Prompt: Morgentau (23.08.2020)
Start: 20:25 Uhr
Ende: 21:21Uhr
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Ein kühler Morgen, feucht und dennoch sonnig.
An der Leine der Hund, die Runde am Morgen.
Sie folgt einem Rhythmus, einem regelmäßigem Weg.
Der einzige Zeitpunkt des Tages, den er ganz für sich ist.
Allein, in vollkommener Stille.
Nur der treue Begleiter an seiner Seite.
Nebelschwaden hängen in Bodennähe, tauchen den nahen Wald in einen Schatten.
Der Morgentau perlt langsam von den Gräsern, das Sonnenlicht spiegelt sich darin.
Klare Luft, wie rein gewaschen.
Fröhliches Vogelgezwitscher und ein sanfter Wind streift durch die Bäume,
Vielleicht die ruhigste Stunde des Tages.
Silberne Kristalle blitzen, durchlöchern das Novembergrau.
Verwaschenes Grün, unscharfes Blau am Himmel.
Gereinigt fühlt auch er sich.
Immer klarer wird der Blick.
Um ihn herum gewinnt alles an Tiefe, die Farben werden intensiver.
Die Sonne verspricht Wärme, verscheucht die Kälte aus den Gliedern.
Wie jeden Morgen stopft er sich eine Pfeife.
Sammelt seine Gedanken und genießt diesen Gang.
Er gehört zu ihm, seit vielen Jahren.
Routinen, die fest verankert sind in seinem Sein.
Noch immer hat er über wichtige Entscheidungen nachgedacht, wenn der Tag langsam und Stück und für Stück die Nacht vertrieb.
Probleme haben sich immer hierbei am besten beleuchten, Lösungen am sinnigsten hier finden lassen.
Nach manch schlafloser Nacht sah er klarer, sobald er durch die Natur ging.
Sinnbildlich jeder Nebel war auf einmal durchdringbar, das Grau nicht festgefahren.
Auch heute ist so ein Tag.
Der Abend davor geprägt von Gesprächen und Sorgen.
Die Nacht voller Gedanken, das Herz schwer von all den Gesprächen.
Seine Frau sagt, er sei kein großer Redner, seine Reden aber immer wohl dosiert. Immer eine Lösung im Kopf, einem Weg. Doch das kommt bei ihm nicht über Nacht, sondern im Frieden einer Morgendämmerung.
Er spürt, dass er handeln muss. Dass es seine Aufgabe ist, alles in die richtigen Bahnen zu lenken.
Aber wie, das ist die Frage, die ihn umtreibt.
Da sind Zeichen, kleine Hinweise.
Aber kann er sich sicher sein? Deutet er sie richtig?
Wie so oft wägt er ab, hält stille Zwiesprache mit dem Hund.
Er ist kein Mann der großen Worte.
Er ist ein Kerl, der anpackt und Taten sprechen lässt.
Ihm liegt am Herzen, dass alles zusammen passt, alles seinen Platz findet.
Hier und da gelingt es nicht sofort, manchmal braucht es Geduld.
Vielleicht seine größte Stärke. Zuhören, Fakten sammeln, Ruhe bewahren.
Es ist nicht so, dass er emotionslos reagiert. Emotionen sind ihm wichtig, dürfen auch Entscheidungen beeinflussen. Aber er beleuchtet nun mal gerne alle Seite.
Manchmal sind es Gefühle, die einer guten Entscheidung im Wege stehen.
Manchmal sind es Gefühle, die für eine Entscheidung unerlässlich sind.
Manchmal muss man sich Zeit lassen.
Manchmal darf man nicht zu viel verdenken.
Auf der Hälfte der Strecke stopft er die Pfeife nach und betrachtet die Umgebung. Den Wald. Das Tal. Den Dorf. Das Zuhause.
Er denkt an die Liebsten.
An seine Frau. Die er unendlich liebt, auch nach all den Jahren.
Seine Seelenverwandte, seine große Liebe, der perfekte Deckel zu seinem Topf.
An die Söhne, deren Baustellen so vielfältig und unterschiedlich sind. Die er beide liebt; für jeweils das, was sie ausmacht. Den Großen, weil er ihm so ähnlich ist. Den Kleinen, weil er ihm immer ein bisschen fremd bleibt.
Für beide würde er fürs Feuer gehen. Für beide würde er das letzte Hemd geben.
Sie haben sein Leben bereichert, spannender gemacht und über die Zeit Herausforderungen an ihn gestellt.
Seit knapp 40 Jahren ist er Ehemann, seit über 30 Jahren Vater. Und er ist Großvater, was ihn hat milde werden lassen.
Er hat die Söhne taumeln sehen. Suchend nach ihrem Weg. Beide haben einen Platz im Leben. Aber man bleibt eben immer Vater, egal wie alt man ist. Man betrachtet, schaut zu, ist skeptisch, dann wieder voller Feuereifer. Er ist vor allem stolz.
Weil sie tolle Männer geworden sind, ehrliche Menschen.
Er ist sich sicher, er würde beide mögen, auch wenn sie nicht seine Söhne werden. Vor beiden hat er Respekt. Beiden bringt er mehr als nur Zuneigung entgegen. Er liebt sie. Mit jeder Faser seines Herzens.
Jeden Zweifel, jedes Zögern, jeden Rückschlag und jede Sackgasse hat er begleitet. Bereit, jederzeit eine Hand zu reichen. Beide haben ihn an Grenzen gebracht, beide haben seine Unterstützung gebraucht.
Jetzt aber spürt er, dass da noch was ist. Nach all den schweren Monaten, nach Hoffen und Bangen und all den guten Dingen, die danach kamen. Da ist eine Schwingung, die er seit Tagen wahr nimmt, die er in den Augen seines jüngsten Sohnes erkennen kann. Der ahnt vermutlich nicht, dass eine Lösung direkt vor ihm steht. Dass es vor seiner Nase herumbaumelt.
Paul hat keine Ahnung, ob es eine Option ist.
Ob es funktionieren kann.
Aber er weiß, dass er einen Input liefern muss.
Da sind zu viele Bäume im Wald, der Blick verstellt.
Die Monate haben gezeigt, dass es im Grunde nur einen Weg gibt, möchte der Sohn dauerhaft aus dem Labyrinth heraus.
Aber er mag sich an und für sich nicht anmaßen, nicht vorgeben.
Ist es nicht so, dass man so was entscheidendes nicht selbst erkennen muss?
Gut, gegen einen Schubs, ein bisschen nachhelfen, da kann man doch nichts sagen?
Und am Ende der morgendlichen Runde, als der letzte Nebel und Morgentau sich auflöst, ist da eine Idee.
Wage.
Unfertig.
Vielleicht mit Ecken und Kanten.
Aber was soll passieren?
Mehr als schief gehen kann es nicht.
Aber Paul spürt, dass er es bereuen würde, bliebe diese Idee nur in seinem Kopf.
Man muss doch versuchen, oder?
Als Vater kann er nicht nur zu sehen, er muss doch auch handeln.
So wie damals, als die Jungen noch klein waren.
Es sind doch seine Söhne, für immer und ewig.
Und so, wie der Herbstnebel und der Morgentau jedes Jahr wiederkommen, so bleibt die Sorge um die Kinder in ihm.
Was ist die Aufgabe des Lebens?
Es geht nicht um materiellen Erfolg, auch wenn er dafür dankbar ist.
Es geht nicht um den Schein.
Es geht um das Glück und die Zufriedenheit.
Und beides wünscht er sich für die Söhne und deren Familien.
Er würde alles dafür tun.
Und wie eben oft ein seinem Leben, in all den langen Jahren, hat ihm die kühle Luft des Morgens geholfen. Er sieht jetzt glasklar, weiß um seinen einzigen Versuch.
Manchmal da sieht man den Wald vor Bäumen nicht und noch öfter liegt die Lösung ganz nah. Der Versuch ist es wert. Besser als zu schweigen. Und lieber eben einmal in Ruhe durchdacht, als blindlings los gelaufen.
Zurück am Haus leint er den Hund ab und atmetet durch.
Die Sonne steht tief, arbeitet aber verbissen gegen die Wolken.
Ein Novembertag, der Mut verspricht.
Ohne Mut, das ist Paul bewusst, wären sie nie so weit gekommen.
Er lächelt, pafft die Pfeife zu Ende und stapft auf das Wohnhaus zu.
Wie immer wird er erstmal mit ihr reden.
Mit seiner Frau, der wichtigste Mensch in seinem Leben.
Seine große Liebe, sein Herzensmensch.