Vor dir liegt ein Zettel.
Daneben ein blauer Würfel und ein wenig kommt es dir lächerlich vor.
Was machst du hier überhaupt?
Warum hast du dich darauf eingelassen?
Niemand kann dich dazu zwingen.
Stattdessen aber sitzt du hier.
Nur ein Spiel.
Nicht mehr.
Nicht weniger.
Die Regeln sind klar.
Je nach Würfelergebnis musst du antworten oder nicht. Bei einer fünf oder sechs kannst du die Frage an dein Gegenüber weitergeben. Hast du drei Fragen beantwortet, bist du für heute entlassen.
Nur ein Spiel.
Nichts Besonderes.
Wenn man davon absieht, dass dein Gegenüber dein Therapeut ist.
Und du seit Tagen erfolgreich schweigst und stattdessen deine Wut täglich größer wird.
Weil du nicht voran kommst.
Jetzt lächelt er und deutet auf den Würfel. Vor ihm liegt ein Blatt Papier, mit dem Text nach unten.
Du legst deine Stirn in Falten und lehnst dich zurück.
"Nein.", sagst du.
Du willst erst die Frage kennen, ehe du den Würfel drehst.
Doch er schüttelt den Kopf.
Dann deutet er auf die Spielregeln, die einlaminiert auf dem Tisch liegen.
Nur ein Spiel.
Welches er schon mehrfach genutzt hat und du bist einfach nur der Nächste in der Reihe.
Warum lässt man dich nicht einfach weiter auf den Sandsack einschlagen?
Immerhin hat dir auch das eine gewisse Erleichterung verschafft.
Du nimmst den Würfel zwischen die Finger.
Na gut.
Egal.
Vielleicht hast du Glück.
Tatsächlich bleibt er bei einer ZWEI stehen.
Du lächelst.
Die Frage musst du nicht zwingend beantworten.
Was lieben Sie am Leben?
Was ist das denn für eine Frage?
Meint er das ernst?
Er mustert dich gespannt.
Du zuckst mit den Schultern.
So ein Blödsinn.
"Weiter.", meinst du hastig.
Dann greifst du nach dem Würfel.
Diesmal zeigt er eine VIER.
Unbehaglich schielst du auf die Frage, die er dir herüber schiebt.
Jetzt musst du.
Ob du möchtest oder nicht.
Was lieben Sie an Ihrer Partnerin am Meisten?
Das ist leicht. Du grinst zufrieden.
Ihre Stärke, ihre Zuversicht und ihre Loyalität.
Dabei spürst du, wie sehr du sie vermisst.
Die Wochen ohne sie sind schwierig.
Weil du auch ihre Augen liebst, die dir jederzeit spiegeln, was sie für dich empfindet. Also meistens. Wenn du sie nicht gerade vor den Kopf stößt.
Jetzt würfelst du wieder eine VIER.
Vergeben und Vergessen - was davon ist möglich?
Unruhig rutschst du auf dem Stuhl von links nach rechts. Eine der Fragen, mit denen du dich schon monatelang auseinandersetzt. Okay, atmen. Das kannst du, denn eigentlich ist es sonnenklar.
Oder?
Hm.
Vergessen?
Vergeben?
Du setzt mehrfach an. Vergeben vielleicht, vergessen auf keinen Fall.
Oder doch andersherum?
Oder gar nichts von beidem?
Eine Weile stotterst du vor dich hin.
Er hört einfach nur zu.
Beobachtet dich.
Doch, du kannst deinen Eltern diese eine Sache vergeben, aber vergessen kannst du nicht.
Andererseits, du kannst nicht vergeben, was SIE getan hat. Und vergessen kannst du es sowieso nicht.
Du beißt dir auf die Lippe und bekundest, dass du nichts mehr sagen möchtest.
Er lächelt.
Akzeptiert.
Und schlägt dann vor, dass ihr diese Frage bei Gelegenheit vertiefen könnt.
Du verschränkst deine Arme und schüttelst den Kopf.
Dann greifst du schnell nach dem Würfel.
Und triumphierst innerlich.
Eine SECHS.
Glauben Sie an Gerechtigkeit?
Lachhaft. Du gibst die Frage ohne zu zögern ab.
Und er antwortet ohne zögern mit einem klaren Ja.
Du richtest dich auf.
Früher oder später, so ist seine Auffassung, gleicht sich alles aus im Leben.
Er deutet auf den Würfel.
Und mit dem nächsten Wurf ist dir klar, dass du zwei Fragen einfach viel zu schnell hergeschenkt hast.
Die DREI bleibt vor dir liegen und er stellt seine Frage.
Den Mund wird trocken.
Deine Hände schwitzig.
Du siehst ihn an.
"Am Leben liebe ich, dass ich eine wunderbare Frau habe. Und ja, es kann Gerechtigkeit geben im Leben."
Er seufzt und wiederholt die Frage.
Denn das war die Regel.
Du musst dich sofort entscheiden.
Du kannst verweigern.
Du kannst sie weitergeben.
Du hättest sie beide beantworten können.
Jetzt aber musst du.
Und du willst nicht.
Weil sie da angreift, wo du an und für sich niemanden hin lassen möchtest.
Er hat dich ausgetrickst.
Keine Ahnung wie, aber er hat es getan.
Was möchten Sie dem Menschen sagen, der Sie am tiefsten verletzt hat?