Prompt: Vergissmeinnicht (03.05.2020)
Start: 19:44 Uhr
Ende: 20:43 Uhr
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Ein Blütenteppichmeer liegt vor dir.
Tausende kleine Blüten, so weit das Auge reicht.
Wie passend, denkst du.
Hinter dir die Steinmauer des Friedhofs, das schmiedeeiserne Tor.
Bis zum Wald diese Wiese.
Das gleiche Blau wie der Himmel, fällt dir auf.
In der Sonne schwirren gleichermaßen Schmetterlinge wie Bienen umher. Ein Paradies.
Der Anblick verführt zum Träumen.
Der warme Wind spielt mit deinen Haaren.
Streift dein Gesicht und schickt dir für Sekunden eine sachte Gänsehaut.
Es es so friedlich still.
Aus der Ferne hörst du den kleinen Bach glucksen, hier und da fröhliches Vogelgezwitscher, der ruhige Atem.
Ein angenehmes Schweigen, nur die Schritte auf dem Kiesweg.
Nur ein paar Meter, zu einer der eingelassenen Bänke an der Mauer.
Vereinzelte Spaziergänger gehen vorbei. Manche haben Blumen bei sich, andere einen Hund.
Die Sonne wandert langsam an den höchsten Punkt des Tages. Keine Wolke ist zu sehen und du bist dankbar ob des Schattens der großen Eiche.
Viele Gedanken jagen durch deinen Kopf.
Es dauert, bis du nach der Hand neben dir greifst. Bestimmt eine Stunde sitzt ihr da schon an die sonnen gewärmte Mauer gelehnt.
Die Hand ist kalt und dennoch schwitzig.
Ihr schweigt weiter aber du spürst die beruhigende, streichelnde Bewegung des anderen Daumens.
Dann ein Räuspern.
Erwartungsvoll neigst du den Kopf, aber die Lippen bleiben dann doch verschlossen.
Irgendwie fühlt es sich auch für dich falsch an, die Stille der Natur zu durchbrechen. Obwohl die so viel auf der Zunge liegt, um dem Moment etwas Schwere zu nehmen.
Es ist ein vorwitziger Spatz, der mutig in eure Nähe hüpft. Du musst lächeln und nimmst nur beiläufig wahr, dass sich das Gesicht neben dir ebenso aufhellt.
"Wir könnten auch Vergissmeinnicht pflanzen. Rund um die Fliederbäume sieht das bestimmt hübsch aus. Und es wäre doch irgendwie passend, wenn der Stein dann dort stehen soll", schlägt die belegte Stimme jetzt vor.
Dir gefällt die Symbolik. Nickend wendest du dich um.
"Eine schöne Idee", stimmst du zu.
Das Gewächs ist zäh, vermehrt sich leicht und kommt regelmäßig wieder. Zudem steht der Flieder fast zeitgleich in Blüte.
"Dazwischen vielleicht noch was für den Sommer und Herbst", geht die Überlegung weiter.
Wieder nickst du. Alles, was irgendwie hilft.
Morgen schon wird dein Schwager den Stein abholen, der etwas mehr 20 Jahre hier auf dem Friedhof stand. Die Entscheidung, das Grab aufzulösen, ist der Familie nicht leicht gefallen. Aber ein Andenken geht ja nicht verloren, nur weil es diesen Platz nicht mehr geben wird.
Ihr habt euch heute bewusst die Zeit genommen um nochmal hier zu sein. Ein Abschied, obwohl es eigentlich kein wirklicher ist. Dein Blick geht wieder zu dem Blütenmeer. Das Vergissmeinnicht steht für Treue und ewige Liebe. Romantische Legenden kreisen darum. Dabei, so kommt dir spontan in den Sinn, ist der Realität so viel purer und näher.
Mittlerweile kannst du der Idee einiges abgewinnen, dem Grabstein ein neues Zuhause zu geben. Den Ort des Gedenken dorthin zu verlagern, wo das Leben weitergeht und Kreise sich schließen. Ein Stück Familiengeschichte. Eine Rückkehr und doch ein Neubeginn. Er bekommt Raum, wird immer ein Teil sein. Erst hast du das Festhalten daran für seltsam empfunden. Es brauchte seine Zeit, bis du um den Wunsch den Sinn erkannt hast.
Deine Bedenken waren, dass Wunden aufgerissen werden könnten. Doch offenbar dient es tatsächlich dem inneren Frieden.
Das Grundstück ist groß, so dass die Stelle abseits genug liegt um nicht täglich daran vorbei zu kommen.
Vielleicht liegt es daran, dass du die Verstorbenen nie persönlich kennen gelernt hast. Dabei hast du manchmal das Gefühl, dass es anders ist. So lebhaft sind die Gedanken und Gespräche. Dass beide so besondere Persönlichkeiten waren, ist dir nicht entgangen. Selbst dein sonst so sachlicher Schwager wird ungewohnt herzlich und emotional, wenn es um seine Großeltern geht.
Vielleicht liegt es auch daran, dass du anders anders verwurzelt bist mit deiner Familie. Dass dort Traditionen eher klein geschrieben werden. Du kannst heute schon sehen, wie sehr deine eigenen Kinder damit aufwachsen und um die Geschichten wissen. Zumindest der Große hat einen ganz selbstverständlichen Umgang mit den Namen und Anekdoten.
Doch du weißt auch um die Gefahr der Trauer, der Verherrlichung und des Verlierens.
Vielleicht daher deine anfängliche Skepsis.
Und der Besuch eben, der letzte am Grab, zeugt durchaus davon. Du hoffst, dass die Tränen, die Schwere, das Schweigen rein der Situation geschuldet sind.
"Zum Leben gehört auch die Vergänglichkeit", flüsterst du.
Es ist wieder still, einige Minuten wieder.
"Ich weiß. Wir sind zu Gast auf dieser Welt. Auch wenn wir nicht mehr sind, dreht sie sich weiter. Aber mich tröstet der Gedanken, eben vieles weiterzugeben. Nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, woher wir kommen. Was uns geprägt hat. Wir sollen unseren Kindern Wurzeln und Flügel geben, erinnerst du dich an diesen Spruch?", fragt er dann.
"Ja, damit sie wachsen und fliegen können", entgegnest du nachdenklich.
"Es ist über 20 Jahre her, ich bin darüber hinweg. Heute denke ich oft darüber nach, was ich mitbekommen habe. Was ich von ihnen in mir trage. Mut und Liebe, die Verbundenheit an meine Heimat. Das Gefühl, die Geborgenheit, die Förderung. All das finde ich wunderschön und hilfreich."
Bei den Worten ist er aufgestanden und hat eines der kleinen Blümchen abgepflügt und bringt es dir nun.
"Der griechische Name bedeutet übrigens Mauseohr. Siehst du? Genauso sieht ein Vergissmeinnicht aus."
Er lächelt und drückt es dir in die Hand.
"Ein Mausohr für meine Maus", erklärt er augenzwinkernd.
Nun musst du lachen und stellst fest, dass die ganze Schwere verschwunden ist.
Es fühlt sich alles leicht an.
Der Frühlingstag.
Das Vogelgezwitscher.
Der Blumenteppich.
Und eure Liebe.