "Hätten wir kirchlich geheiratet, ich wäre mir seltsam verloren vorgekommen." Ihr Blick geht ein wenig ins Leere.
"Du weißt, dass er das für dich getan hätte", beginne ich, doch Jule unterbricht mich.
"Ja, natürlich. Aber es wäre nicht dasselbe gewesen, wenn ich am Arm des Vaters meines besten Freundes zum Altar gegangen wäre."
Wir schweigen. Es hängt unausgesprochen in der Luft, dass Jule eine ganz eigene Geschichte mit der Familie verbindet, die bald meine ist. Und heute ertappe ich mich zum ersten Mal dabei, dass ich mich frage, ob sie es manchmal doch noch bedauert.
"Was ganz anders, was ist eigentlich mit dem Junggesellinenabschied?", wechselt Tina das Thema. Ein kurzer Blickwechsel hat gereicht. "Auch so eine Tradition, der ich persönlich nicht viel abgewinnen kann. Aber ich gebe zu, es reizt mich, dir einen auszurichten." Ihre Augen blitzen vor Vergnügen. Unwillkürlich muss ich an die wilden Partys denken, die wir früher gefeiert haben.
"Bitte keine Verkaufsaktionen oder Verkleidungen", bitte ich. "Du darfst dir gerne etwas ausdenken. Was Erwachsenes mit ein bisschen Stil." Sie ringt mir ein paar Namen ab, die ich gerne dabei hätte, dann ist Tina zufrieden.
"Was machen die Jungs? Weißt du was?" Erwartungsvoll sieht mich Tina an, doch ich muss sie an den Trauzeugen verweisen. Dann fällt mir noch was ein.
"Und bitte, wir heiraten extra in einem übersichtlichen Kreis. Weil wir kein großes Tamtam wollen. Verkneift euch bitte eine Brautentführung oder seltsame Spiele. Wir wollen einfach nur mit den liebsten Menschen die Liebe feiern."
Ich weiß, dass er diese Bitte auch schon platziert hat und hoffe sehr, dass sich unsere Trauzeugen daran halten. Wenn ich mir aber jetzt gerade so Tina ansehen, dann entdecke ich ein kleines Grinsen.
Jule, die sich wieder gefangen hat setzt sich auf.
"Also, fassen wir zusammen. Ihr möchtet ein paar alte Traditionen und eine ordentliche Portion Kitsch."
Ich nicke zustimmend. Dass wir zudem eigene Gelöbnisse verfassen, behalte ich hier und jetzt aber für mich.
"Wenn ihr könnt, dann haltet unsere Väter von stundenlangen Reden ab. Alles andere organisieren wir selbst."
Dann sehe ich Jule an.
"Von dir würde ich mir als einziges Geschenk wünschen wollen, dass du mir die Haare machst und das Make-up. Du weißt, ich habe dafür wenig Talent. Bei dir weiß ich, dass ich so natürlich wie möglich aussehen werde. Auf den Fotos würde ich mich nämlich gerne auch in ein paar Jahren noch erkennen können."
Lachend prostet sie mir zu. Wir sind uns einig.
Nun wende ich mich an Tina.
"Du sei einfach an meiner Seite. Ich fürchte, ich werde furchtbar nervös sein. Es soll ein wunderschöner Tag werden. Für uns und für euch. Halte meine Mutter im Zaum, die wahrscheinlich noch nervöser als ich sein wird. Du kennst sie. Du und Alex, ihr seid unsere Lebensversicherung dafür, dass dieser Tag unser Tag wird."
Auch sie hebt ihr Glas und wir stoßen nochmal alle drei zusammen an. Ich bemerke einen Blick zwischen Jule und Tina. Mich beschleicht das Gefühl, dass irgendwas im Busch ist. Aber ich verlasse mich auf beide. Sie wissen nun, was wir keinesfalls möchten.
Kitsch und Tradition. Darüber denke ich einige Stunden später nach, als ich beseelt vom Wein in Tinas Gästebett liege. Irgendwie liegt das gefährlich beieinander.