Prompt: Kastanien (13.09.20)
Start: 18:15 Uhr
Ende: 19:00 Uhr
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Als wir fast keine Kinder mehr waren, mitten in der Pubertät, da traf ich dich.
Du kamst neu in die Klasse, der Sommer war fast vorüber. Noch nie hatte ich ein so faszinierendes Wesen gesehen.
Deine langen, schwarzen Haare.
Deine Augen ebenso dunkel, geheimnisvoll und melancholisch.
Auf der Schwelle zur Frau, ganz definitiv kein Mädchen mehr.
Ich habe mich augenblicklich in dich verliebt, als du durch den Klassenraum gingst.
Aber du, du hast niemanden angesehen und bliebst in den ersten Tagen für dich. Bis ich dich zufällig eines Nachmittags traf, als ich mit dem Hund unterwegs war.
Am Waldrand war dieser unglaublich schöne Platz. Auf einer Anhöhe gelegen, mit einer atemberaubenden Fernsicht über den Ort und die umliegende Gegend. Dort stehen bis heute die schönsten Kastanienbäume, die ich je gesehen habe.
Da bist du einfach gesessen, angelehnt am Stamm des höchsten Baumes, einem meiner liebsten Rückzugsplätze. Von weitem konnte ich sehen, dass ich ihn diesmal nicht für mich haben würde und war schon fast ein bisschen enttäuscht. Bis ich eben erkannte, dass du es warst.
Mein Herz machte einen Satz.
Du hast nur kurz aufgesehen und ich schwöre bis heute, dass du keine Sekunde verwundert warst, ausgerechnet mich zu sehen. Da war eine Energie, ein unsichtbares Band, ein stilles Verständnis. Kein Wort hast du gesagt und trotzdem ließ ich mich einfach neben dir nieder.
Wir schwiegen eine Weile, der Hund hatte es sich in einiger Entfernung gemütlich gemacht und beobachtete uns neugierig.
Und auch ich war neugierig. Auf dich, deine Geheimnisse, deine Träume. Aber ich wagte es nicht, diese angenehme Ruhe zu durchbrechen. So blieben wir sitzen, sahen gemeinsam in die Ferne und trotzdem fühlte es sich gut an. Vertraut. Geborgen. Alles andere als einsam oder allein.
Der Wind und die Vögel waren die einzigen Geräusche und ich weiß überhaupt nicht, wie lange wir da saßen. Irgendwann ruhte deine Hand auf meiner. Die Berührung löste ein Kribbeln in mir aus, warme Zufriedenheit strömte durch meinen Körper und ich traute mich kaum zu atmen. Gerne hätte ich meinen Arm um dich gelegt, aber ich war in diesem Moment zu schüchtern. Noch nie hatte ich mich wirklich für ein Mädchen interessiert. Nie zuvor hatte ich eine Hand gehalten oder gar geküsst.
Als der Kirchturm schlug hast du dich mir zugewandt. Und dabei meine ich nicht nur, dass du mir in die Augen gesehen hast. Du hast mich angesehen und erkannt und mir ging es nicht viel anders. Aus irgendeinem Grund brauchten wir keine Worte. Von einer Sekunde auf die andere war ich mir vollkommen bewusst über den Menschen, der da neben mir saß. Der noch immer meine Hand hielt, dessen Blick mir Herzklopfen verursachte und den ich doch eigentlich nicht kannte.
Und dann hast du mich einfach geküsst. Ohne Vorwarnung, ohne einen Ton zu sagen. Deine Lippen berührten die meinen und ich werde diesen Moment nie vergessen. Alles stürzte über mir ein.
Dein Geruch - zart nach Rose.
Dein Geschmack - liebliche Vanille.
Deine Nähe - sanft wie Seide.
Die Welt schien still zu stehen, während ich, unerfahren wie ich war, den Kuss scheu erwiderte und mir wünschte, dass es nie enden würde.
Es endete natürlich. Dein Lächeln, süß und etwas spöttisch. Dein Hand an meiner Wange. Die Frage in deinen Augen. Nein, ich schüttelte nur leicht den Kopf, nein. Ich hatte es noch nie getan und meine Gefühle und vermutlich auch Hormone liefen Amok.
Wortlos kamen wir überein, gingen Hand in Hand den Weg zurück zum Ort. Der Hund, unser stummer Zeuge, lief fröhlich vor uns her, vergewisserte sich regelmäßig, dass wir folgten.
Deine kleine, zarte Hand fühlte sich beinahe zerbrechlich in meiner an.
Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich nur sehr unterschwellig, wie zerbrechlich du wirklich warst. Du, das hast du mir später erzählt, hast mich dagegen sofort durchschaut.
Wir trafen uns beinahe täglich unter den Kastanien, sahen zu wie die Blätter gelb wurden. Nur langsam fanden wir Worte. Nur zögerlich sprachen wir aus, was wir innerlich längst verstanden und gesehen hatten. Ich war dir mit Haut und Haaren verfallen, verzehrte mich nach deiner Nähe und deinen Küssen. Gott, du hast mir wahrlich beigebracht, wie ein Kuss wirken kann.
So lange die Sonne sich zeigte konnten wir so tun, als gäbe es kein Grau, keine Schatten, keine Dämonen. Dann kam der Nebel, die Kälte, das Eis.
Wir wurden unsanft aus unserer Blase gerissen und das Leben brachte sich unerbittlich in Erinnerung.
Die Süße, das Leichte, der Zauber - alles musste der Schärfe, der Schwere und der nackten Wahrheit weichen.
Wie gerne hätte ich es für uns eingefroren und immer wieder aufgetaut.
Ich denke oft an diese erste Zeit. An das Gefühl, was sich so ungewohnt in mir eingestellt hatte. Deine Liebe hat mich durchflutet, erleuchtet und leicht werden lassen. In mir wuchs Ahnung, wie schön das Leben sein kann. Das habe ich dir nie vergessen.
Du hast mich gerührt, mein Herz belebt und meine Seele gelüftet.
Später hast du mein Herz zu Stein werden lassen, meine Seele zerrissen und mich ernüchtert.
Wir haben miteinander und gegeneinander gerungen, uns gefunden und verloren und immer wieder vor Vorne begonnen.
Nun aber, bist du nicht mehr da. Aber ich denke an dich, an unseren ersten Herbst, wenn sich die Blätter der Kastanien gelb färben. Immer. Jedes Jahr. Und dann scheint es mir, als könnte ich deine Stimme hören, deine Lippen schmecken und diesen zarten Duft riechen. Du bist bei mir, ganz nah, für immer.