Prompt: Donnergrollen (10.06.2020)
Start: 20: 50 Uhr
Ende: 21:33 Uhr
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TRIGGERWARNUNG: Sexuelle Gewalt / Missbrauch
Mit geschlossenen Augen registriere ich den Wind, der heftig am Rollladen zerrt.
Peitschend knallt der Regen auf die Fensterscheiben, ohne Unterlass.
Und ohne Unterlass bewegt er sich in mir.
Grob, rücksichtslos, einzig und allein für sein Ziel.
Das Donnergrollen verschluckt meinen Schrei.
Seine große, schwielige Hand fährt über meinen Mund.
Erstickt im Keim mein Schluchzen, erbarmungslos.
Ich versuche gierig nach Luft zu schnappen, reiße meine Augen wieder.
Durch das dunkle Zimmer fegt ein Blitz.
Erhellt für wenige Sekunden das, was ich nicht sehen will.
Sein Gesicht, eine Fratze.
Die Pupillen glitzern vor Gier.
Wieder rollt der Donner heran.
Wie dieses Gewitter möchte meine Qual nicht enden.
Wie die Regentropfen laufen meine Tränen ununterbrochen.
Doch es interessiert ihn nicht.
Es interessiert niemanden.
Wieder kneife ich die Augen zusammen.
Atme gegen die Hand, die sich fest auf mein Gesicht drückt.
Ich zähle.
Die Sekunden zwischen Blitz und Donner.
Die Sekunden die es noch zur Erlösung bedarf.
Dann schmecke ich Blut.
Habe mir auf die Lippe gebissen.
Oder doch in seine Finger?
Beim nächsten Donnerschlag ist es vorbei.
Doch etwas stimmt nicht.
Schwer wie ein Sack liegt er auf mir.
Erschlafft.
Es dauert einen Moment, bis ich verstehe.
Dieses Mal ist mein Schrei lauter.
Dieses Mal wird er nicht verschluckt vom Getöse vor dem Fenster.
Panisch versuche ich mich unter ihm herauszuwinden.
Schreie weiter und kämpfe mit dem massigen Körper.
Der Mund halb geöffnet, der Blick ganz leer.
Etwas stimmt ganz und gar nicht.
Und diesmal kann niemand weghören.
Dafür sorge ich.
Es dauert, bis ich Schritte auf der Treppe höre.
Längst habe ich mich herausgewunden und bin vom Bett gerutscht.
Nackt kauere ich neben meinem Bett.
Die Lungen voller Luft schreien heraus, was ich nicht mehr verschweigen kann.
Das Licht geht an.
Er bewegt sich nicht, bleibt einfach liegen.
Niemals, so glaube ich, werde ich diesen Anblick vergessen.
Der entsetzte Blick meiner Mutter.
Der gehetzte Gesichtsausdruck meines Vaters.
Die stumme Anklage.
Der Sturm übertönt ihre Worte.
Was ich getan habe?
Die Frage kracht gleichzeitig mit einem Blitzschlag.
Das Unwetter ist genau über uns.
Sie stehen am Bett, keiner kommt zu mir.
Nein, hier stimmt etwas nicht.
Achtlos wirft mir meine Mutter das Nachthemd zu, das am Fußende liegt.
Emotionslos fühlt mein Vater nach dem Puls.
Ich schreie noch immer.
Bis mein Vater mir ein lautes „Stopp“ entgegenbrüllt.
Zwischen Donnerschlägen und Blitzgewitter ergreifen sie Maßnahmen.
Hieven ihn hinüber ins Gästezimmer.
Ich ziehe alleine das Bett ab und verhülle meinen schmerzenden Körper.
Eine Wahrheit muss erfunden werden.
Ich wage es nicht, zu widersprechen.
Erst als das Gewitter sich verzogen, der Sturm sich beruhigt und der Regen geendet hat, liege ich allein auf dem Boden, zwischen Decken und Kissen.
Kein Wort soll ich sagen.
Am nächsten Morgen, wenn der Notarzt gerufen wird.
Schweigen und vergessen.
Niemand kommt, der mich tröstet.
Niemand, der jahrelang weggesehen und das Geschehen verleugnet hat.
Als der Morgen dämmert bin ich immer noch wach.
Ängstlich schleiche ich über den Flur, schiebe die Tür auf.
Er sieht aus wie heute Nacht.
Seine Folter ist vorbei.
Meine Qual, die wird dauern.
Leise Schritte.
Hinter mir.
Der blonde Schopf meiner kleinen Schwester.
Energisch ziehe ich die Tür zu und drehe mich um.
Immerhin, denke ich, als ich sie an die Hand nehme, bleibt ihr es erspart.
Später sage ich, dass ich geschlafen und von einem Tornado geträumt habe.
Mein Vater nickt mir zu.
Meine Mutter sagt kein Wort.
Meine Schwester spielt mit ihrer Puppe und schweigt ebenfalls.
Ich bin 14 Jahre alt.
Onkel Ralf ist tot.
Auf seiner Beerdigung weine ich heiße Tränen.
Es ist ein lausiger Regentag.
Ein Donner kracht, als sein Sarg in der Erde verschwindet.
Mich hat das stark gemacht.
Und kalt.