Prompt: Langsam dreht er/sie sich um.... (07.05.2020)
Start: 19:38 Uhr
Ende: 20:27 Uhr
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Am Handgelenk zieht dich deine Schwester auf die überfüllte Tanzfläche. Der DJ hat zu flotter Tanzmusik gewechselt, trotzdem hast du eigentlich gar keine Lust. Irgendwie fühlst dich neben ihr immer plump, steif und unrhythmisch. Sie lacht und übernimmt die Führung. Federleicht schiebt sie dich durch die Menge. Wie so oft erntet sie bewundernde Blicke, selbst ihr Foxtrott wirkt majestätisch. Ihre Laune ist ansteckend. Übermütig verführt sie dich zu Drehungen, die Paare um euch herum geben euch automatisch mehr Raum. Jeden deiner kleinen Unsicherheiten oder Schrittfehler gleicht sie mühelos aus.
Sie ist definitiv in ihrem Element und gibt dir gar nicht erst die Chance, vor dem nächsten Lied zu flüchten. Es ist ihr Abend. Ihr seid hier, um ihren Liebeskummer weg zu feiern und aus ihrem Kopf zu tanzen. Und wer sie jetzt sieht glaubt vermutlich nicht mal im Ansatz, dass sie sich vor wenigen Stunden noch die Augen ausgeweint hat. Wegen Jochen, einer fast zweiwöchigen äußerst intensiven Liebelei. Aber so ist sie eben. Alles was sie fühlt, lebt sie mit tiefer Hingabe aus. Freude wie Trauer, Liebe wie Wut, Glück wie Frust. Sie stürzt sich regelrecht in diese Emotionen hinein. Kopfüber und ohne zu bedenken. Tränen sind bei ihr schnell getrocknet, sie tanzt sie sich an diesem Abend aus dem Herz. Selbst für neue Flirts scheint sie bereits wieder offen, obwohl eben jener Jochen vor keinen 24 Stunden noch ihre große Liebe gewesen ist.
Nach fünf Songs bist auch du durchgeschwitzt und nun folgst du ihr zur kleinen Bar am anderen Ende der Turnhalle. Außer Atem bestellt sie eine weitere Runde Sekt und winkt deinen Einspruch weg. Wieder geht die Runde auf sie. Wie gut, dass es nach Hause keine 500 Meter sind, fährt dir durch den Kopf. Schon hast du dein Glas in der Hand und sie entdeckt einen freien Stehtisch. Während sie in ihrer Handtasche nach den Zigaretten fahndet, beobachtest du weiter das Treiben vor euch. Wie immer an diesen Tanzabenden im Dorf kennst du beinahe jedes Gesicht. Der Stopp der fahrenden Diskothek alle vier Wochen ist das Highlight hier. Auch aus den Nachbarorten entdeckst du Bekannte. Vorherrschend ehemalige Schulkameraden und Freunde aus der Tanzschule. Interessiert kommentiert ihr gemeinsam, welche neue Pärchen sich gebildet haben. Die Augen deiner Schwester blitzen vergnügt, als sie dich auf eine Gruppe junger Männer aufmerksam macht. In der Tat kennst du die vier Jungs nicht, die gegenüber am Rand der Tanzenden stehen und offenbar nach ungebundenen Damen Ausschau halten. Aus ihr sprudelt es nur so heraus. Offenbar findet sie zwei optisch durchaus interessant und du ahnst, dass Jochen womöglich schneller einen Nachfolger bekommen könnte, als sie sich gerade selbst bewusst ist.
„Gefällt dir einer“, möchte sie wissen.
Überrascht siehst du sie an.
„Warum?“, fragst du zurück.
Sie zuckt die Schultern, leert ihr Glas und stellt es auf dem Tisch ab.
„Ich möchte dir ungern in die Quere kommen, Schwesterchen“, lächelt sie. Dabei fährt ihre Zungenspitze über die Lippen. Die Zigarette hat sie ausgedrückt, stattdessen fischt sie ihren Lippenstift aus der Tasche.
„Die beiden Großen könnten Brüder sein, oder?“, mutmaßt sie. Der Lippenstift fällt achtlos zurück und sie drückt die Lippen zusammen. Du musst zugeben, dass ihr die Farbe ausgesprochen gut steht. Sie betont ihre dunkelblauen Augen. Nachdenklich gleitet dein Blick über die mutmaßlichen Brüder.
„Möglich“, meinst du.
Sie stupst dich an.
„Schau, die sehen auch immer wieder herüber“, meint sie. Dabei zwinkert sie dem einen lasziv zu.
Du rollst deine Augen.
„Nun mach das doch bitte nicht so auffäullig“, bittest du sie.
Aber dir entgeht nicht, dass die ausgewählte Beute nicht reagiert. Zumindest nicht auf sie. Amüsiert stellst du fest, dass er keine Sekunde mit seinem Blick bei ihr verweilt. Erst dann trifft dich die Erkenntnis, dass er stattdessen dir zuprostet. Mit einer Cola.
Sein Begleiter scheint etwas zu sagen und tatsächlich setzen sich die beiden in Bewegung. Schnellst greifst du dir die beiden leeren Gläser.
„Möchtest du noch einen Sekt?“, fragst du.
„Lass den beiden doch die Möglichkeit uns einzuladen!“ Energisch nimmt sie dir die Gläser aus der Hand.
Sie richtet sich auf, drückt ihr Kreuz durch und schiebt sich das lange Haar zurück. Kopfschüttelnd willst du Reißaus nehmen, da dir die Situation unangenehm ist. Flirten und ungezwungen mit einem Mann reden, das ist einfach nicht deins. Schon gar nicht bei dieser Lautstärke und mit mindestens einem Glas Sekt zu viel im Kopf.
„Ich brauch ein Wasser“, murmelst du, drehst dich um und gehst schnellen Schrittes auf die Bar zu. Dabei klopft dein Herz etwas schneller. Du gibst es nicht gerne zu, aber einer der beiden, ausgerechnet der, den sie zuerst gesehen hat, findest du unheimlich attraktiv. Aber was sollte er schon von dir wollen, wenn sie neben dir steht? Deine talentierte, offene Schwester, die reichlich Erfahrung gesammelt hat. Dagegen bist du ein reines Mauerblümchen. Manchmal kommen dir die zwei Jahre Altersunterschied wie eine komplette Generation vor.
Erleichtert bestellst du das Wasser. Bei Richy, den du schon seit der Grundschule kennst. Du zählst das Geld passend ab, rundest für ein kleines Trinkgeld auf und nutzt die Zeit, um dich zu sammeln. Mit der kleinen Falsche in der Hand siehst du zu, wie an eurem Tisch die Vorstellung läuft. Du nimmst einen großen Schluck. Offenbar hat deine Schwester ihr Ziel erreicht, einer der beiden zeigt auf die leeren Gläser. Sie gestikuliert, zeigt in deine Richtung und lächelnd greift der Hübsche nach den Gläsern. Hastig nimmst du einen weiteren Schluck. Während sie sich von seinem Begleiter Feuer geben lässt, steuert er nun direkt auf dich zu. Du kannst spüren, dass du rot wirst, wendest dich ab. Eilig schiebst du die Flasche auf den Tresen. Gerade, als du loslaufen willst, hörst du eine Stimme in deinem Rücken.
„Hey, was magst du trinken? Sekt wie deine Schwester?“
Seine Stimme ist tief und angenehm, sie löst sofort einen Schauer in dir aus.
Ganz langsam drehst du dich um und blickst in die schönsten hellblauen Augen, die du je gesehen hast. Er grinst und hält die dir freie Hand hin.
„Ich bin Paul.“